Mittwoch, 20. Januar 2016

Winterreise durch Island


Winterreise durch Island

Author D.Selzer-McKenzie

Video: https://youtu.be/xZY02TVt3Qw

Die Insel im hohen Norden Europas hat nicht nur ihre Eiseskälte zu bieten. Was keiner erwartet: Hier steppt der Bär trotz Minusgraden und wenig Licht im Winter.

Im Winter nach Island? Hast du sie noch alle? Da frierst du dir nur den Hintern ab und außer¬dem ist es doch dauernd finster." Oh je, all die Unkenrufe aus meinem Freundeskreis scheinen sich schon auf den ersten Kilometern zu bestäti¬gen. Bei der Landung in Keflavik war der Him¬mel wenigstens noch bleigrau. Doch schon lastet auf der nahen Hauptstadt Reykjavik eine Wolke so schwarz wie eine Tarantel. Apokalyptische Böen peitschen über gentropfen klatschen nach waagrechtem Flug lautstark auf die Frontscheibe. Doch urplötzlich, als würde der Donnergott Thor höchstpersönlich mit seinem Streithammer auf das Firmament ein¬prügeln, löst sich der Spuk auf. Schwarz weicht lila, betonfarbene Wolken verflüchtigen sich im Zeitraffer, hinterlassen intensives Stahlblau.

Direkt an der Saebraut, der Straße am Meer, ar¬beite ich mich mit eingezogenen Schultern und hochgeschlagenem Kragen gegen einen fiesen Wind hoch zur berühmten Hallgrimskirche. V er Kirche thront Leifur Eriksson auf einem s lisierten Schiffsbug. Hand am Schwert, den Bli in die Ferne gerichtet, so segelte der Entdeck schon um das Jahr 1000 nach Nordamerik

Trotz hoher Preise knallen die Korken

Von der Kirche führt die Skolavördustigur ber ab in ein wahres Bermuda-Dreieck aus schicke und schrägen Ca&s, Kneipen und Designershop Schon am frühen Abend klackern die ersten Highheels über das Kopfsteinpflaster. Der Da¬menwelt scheint die Temperatur schnurz zu sein. Kurze Röckchen und Abendgarderobe — von we¬gen Daunenjacken und Moonboots. Heute ist Freitag und dann steppt in Reykjavik der Bär. Vorbei am „Harpa", dem neuen vollverglasten und variabel illuminierbaren Kulturzentrum am Hafen, laufe ich zurück zum Hotel Marina. In der hauseigenen Slippbarinn kesselt es immer noch. Kaum habe ich mich für einen Absacker entschieden, hakt sich auch schon eine Schöne der Nacht unter. „Wo bist du her, komm setz dich zu uns." Direkt nach dieser Verhaftung werden die Gläser gefüllt. Von wegen frostiger Außen¬posten am Polarkreis. Die Preise für Alkohol schrammen zwar an der Schmerzgrenze, aber von der Finanzkrise merke ich hier nichts, so wie die Mädels hier die Korken knallen lassen. Island hat den Bankenkollaps unkonventionell und ohne Gejammer verarbeitet. Die Regierung wurde ab-gesetzt, korrupte Banker kurzerhand eingesperrt.

Der TV-Komiker und Ex-Punk Jon Gnarr wurde zum Bürgermeister gewählt. Seither schart er ein Kabinett aus Rockmusikern und Künstlern um sich. Und siehe da, es geht bergauf in Island.

BHs schmücken Zaunpfosten

Auf der Ringroad Nummer 1, der Hauptverkehrs-ader Islands, tingle ich tags darauf die Südküste entlang. Nach dem Speckgürtel der Hauptstadt eröffnet sich schlagartig die Wildnis Islands. Auf ganz Island leben nur ca. 325.000 Leute, davon alleine 60 Prozent im Großraum Reykjavik.

Der berühmt-berüchtigte Eyjajallajökull, der im Frühjahr 2010 mit seiner monströsen Asche-wolke fast den gesamten europäischen Flugver¬kehr lahmlegte, liegt direkt auf meiner Route. Zum Glück hält er still. Nach kilometerlangem Nichts bei diffuser Polarnacht-Funzel strahlen die Scheinwerfer unvermittelt auf gelbe Körb-chen in DD. Kurz vor Hella hat ein zünftiger Farmer mit seiner Trophäensammlung aus Büs¬tenhaltern die Zaunpfosten seiner Pferdeweiden dekoriert.

