Donnerstag, 23. Juli 2015

Die Fabriken von morgen


Die Fabriken von morgen

Author D.Selzer-McKenzie

Video: http://youtu.be/nzx6hNewYmU

In der Fabrik von morgen sind Bauteile, Produkte und Maschinen komplett miteinander vernetzt. Deutschland treibt diese Entwicklung weltweit führend voran.

A uf der Hannover Messe Industrie im April war es das zentrale Schlagwort, das viele Aussteller und Messebesucher elektrisierte: Industrie 4.0. Ein griffiges Kürzel, das nach Ansicht von Produktionsexperten für einen Umsturz in den Fabriken steht, der die Art, wie Waren produziert werden, radikal verändern wird. Doch das Thema bewegt nicht nur Fachleute aus der Industrie, wie eine kurze Suche im Internet beweist: Nach 0,45 Sekunden zeigt Google fast 200 000 Ergebnisse an. Industrie 4.0 steht für die vierte industrielle Revolution — nach der Einführung der Dampfmaschine (1.0), des Fließbandes (2.0) und des Computers (3.0) in der Industrie.

Seit Ende 2011 beschäftigt sich Dagmar Dirzus, Geschäftsführerin der VDI/ VDE-Gesellschaft Mess- und Automati-sierungstechnik aus Düsseldorf, mit dem Thema. Für die Wissenschaftlerin ist In-dustrie 4.0 die „komplette Vernetzung aller Teilnehmer an der Wertschöpfung: aller Bauteile, Produkte, Maschinen, Produktions- und Managementsysteme, Mitarbeiter bis hin zu den Dienstleistungen über den gesamten Lebenszyklus".

Kommunizierende Küchenteile

Auf dem Weg zu 4.0 sind nicht nur Institute, Hochschulen und Konzerne, sondern auch ein bodenständiger ostwestfälischer Hersteller aus Verl bei Gütersloh. Bei Nobilia, nach eigenen Angaben der größte Küchenhersteller in Europa, entstehen pro Jahr rund 580 000 komplett

 

mit sämtlichen Elektrogeräten bestückte Küchen. Betriebsleiter Martin Henken-johann betont: „Wir liefern die Küchen mit einer Liefertreue von 99,8 Prozent weltweit zum gewünschten Termin aus." Dieses Ziel erreicht Nobilia nur mit einem ausgeklügelten Produktionssystem. Denn eines der größten Probleme ist die Vielfalt: Fast jede Küche ist ein Unikat. Viele Bau-teile wie Schubladen oder Schranktüren sind Spezialanfertigungen.

Die Produktionsanlage holt sich vom Computer des Küchenkonstrukteurs bei-spielsweise alle Daten zum Herstellen der Schubladenteile und ihrer späteren Montage. Alle Bauteile erhalten Strichcode-Etiketten, die Mitarbeiter — ähnlich wie Supermarkt-Kassiererinnen — mit einem Lesegerät scannen. Allerdings wäre es zu aufwendig und zu teuer, jeden Arbeitsplatz mit einem manuellen Scanner auszustatten. Daher ersetzen die Ostwestfalen die Strichcodes zum Teil durch winzige Funketiketten (RFID-Tag), die Produktionsdaten auf einem Chip speichern. Dank der lückenlosen Überwachung per Funk wird verhindert, dass die falsche Schublade in eine Küche kommt. Und durch die RFID-Tags erhält das Planungssystem alle 30 Sekunden von allen Stationen über 1200 Antennen Meldungen über den4roduktionsfortschritt: Die Betriebs-leitAg kennt stets den Stand der Dinge und kann schnell gegensteuern. Eine enorme Leistung, denn das System muss jeden Tag 20 Millionen Daten verarbeiten.

Beim Maschinenhersteller Trumpf aus Ditzingen bei Stuttgart werden Funketiketten ebenfalls trickreich genutzt: Klaus Bauer, Leiter der Abteilung Systementwicklung von Basistechnologien, sah es als enorme Zeitverschwendung an, dass optische Linsen von Lasern nach jedem verschleißbedingten Wechsel umständlich neu eingestellt werden müssen. Trumpf erfand daher eine intelligente Fokussier-linse, die sich selbst justiert. Dazu erhielt die Linse ein Funketikett (RFID-Tag), auf

 

dem sich alle wichtigen Informationen — also Brennweite und korrekte Einbaulage — zum Einstellen befinden. Der Bediener muss nur noch die Lensline RFID in das Lasersystem stecken, der Rest geschieht automatisch, ähnlich wie beim Anschluss eines neuen Druckers an einen Computer. Trumpf speichert auch die Einsatzzeiten auf dem RFID-Tag: Der Maschinenbediener erhält rechtzeitig Informationen, wann er eine Linse reinigen oder wegen Verschleiß auswechseln soll.

