Mittwoch, 29. Juli 2015

Tätowierung


Tätowierung

Author D.Selzer-McKenzie

Video: http://youtu.be/1w5nye_PBgE

österreich-ungarische Kaiserin Sissi war tätowiert. Sie trug einen Anker auf der linken Schulter, wie ein Hafenarbeiter oder Seemann. Sis-sis Gatte, Kaiser Franz Joseph, reagierte darauf angeblich ziemlich ungehalten. Zumal sie sich das Tattoo heimlich in einer griechischen Hafenkneipe hatte ste-chen lassen — mit 51 Jahren. Kein Bildnis der lieblichen Kaiserin hat dieses „Schandmal" je gezeigt. Damals, Ende des 19. Jahrhunderts, haftete Tätowierungen noch etwas Verruchtes an, ein Hauch von kriminellem Milieu und Prostitution — Hafenkneipe eben.

In den letzten Jahrzehnten hat sich das sittenlose Image gegeben. Inzwischen gilt

 

ein Tattoo regelrecht als Körperschmuck für jedermann. Einer Studie der Universität Bochum zufolge ist fast jeder zehnte Deutsche tätowiert, die meisten mit einem Zeichen ewiger Freundschaft, einem kleinen Symbol oder schmückenden Ornament. Das war ursprünglich, weit vor Sis-sis Zeiten, noch ganz anders. Wie Archäo-logen und Volkskundler herausgefunden haben, sind Tätowierungen etwas kulturell absolut Fundamentales. Wahrscheinlich gab es sie schon in der Steinzeit: „Forscher vermuten mittlerweile, dass sie parallel zum Sesshaftwerden des Menschen, vielleicht sogar noch früher mit der Entwicklung der darstellenden Kunst entstanden sind", sagt Igor EberhardKulturanthropologe an der Universität Wien. Bis in die Neuzeit, ja bei manchen indigenen Völkern bis heute, spielten Tätowierungen eine bedeutende Rolle, oft eine lebenswichtige.

So zum Beispiel bei einer weiteren Ad-ligen — zumindest wurde sie von den Me-dien dazu erkoren, nämlich zur „Eisprin-zessin von Ukok". Es handelt sich um eine Mumie, die ein russisches Archäologen-Team 1993 im sibirischen Altai-Gebirge fand. Die Eisfrau lag auf dem kargen Ukok-Plateau, verborgen in einem Kur-gan, einem Grabhügel, wie er beim Reitervolk der Skythen und ihrer Pazyryk-Kul-tur üblich war. Die Menschen dieser Kultur lebten vom 6. bis zum 2. Jahrhundert v.Chr. in der sibirischen Steppe. Eingeschlossen in einer hölzernen Kammer, von Steinen überdeckt, war die Mumie im ewigen Eis konserviert.

Ein Zeichen von Adel


Eine Analyse der Jahresringe im Holz sowie des Mageninhalts der als Grabbeigabe beigesetzten Pferde ergab, dass die Eisprinzessin im 5. Jahrhundert v.Chr. ge-lebt haben muss. Sie war bei ihrem Tod zwischen 20 und 30 Jahre alt. Die Pferde und andere Beigaben, ihre edle Kleidung aus Seide und Pelz sowie ein reich verzierter Hut, der den Kopf fast einen Meter hoch überragt haben muss, zeugen vom hohen Status der Frau. Genauso wie die zahlreichen Tätowierungen auf ihrer Haut: Schulter, Handgelenke und Lenden, ja sogar die Daumen waren von Vögeln, Hirschen und anderen mythischen Tieren überzogen. Bei den Skythen war das vermutlich eine Art Auszeichnung. Um 450 v.Chr. merkte der griechische Schreiber Herodot an, dass unter den Thrakern, den nächsten Nachbarn der Schwarz-meer-Skythen, „Tätowierungen ein Zeichen von Adel sind — wer keine hat, ist von niederem Stand".

Wahrscheinlich war die Dame vom Ukok-Plateau aber eher Priesterin als Prinzessin — womöglich auch Erzählerin oder

Kriegerin, denn die Skythen waren berüchtigt für ihre Amazonen, wie es die griechischen Schriftsteller Herodot und Pseu-

do-Hippokrates im 5. Jahrhundert v.Chr. plastisch beschrieben. Ganz ähnliche Tat-toos zieren die Haut männlicher Skythen-

 

Mumien aus derselben Zeit. „Es gibt Theorien, wonach die Skythen Arme, Beine und vor allem Gelenke mit Tätowierungen versehen haben, um gerade diese Teile, die für das Überleben besonders wichtig waren, besser zu schützen", sagt der Archäologe Hermann Parzinger, Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz. Er hat einen skythischen Krieger im Altai ausgegraben und im Anatomischen Institut der Universität Göttingen untersucht. Für die Skythen waren Tat-toos demnach nicht nur Schmuck und Rangabzeichen. Sie sollten auch Kraft und Macht verleihen und auf rituelle Weise vor Verletzungen bewahren.

