Mittwoch, 12. August 2009

Börse in Schwellenländer

Euphorie an den Börsen der Schwellenländer
Author D.Selzer-McKenzie

Weltwirtschaftskrise? An den Börsen der Schwellenländer China, Russland und Brasilien herrscht eher Euphorie als Angst. Wo es sich für Anleger jetzt noch lohnt, zuzugreifen.
Tag und Nacht durchwühlen Bagger die Erde. Etwa 40 Wanderarbeiter schweißen bei sengender Hitze dünne Stahlstreben zu Röhren zusammen und rammen sie dann bis zu sieben Meter tief in den Boden, um sie schließlich mit Beton zu füllen. So entstehen täglich mehrere Dutzend Pfeiler für einen neuen Apartmentkomplex mit Shoppingcenter, der derzeit gleich hinter der neuen US-Botschaft in Chinas Hauptstadt Peking entsteht. Wenige Kilometer weiter das gleiche Bild: Auch an Pekings Haupteinkaufsstraße Wangfujing flexen, schweißen und nieten die Arbeiter rund um die Uhr an einem neuen Einkaufszentrum.
So schnell können sich die Verhältnisse ändern. Noch im März wirkte Chinas Hauptstadt wie gelähmt. Auf den meisten Baustellen ruhte die Arbeit, oft mehrere Monate lang: Den Immobilienfirmen war nach einem drastischen Einbruch der Wohnungsverkäufe das Geld ausgegangen. Um den Stillstand zu kaschieren, verhängten einige Baufirmen die Gerüste mit bunten Folien.
Doch nicht nur die Baubranche darbte. Die gesamte chinesische Industrie steckte tief in der Flaute. Schon sahen einige Prognosen das Wirtschaftswachstum des Landes – das noch 2007 über 11,5 Prozent betragen hatte – 2009 auf null Prozent absacken. Das wäre ein schwerer Schlag nicht nur für das Land, sondern für die gesamte Welt gewesen.
Die Hausse könnte zusammenbrechen
Doch der Wind hat gedreht. Viel schneller, als es selbst hartnäckige Optimisten für möglich hielten, ist China in den zurückliegenden Monaten wieder auf Wachstumskurs gegangen. Die Folge ist eine fast schon unheimliche Hausse an den Börsen in Peking, Shanghai und Hongkong. Und nicht nur dort. Auch in allen anderen Schwellenländern haben die Anleger wieder Mut gefasst, klettern die Kurse seit Wochen schier unaufhaltsam.
Am vergangenen Montag erreichte der Index der 22 wichtigsten Schwellenländerbörsen, der MSCI Emerging Markets, wieder den Stand vom 12. September 2008 – dem letzten Handelstag vor der Pleite der US-Investmentbank Lehman Brothers, die einen weltweiten Crash auslöste. Die Börse Shanghai liegt seit dem Tief im vergangenen Oktober 91 Prozent im Plus, der brasilianische Index Bovespa um knapp 82 Prozent, die Börse Moskau stieg in der Spitze um mehr als 100 Prozent. Demgegenüber wirken die Gewinne des Dax (plus 8,1 Prozent seit Jahresbeginn) oder des Dow Jones (plus 2,7 Prozent) geradezu mickrig.
Schwellenländer holen rasant auf
Die Hausse an den Börsen Chinas, Brasiliens oder Russlands könnte jedoch schnell wieder in sich zusammenbrechen. Schon in der Vergangenheit folgte nach massiven Kursgewinnen häufig ein ebenso starker Einbruch. Von Anfang 2006 bis Herbst 2007 etwa versechsfachten sich die Kurse chinesischer Papiere. Danach stürzten sie binnen eines Jahres um 70 Prozent ab. Aktuell sollten Investoren deshalb zunächst vorsichtig hinter die Kulissen des Aufschwungs schauen, ehe sie eine Kaufentscheidung fällen. Denn ob der Konjunktur- und Kursaufschwung selbsttragend und anhaltend sein wird, ist fraglich.
Auf den ersten Blick hat es den Anschein, als wäre in den Schwellenländern die Krise bereits vorüber. Die Wohnungsverkäufe in China nahmen im Juni um 80 Prozent zu, die Autoverkäufe kletterten im selben Monat um 48 Prozent, die Anlageinvestitionen um 33 Prozent. Auch in Russland, Brasilien, Indien und vielen anderen Schwellenländern erholt sich die Konjunktur überraschend schnell und dynamisch.