Schwarmintelligenz in der Lagerhalle

Und wie könnte die perfekte Fabrik 4.0 aussehen? Konkrete Ideen dazu entstehen zurzeit in kleinen wissenschaftlichen Modellfabriken am Dortmunder Fraunhofer-Institut für Materialfluss und Logistik (IML). Die Lösungen dort sollen bezahlbar und leicht realisierbar sein. Michael

 

ten Hompel, Geschäftsführender kmmim-teiter, verwendet in seiner Versuchsani Sensoren und Elektronik mit geringen Stromverbrauch und Systeme, die

sche Energie aus natürlichen Quellen Umgebungstemperatur gewinnen, per genanntem Energy Harvesting. Die Wem-falen haben damit eine Logistik-Versueur-anlage mit 50 völlig autonom fahrenäen Mobilen gebaut, die mit 3-D-Laserreer-nik ihre Umgebung scannen und sia gen orientieren. „Sie bewegen sich mit eleir Schwarmintelligenz selbstständig — ohne irgendeinen Leitdraht im Boden", erliz.zet1 - ten Hompel.

Unter Schwarmintelligenz oder Kai-lektiver Intelligenz verstehen die Forste sinnvolle Handlungen, die durch das er-schickte Zusammenwirken von vielen Lebewesen oder Robotern zustande korrre-men. Die Fahrzeuge fahren ins Regal. bestellen Ware, die per Lift ausgeliefert. nen Sie sich dagegen innerhalb kürzester Zeit eine MES-App herunterladen, die Datenverbindung herstellen und die Daten in die Cloud laden."

Training live und in Farbe

Und welche Rolle spielt bei 4.0 der Mensch — wird er überhaupt noch ge-braucht? Den Albtraum mancher Kritiker von der menschenleeren Fabrik teilt Siemens-Vorstand Siegfried Russwurm nicht. Er spricht von einer wachsenden Bedeutung des Mitarbeiters in der Fabrik von morgen. Gefragt sei allerdings hoch quali-fiziertes Personal, während man ange-lernte Arbeitskräfte langfristig wohl kaum mehr bräuchte. Doch auch gering Qualifizierte haben eine Chance: So hat der Spezialist für Aus- und Weiterbildung Festo Didactic Anlagen entwickelt, auf denen Mitarbeiter den Industrie-4.0-Alltag live, in Farbe und gefahrlos trainieren können, um sich für höherwertige Tätigkeiten zu qualifizieren. Das kann extern geschehen, im Idealfall aber besser intern in einer eigenen, kleinen Lernfabrik.

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Fest steht: Gut geschulte Fachkräfte werden gebraucht. Das Bundesministe-rium für Bildung und Forschung (BMBF) setzt dabei auf „selbstorganisierte Per-sonaleinsatzplanung ä la Industrie 4.0". Dazu haben Forscher im BMBF-Projekt KapaflexCy unter dem Motto „Smart-phone schlägt Stechuhr" nützliche Apps entwickelt. Mit ihnen können die Mitarbeiter auf ihrem Handy eine Einsatzanfrage mit exakten Angaben etwa zum Arbeitsinhalt, Auftrag und Kunden sowie zur Bezahlung empfangen.

Jedem Mitarbeiter wird zudem anhand seines Zeitkontos angezeigt, wie viel Kapazitäten er noch frei hat. Er kann sich dann per App um Sonderschichten bewerben. Laut den Projektbeteiligten lässt sich die Aufgabe per Smartphone oder Tablet-Computer technisch leicht lösen. Zu klären sei aber noch die Arbeitssicherheit: Wann darf der Mitarbeiter „angemailt" werden: Kann eine Smartphone-Anfrage den Werker an der Maschine in gefährlicher Weise von seiner Arbeit ablenken?

Die neue smarte Fabrik könnte auch einen ganz anderen Umgang mit Energie

 

Für Schiffbauingenieure wird die Konstruktion und Fertigung durch die virtuelle Realität ein-facher und schneller (im Bild: ergonomische Simulation).

ermöglichen. So regt Trumpf-Systeme-10-wickler Klaus Bauer an, Industrie 4.0 zr Vernetzung mit der Energieversorgung nutzen. Seine Idee: „Warum sollte die mt der Maschine entstehende Energie rüde gespeichert und ins Netz eingespeist wey-den, um dafür Geld zu bekommen?" Du ist kein Wunschtraum, sondern wird lx-reits ansatzweise in einer neuen Fabrik des Unternehmens verwirklicht.

Industrie 4.0 ist also deutlich mehr als ein griffiges Schlagwort. Immer wie% erhalten deutsche Spitzenmanager err-sprechende Anfragen aus dem Ausland_ Und Ende Oktober 2013 hielt Siemens-Vorstand Russwurm in Peking einer Vortrag vor der angesehenen „Chinese Academy of Engineering" zu dem Thema_ Die Deutsche Welle dort sendete seinem Kommentar: „In China ist man hochgradig an Industrie 4.0 interessiert. Die deutschen Hersteller und auch die deutschem Wissenschaftsinstitute, die daran arbei-ten, werden weltweit als Vorreiter ge-sehen. Und das zu Recht, davon bin ic

fest überzeugt."


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