Von keinem anderen Volk kennen wir ältere bildhafte Tätowierungen als von den Skythen — also komplexe figürliche Ornamente. Doch die Skythen waren bei-leibe nicht die Ersten, die sich tätowierten. Und nicht die Ersten, die sich davon Schutz und Heilung versprachen. Auch die wohl bekannteste Mumie der Welt, der Mann vom Hauslabjoch, kurz Ötzi, ist tätowiert. Mit gut 5300 Jahren ist er mehr als doppelt so alt wie die Altai-Mumien — und war von eher geringem

Rang, vermutlich ein einfacher Hirte. 61 >. Tätowierungen haben die Wissenschaftler j

des Bozener „Eurac-Instituts für Mumien und den Iceman" an Ötzis Leib gezählt: g parallele Linien an der unteren Wirbelsäule, Streifen am rechten Fußknöchel, re ein Kreuz an der Innenseite des rechten 2, Knies und eines auf der rechten unteren Seite des Brustkorbs (siehe bild der wis-senschaft 9/2013, „Schätze aus dem Eis" ).

Hinsichtlich der Bedeutung seiner vergleichsweise simplen Tattoos gehen manche Wissenschaftler noch etwas weiter als bei den Skythen. Radiologische Untersuchüngen und Computertomo-grafien haben gezeigt, dass Ötzi, mit rund 45 Jahren für die damalige Zeit recht betagt, unter Arthrose litt: Hüfte, Knie und Sprunggelenke waren erkrankt. Auch die Rückenwirbel waren degeneriert. Er muss unter starken Schmerzen gelitten haben. Sollten die gestochenen Muster auf der Haut vielleicht der Linderung dienen?

„Ötzis Tätowierungen können in 15 Strichgruppen zusammengefasst wer-den", antwortet Leopold Dorfer, Profes-sor für Akupunktur an der Universität Graz, der Ötzis Tätowierungen eingehend inspiziert hat. „9 dieser 15 Gruppen liegen in unmittelbarer Nähe oder direkt auf klassischen Akupunkturpunkten. Ihre Kombination entspricht aus der Sicht der Akupunktur einer komplexen antiarthro-tischen Therapie." Dieses Fazit zieht auch der Rheumatologe Walter E Kean von der McMaster-Universität im kanadischen Hamilton. „Die Positionen der Tätowie-rungen entsprechen Stellen zur therapeutischen Behandlung von chronischen Schmerzen."

Stiche versetzen

Schmerzhafte Prozedur und bleibender Eindruck — die Technik des Tätowierens setzt auf nachhaltige Wirkung und tut höllisch weh. Der Tätowie-rer durchsticht mit einer Nadel die Oberhaut (Epidermis) und spritzt Farbe in die Lederhaut (Dermis) darunter. Dafür verwendet er eine Hohlnadel oder taucht das Stechinstrument in den Farbstoff. In der Lederhaut wird die Farbe dauerhaft eingelagert. Darüber oder darunter würde die Tinte rasch verloren gehen. Denn die oberen Haut-schichten schuppen sich, und Blutungen würden die tieferen auswaschen.

 

sind zahlreiche Mumien erhalten. Eine davon, die circa 7000 Jahre alte Mumie eines Mannes, hat auf der Oberlippe einen schmalen Streifen tätowiert, der an einen Stift-Schnäuzer erinnert — und vielleicht einen solchen simulieren sollte. In diesem Fall läge ein kosmetischer Zweck vor.

Ob die Tätowierkunst noch älter ist —dafür sprechen nur Indizien. So wurde in der Grotte Arcy-sur-Cure in Frankreich eine 35 000 Jahre alte Feuerstelle mit Ockerfarben entdeckt. Durch Erhitzen lässt sich gelber Ocker in roten umwandeln. Gleich neben der Feuerstelle legten Archäologen spitze knöcherne Werkzeuge frei. Mit ihnen könnte die Farbe in die Haut von jemandem gestochen worden sein. Und dieser Jemand wäre nach Ausweis der übrigen Funde Neandertaler gewesen.