OECD rechnen für dieses Jahr schon wieder mit 7,7 Prozent Wachstum in China, in Indien mit knapp sechs Prozent. Und bereits kommendes Jahr könnte Chinas Wirtschaft wieder zweistellig wachsen. Zum Vergleich: Die deutsche Wirtschaft wird dieses Jahr um bis zu sechs Prozent schrumpfen und 2010 bestenfalls ein Plus von knapp 1,0 Prozent erreichen; auch die USA dürften nur auf ein Wachstum von 1,5 Prozent kommen.
„Ich habe mich geirrt“, sagt Jim O’Neill, der Chef-Volkswirt bei Goldman Sachs in London. 2003 hatte O’Neill das Mode-Kürzel BRIC für die vier wichtigsten Schwellenländer Brasilien, Russland, Indien und China erfunden und prognostiziert, die vier größten Schwellenländer würden die heutigen G3 (USA, Japan, Deutschland) im Jahr 2050 in puncto Wirtschaftsleistung überholen. „Ich musste damals viel Kritik und Häme einstecken“, sagt O’Neill, „heute weiß ich, dass diese Prognose blauäugig war – die Zeit, da sie uns überholt haben werden, wird viel schneller kommen.“ Schon 2035, so neueste Prognosen von O’Neill, der OECD und der Weltbank, könnten die vier großen Schwellenländer die heutigen G3 überholt haben. An den Börsen wetten die Anleger schon kräftig auf diese Machtverlagerung.
Neuverteilung der Kräfte
„Es steht außer Zweifel, dass sich das Wachstum langfristig in die rohstoff- und bevölkerungsreichen Schwellenländer verlagert“, meint Jens Ehrhardt, Chef des Asset Managers DJE Kapital in Pullach, „diese Länder haben, anders als die USA, Japan oder England, kaum Schulden und im Gegensatz zu Deutschland oder Frankreich eine junge, konsumhungrige Bevölkerung. Ich gehe davon aus, dass sich das auch weiterhin in einer besseren Kursentwicklung der dortigen Aktienmärkte niederschlagen wird.“
Paradox: Die Finanzkrise hat den Prozess einer Verlagerung des Wirtschaftswachstums weg von den etablierten Industrienationen beschleunigt, so Ehrhardt. Das zeigen auch die Aktienmärkte. „Früher brachen Schwellenländerbörsen in Krisen stets stärker ein als etablierte und erholten sich danach nur zögerlich – heute laufen sie vorweg.
Denn in dieser Krise können China, Indien oder Brasilien ihre Stärken viel besser ausspielen, weil ihre Banken, Unternehmen und Verbraucher nicht mehr wie früher unter einer massiven Schuldenlast ächzen. Einer aktuellen Studie des Internationalen Währungsfonds zufolge kostet die Rettung der Finanzsysteme die Schwellenländer im Durchschnitt 2,3 Prozent ihrer jährlichen Wirtschaftsleistung. In den etablierten Industrienationen hingegen könnte sie im Durchschnitt bis zu 43 Prozent einer Jahreswertschöpfung kosten. Chinas Banken etwa gelten als vergleichsweise gesund, haben ausreichend Eigenkapital und kaum Schrottpapiere in ihren Bilanzen.
Folge: Auch frische Kredite für die Genesung der Wirtschaft gibt es in China schneller und günstiger als im Westen.
Frisches Geld für Chinas Wirtschaft
Während westliche Unternehmer unter der zunehmenden Knausrigkeit der Banken leiden und immer schwerer bezahlbare Kredite bekommen, fluten die halbstaatlichen chinesischen Banken die dortige Wirtschaft mit frischem Geld. 760 Milliarden Euro neue Fremdmittel haben Chinas Banken netto in den ersten sechs Monaten des Jahres wieder verliehen. In Deutschland war es im gleichen Zeitraum nur ein Plus von 23 Milliarden.
„Wer die Neuverteilung der Kräfte in der Weltwirtschaft nicht wenigstens mittelfristig in seinem Depot abbildet, wird Geld verlieren“, glaubt Vermögensprofi Ehrhardt. China, Russland, Brasilien dürften bei dieser Neuverteilung die gewichtigsten Rollen spielen – mit ho Die Menschen im bevölkerungsreichsten Land der Welt spielen und wetten gerne – das macht die Börse schwer berechenbar.
hen Chancen für Anleger, aber auch mit nicht zu unterschätzenden Risiken.
Li Xiaochao, Vertreter des chinesischen Statistikamtes, hatte im Juli ausschließlich Positives zu verkünden: Um 7,9 Prozent, stärker als von den meisten Analysten erwartet, war Chinas Wirtschaft im zweiten Quartal gewachsen. Im Vergleich zum Vorquartal bedeutete dies ein stolzes Plus von 17 Prozent.