Süße Babys dank Polarlicht?

Nächster Stopp: Seljalandsfoss. Foss heißt auf Isländisch Wasserfall und der bei Seljaland ist ein echter Knüller. Ein gefährlicher gefrorener Steig führt hinter den breiten Wasserschleier. Eine bizarre Kulisse, der kalte Sprühnebel hat jeden einzelnen Grashalm schockgefrostet. Yoko und Naoko tasten sich Händchen haltend vor-

 

wärts. „Wir liegen jede Nacht wach und beob¬achten die Nordlichter", erzählen die Japaner heftig zähneklappernd. „Das steigert die Frucht¬barkeit und sorgt für besonders süße Babys", kichern die beiden.

Meine Nächte in den Farmhotels laufen kom¬plett anders ab. In den riesigen Bauernhöfen mit zig Zimmern bin ich fast immer mutterseelenal¬lein. Die Farmer drücken mir den Schlüssel in die Hand, knipsen die Sauna an, zeigen mir, wo Kaffee und Müsli für das Frühstück stehen und brausen davon in ihr Winterdomizil. Was, wenn die Saunatür nicht mehr aufgeht oder ich auf der Seife ausrutsche? Alleine auf riesigen Gutshöfen denkt man leider nicht an Tim und Struppi, son¬dern greift gerne in die Horrorschublade: An-thony Perkins als Frau verkleidet hinter dem Duschvorhang in Hitchcocks „Psycho" oder Jack Nicholson in Kubricks „Shining"...

Baustopp — den Trollen zuliebe

Zum Glück sind die Mietwagen auf Island im Winter mit Spikesreifen ausgerüstet. Damit fah¬re ich selbst auf spiegelglatten Eispisten wie angenagelt. Die nächste Station Vik erkenne ich schon von Weitem an den gigantisch großen, im offenen Meer aufragenden „Reynisdrangar". Der Legende nach sollen diese markanten Basalt-zacken verzauberte Trolle sein. Die Wolken¬schleier hängen tief. Die Landschaft wirkt wild und verwunschen. Wahrlich kein Wunder, dass laut Umfragen immer noch 80 Prozent aller Is-länder an Trolle und Elfen glauben. Es gibt sogar

 

eine Ministeriumsbeauftragte, die schon mal einen Straßenbau stoppt, wenn sich Trolle da¬von gestört fühlen könnten. Frage mich nur ge¬rade, warum mich das nicht wundert?

Die Ringroad bietet weiterhin bestes Fahrkino. Nach Nupstadur wirkt die Szenerie fast schon unwirklich. Linker Hand rückt der Vatnajökull, der Wassergletscher, immer näher. Er ist der größte Gletscher Europas, mit 8.300 Quadratki¬lometern die drittgrößte Eisfläche der Welt. Bei Jökulsarlon wälzt der Breidamerkurjökull eine wahre Skyline aus haushohen Eisklötzen direkt auf die Ringroad zu. An diesem Ort gibt sich Hol-lywood die Klinke in die Hand und Pierce Bros-nan alias „James Bond" driftete hier für „Stirb an einem anderen Tag" auch schon über das Eis. Nach tagelanger Dunkelheit kämpft sich endlich mal die Sonne durch. Strahlt golden durch gar-tenhausgroße Eiswürfel, die von der aufkommen¬den Flut gerade an den schwarzen Lavastrand gespült wurden. Als zerbrechlicher Mensch fühlst du dich hier wie ein Eiswürfel in einem über-dimensionalen Bourbon an the rocks. Eine wahr¬haft berauschende Perspektive.

Das gibt es nur auf Island. Gut, der Fallwind scheint im Stande, Bartstoppeln zu entwurzeln und die Sonne dreht auch gleich wieder ab. Das isländische Winterglück ist kurz und erfordert Thermo -Unterwäsche. Dafür feiern die Glückshor¬mone regelmäßig ein überschwängliches Wikin¬ger-Gelage. Und feiern können die Wikinger, egal bei welchem Wetter

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