Gefärbte Narben

Doch mit Ocker könnte auch Leder ge-färbt oder Haut bemalt worden sein. Eindeutig klären lässt es sich nicht. Das räumt auch Kulturanthropologe Igor Eberhard ein, wenn es um bis zu 10 000 Jahre alte Felsmalereien in der Sahara geht, die Menschen mit Mustern auf der Haut zeigen: „Die könnten natürlich auch einfache Körperbemalung darstellen."

So oder so, das Tätowieren ist tiefer in der Menschheitsgeschichte verwurzelt als

lange angenommen — und offenbar haben verschiedene Kulturen diese Kunst unabhängig voneinander entwickelt. Wie sie darauf kamen, bleibt unklar. Plausibel erscheint folgende Theorie: Die ersten Tat-toos waren einfach gefärbte Narben. Die Steinzeitmenschen dürften von Kämpfen oder der Jagd auf gefährliche Tiere Wunden davongetragen haben. In die geriet Dreck, der die Wundheilung verzögerte und für eine bleibende Verfärbung der Haut sorgte. Ein erfahrener Kämpe wäre also an der Zahl solcher Körpermale zu erkennen gewesen. Entsprechend stolz hätte man sie hergezeigt — und sich vielleicht auch künstlich selbst zugefügt. Entweder, um Erfolge zu dokumentieren, wenn man unverwundet geblieben war, oder einfach um Eindruck zu schinden. In vielen Kulturen galten Tätowierungen bis in die Neuzeit als eine Art Orden für verdiente Krieger und Jäger.

Die Techniken, mit denen sich die ruhmreichen Kämpfer die Stech- und Schnittmalereien zufügten, waren im Vergleich zu heute recht abenteuerlich. Als Nadeln dienten je nach Kultur Knochensplitter, Haifischzähne, Dornen, Kakteennadeln oder geschnitzte Spieße aus Holz und Elfenbein. Als Farben nutzte man Asche, Ruß und Pflanzenstoffe. Die Inuit, die Ureinwohner der Arktis, ziehen noch heute rußige Fäden mit einer Art Nähnadel unter der Haut durch, um Linien zu zeichnen. Die Samoaner schlagen mit kammähnlichen Hacken, die einst oft aus Menschenknochen bestanden, auf die Haut ein, um Muster zu kreieren, die Maori schneiden sich mit meißelartigen

g          • Holzinstrumenten Farbe ins Gesicht.

         Der Sinn und Zweck dieser Torturen erschöpft sich mitnichten in Auszeich-

§         nung, Heilung und Schmuck. Tattoos

.2' erfüllten noch ganz andere Funktionen, = ▪ etwa in Zusammenhang mit Fruchtbar-

sä- keit und Geburt. Bei den Frauen im Alten

         Ägypten standen Tätowierungen hoch im Kurs — von der einfachen Dame bis hin

         zur Gattin des Pharaos. Die Mumie der :2> Hathor-Priesterin Amunet, deren Grabfranzösische Archäologen 1891 in Deir el-Bahari in Theben-West fanden, weist Striche, Punkte und geometrische For-men am ganzen Körper auf. Besonders auffällig an der etwa 4000 Jahre alten Mumie: eine elliptische Form aus Punktreihen über dem Bauch.

Die gleichen Zeichnungen wurden bei zwei weiteren weiblichen Mumien gefunden, die man nahe Amunets Grab bestattet hatte. Ihre Titel zu Lebzeiten waren „Hathorische Tänzerinnen am Hof von König Mentuhotep". Geoffrey John Tassie, Ägyptologe an der Freien Universität Berlin, stellt fest: „Diese Tattoos wurden sicher noch auffälliger, wenn die betreffende Frau schwanger war — die Muster dehnten sich aus und bildeten eine Art symbolisches Netz." Dieses Netz, das quasi den sich wölbenden Bauch hält, sollte auf rituelle Weise eine sichere Geburt garantieren.

Göttlichen Beistand sichern

Tattoos galten den Ägyptern ganz all-gemein als magischer Schutz vor Krankheiten und allerlei Bösem. Sie waren eine Art Amulett, wie die britische Archäologin Joann Fletcher von der Universität York meint — eines, das man stets mit sich trug. So auch bei einer Mumie aus der Zeit um 700 n.Chr. Sie kam 2005 bei Grabungen im Sudan zutage, heute befindet sie sich im British Museum. In griechischen Buchstaben steht auf ihrem rechten Oberschenkel ein Monogramm, das den Namen „Michael" symbolisiert. Da die Frau in einer christlichen Gemeinde am Nil wohnte, glauben die Archäologen am British Museum, dass der Erzengel Michael gemeint ist. Als mächtigster aller Erzengel, der die himmlische Armee gegen Satan und die gefallenen Engel anführte, sollte sein Emblem wohl vor allen Übeln bewahren.