In den ersten drei Monaten des Jahres hatte das Wachstum im Jahresvergleich noch bei für chinesische Verhältnisse mageren 6,1 Prozent gelegen. Li glaubt, China sei nun auf dem richtigen Weg, um das Regierungsziel von acht Prozent Wachstum für das Gesamtjahr zu erreichen. „Der Zuwachs im ersten Halbjahr hat für den nötigen Schwung gesorgt.“
Die guten Nachrichten treiben Chinas Aktienmärkte wieder schnell in vorkrisenhafte Höhen. Um 85 Prozent hat der Index der Börse Shanghai seit Anfang des Jahres zugelegt. Der Hang Seng in Hongkong liegt seit Januar immerhin um 40 Prozent im Plus. Vor allem institutionelle Investoren machen derzeit Jagd auf Aktien, hat Sam Hilton, Analyst bei Fox-Pitt Kelton in Hongkong, beobachtet, „und die greifen sich vor allem H-Aktien und Red-Chips, weil sie an die chinesische Wachstumsstory glauben“.
H-Aktien sind Papiere von Unternehmen aus der Volksrepublik China, die in Hongkong gelistet sind. Red Chips sind Aktien von Gesellschaften, die ihr Hauptgeschäft in China abwickeln, den Firmensitz aber außerhalb des Landes haben, wie etwaChinas Mobile Chinas größter Mobilfunkanbieter.
Das Kreditgeschäft boomt
Dagegen sind es an den chinesischen Inlandsbörsen vor allem Privatanleger, die nun ihr Geld in die Märkte pumpen. Dank des streng kontrollierten Kapitalmarktes und niedriger Einlagezinsen haben chinesische Investoren kaum Alternativen zur Aktienanlage. Rund 500.000 neue Konten werden in China zurzeit jede Woche bei Banken und Investmenthäusern eröffnet. Studenten, Dienstmädchen, Rentner: Jeder will bei der aktuellen Rally dabei sein.
Geld ist reichlich vorhanden und billig: Fünfmal hat Chinas Zentralbank seit dem vergangenen Jahr, als das Land die Auswirkungen der Krise zu spüren bekam, die Zinsen gesenkt. Hinzu kommt: Ende 2008 wies die Regierung die großen Staatsbanken an, die Kreditvergabe zu lockern, damit Firmen und Behörden in neue Fabriken, Straßen, Wohnsiedlungen investieren können.
Die Banken ließen sich nicht lange bitten: In den ersten sechs Monaten dieses Jahres gaben sie etwa 760 Milliarden Euro an neuen Krediten aus, dreimal so viel wie im Vorjahreszeitraum. „Die Summe entspricht etwa einem Viertel der prognostizierten chinesischen Wirtschaftsleistung für 2009“, so Wang Tao, China-Chefökonomin bei UBS in Peking.
Verwildertes Banksystem
Etwa 20 Prozent der Neukredite, die größtenteils an staatliche Unternehmen und Behörden gingen, flossen chinesischen Schätzungen zufolge in die Aktienmärkte statt in Infrastruktur und Fabriken. Mit weiteren 30 Prozent, hat der China-Chefökonom einer europäischen Großbank aus Hongkong errechnet, spekulierten die Staatsfirmen an den Immobilien- und Rohstoffmärkten.
So kaufte der Manager eines Staatsunternehmens 40.000 Tonnen Nickel, die er wenige Tage später, als der Preis gestiegen war, wieder losschlug. „Chinas wirtschaftliche Erholung findet auf dem Rücken eines verwilderten Bankensystems statt“, kritisiert Derek Scissors, China-Experte bei der Washingtoner Heritage Foundation, die mangelhafte Finanzaufsicht.
Vor allem die Darlehensvergabe der Staatsbanken hat mit dazu beigetragen, dass die jüngsten Börsengänge (IPOs) in China Riesenerfolge wurden. Das Papier des Mautstraßenbetreibers legte am ersten Handelstag Ende Juli um 203 Prozent zu. Zwei Tage später ging die staatliche Baufirma China State Construction an die Börse und verbuchte am Ende des ersten Handelstages immerhin noch ein Plus von 56 Prozent. Nach einer neunmonatigen Sperre im Gefolge des starken Einbruchs des Aktienmarktes im vergangenen Jahr hat Chinas Regierung im Juli wieder die ersten IPOs zugelassen.
Doch angesichts der kräftigen Zuwächse in den vergangenen Monaten wächst nun die Angst vor einer neuen Aktienblase. Denn alle Analysten sind sich einig, dass China das Tempo bei der Kreditvergabe in der zweiten Jahreshälfte nicht durchhalten kann – auch wegen der Gefahr, dass die Banken neue faule Kredite anhäufen.
So haben Banken- und Börsenaufsicht bereits angekündigt, den Instituten künftig stärker auf die Finger zu schauen. Kredite, so heißt es, dürften nicht für Spekulationen missbraucht werden, sondern müssten in die Realwirtschaft fließen. Andy Xie, Privatökonom in Shanghai, glaubt, dass Immobilien- und Aktienmärkte im Oktober unter Druck kommen werden. „Die Regierung sorgt sich, dass die Blase zu groß wird, und dürfte deshalb das Kreditwachstum in der zweiten Jahreshälfte halbieren“, so Xie.
Rally könnte weitergehen
Gleichwohl gilt als unwahrscheinlich, dass Chinas Regierung auf einen grundsätzlich restriktiveren Kurs umschwenken wird. Zinserhöhungen etwa schließen die meisten Analysten bis Ende des Jahres aus, auch weil es derzeit keine Anzeichen einer steigenden Inflation gibt. „Die Politik ist nach wie vor besorgt, dass der Aufschwung der letzten Wochen nicht solide genug ist“, sagt Jun Ma, China-Chefökonom der Deutschen Bank in Hongkong.
Auch Premierminister Wen Jiabao hat in den letzten Wochen wiederholt gesagt, dass die Behörden eine moderat lockere Geldpolitik verfolgen. Manche Analysten glauben deshalb, dass die derzeitige Rally durchaus noch einige Zeit weitergehen könnte. „Auf dem Höhepunkt der letzten Blase vor zwei Jahren haben jede Woche eine Million Privatkunden Konten bei Brokerhäusern eröffnet“, sagt Fox-Pitt-Kelton-Analyst Hilton. Aktuell sind es halb so viele. Und das Kurs-Gewinn-Verhältnis des Shanghaier Aktienindex lag damals bei 60, heute bei 40. „Da ist noch Luft drin“, glaubt Hilton.
Die Exportrate ist rückgängig
Gleichzeitig werden die warnenden Stimmen lauter. Die jüngste Aktienrally sei trotz der zuletzt wieder beeindruckenden Wachstumszahlen fundamental kaum begründet, heißt es. Die Weltbank etwa hat ‧ihre Wachstumsprognose für das laufende Jahr auf 7,2 Prozent angehoben. Sechs Prozentpunkte allerdings gingen auf das Konto öffentlicher Ausgaben, aus dem privaten Sektor kämen kaum Impulse, haben die Weltbank-Ökonomen festgestellt. Und die für Chinas Wirtschaft so wichtigen Exporte schrumpfen nach wie vor: um 20 Prozent im Juni, nach 26 Prozent im Mai.
Die Folge: Die Unternehmensgewinne in der chinesischen Industrie sind in den ersten fünf Monaten des Jahres um 22,9 Prozent eingebrochen. Viele Experten glauben, dass die chinesischen Ausfuhren auf absehbare Zeit nicht mehr mit den Vorkrisenraten wachsen werden, denn die amerikanischen Konsumenten seien auf Jahre zum Sparen gezwungen.
Analysten und internationale Organisationen mahnen darum, China müsse sein Wachstumsmodell umstellen, um zu einer nachhaltigeren, vom Westen unabhängigeren Entwicklung zu finden. China, heißt es bei der Weltbank, habe kaum Fortschritte dabei gemacht, sein Wachstumsmuster neu auszurichten. Die Exporte des Landes machen knapp 40 Prozent der Wirtschaftsleistung aus. 1980 waren es noch gut fünf Prozent. Der private Verbrauch dagegen trägt etwa 35 Prozent zu Chinas Wirtschaftsleistung bei. 1980 waren es no Strukturreformen gescheitert
Die Verantwortlichen in Peking wissen um das Problem und bekennen sich in Sonntagsreden regelmäßig dazu, die Kaufkraft der Bürger und damit den privaten Verbrauch stärken zu wollen. Die dazu notwendigen schmerzhaften Strukturreformen wie der Aufbau einer zumindest rudimentären Sozialversicherung, die Modernisierung des Bildungssystems und eine Landreform bleiben aber meist im politischen Hickhack zwischen Konservativen und Reformern stecken.
Darüber hinaus müsste sich die Partei aus den Banken zurückziehen, damit auch Privatunternehmen und nicht mehr nur die großen Staatsbetriebe an Kredite kommen. Außerdem mahnen Kritiker die Liberalisierung des Servicesektors an. Doch solche Einschnitte würden letztlich politische Reformen bedeuten – und davor schreckt die Partei zurück.
Fazit: Für strategisch denkende Anleger führt an China kein Weg vorbei. Wer jedoch nicht bereit ist, zwischenzeitlich enorme Verluste hinzunehmen, sollte sich hier nicht engagieren.

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