 

Den Kelten ging es bei ihren Tätowie-rungen dagegen weniger um einen Schutzeffekt als darum, Angst und Schrecken zu verbreiten. Sie waren berüchtigt dafür.

ihren Gegnern splitterfasernackt uni von oben bis unten tätowiert gegenüberzutreten. Auch bei den Urvölkern Polynesiens waren Tattoos eine Art permanente Kriegsbemalung. Die Krie-

ger der Marquesas-Inseln in Ostpolyne-sien trugen auf den Innenarmen Tattoos von großen, starr blickenden Augen. Überhaupt war es weit verbreitet, Tä-towierungen als Initiationsritus in die Haut zu stechen. Und manchmal waren sie auch einfach praktisch: Einige Indianerstämme Kaliforniens ritzten den Jungen einen Maßstab für Muschelgeld-schnüre in den Arm - als Zeichen, dass sie nun erwachsen waren, aber auch, um ihnen das Handeln zu erleichtern. Muschelschnüre dienten vielen indigenen Völkern als Währung. Die Ketten wurden nach der Länge bewertet.

So erfüllten Tattoos in vielen Kulturen diverse Zwecke. Bisweilen machte erst die Tätowierung jemanden zum vollwertigen Mitglied der Gesellschaft. „Wenn ein Sa-moaner nicht tätowiert war, wurde er nicht beerdigt, sondern seine Leiche einfach irgendwo im Dschungel abgelegt", erklären die österreichischen Museums-pädagogen Petra Pinkl und Manfred Hainzl, die sich vor einigen Jahren für e• ine Ausstellung eingehend mit Tattoos

I, beschäftigten. Auch für die Mohave-In-dianer  sei es unmöglich gewesen, ohne

I G• esichtstätowierung ins Land der Toten

M einzugehen. Sie waren dazu verdammt, in der Hölle zu schmoren.

Und doch: In Europa geriet die Täto-wierung im Laufe der Jahrhunderte in g Verruf. Schon Griechen und Römer sahen sie als Zeichen von Barbarei an. Viele

         ihrer Feinde - Skythen, Thraker, Kelten,

Nubier - waren tätowiert. Die Römer da-

gegen verwendeten Tattoos allenfalls als 7 • Stigma: Sklaven wurden auf diese Weise

         markiert, ebenso wie Söldner der römi-

 

schen Armee - als Zeichen der Truppen-zugehörigkeit, aber vor allem, damit sie nicht desertierten.

Im Zeichen des Glaubens

Unter Christen galt die Tätowierung lange Zeit als Gotteslästerung, schließlich verunstaltete man damit die Krone der Schöpfung. Nur solche Tattoos waren ak-zeptiert, mit denen man sich zum Glauben bekannte - die Initialen Christi, ein Kreuz oder ein Lamm. Die Kreuzritter ließen sich tätowieren, um auf den Kreuzzügen eindeutig als Christen erkennbar zu sein. Viele Kopten tragen heute noch ein Kreuz an der Innenseite des Handgelenks. Die christliche Minderheit in Ägypten will sich so vom Islam distanzieren, der Tätowierungen strikt ablehnt.

Ebenfalls als Erkennungszeichen, je-doch nicht aus frommen Gründen, nutz-ten Verbrecherbanden Tattoos. Auch des-wegen überwog in Europa die Ablehnung. Sich tätowieren zu lassen, galt als Zeichen von Rebellion. Kaiserin Sissi war ja gern rebellisch - und damit stand sie nicht allein. Viele Angehörige europäischer Fürstenhäuser haben sich im 19. und Anfang des 20. Jahrhundert mehr oder weniger heimlich tätowieren lassen: König George V. und König Edward VII. von Großbritannien, der russische Zar Nikolaus II., Prinz Albert von Sachsen-Coburg, ja selbst die Mutter von Winston Churchill. „Die Gründe für diesen Hype sind nicht geklärt", sagt Kulturanthro-

 

pologe Igor Eberhard. „Aber wahrschein-lich war es einfach der Reiz des Verbote-nen, die Lust an der Provokation und dem Exotischen."

Historischen Schätzungen zufolge wa-ren damals - trotz der öffentlichen Miss-billigung - 20 Prozent aller Menschen in den industrialisierten Ländern tätowiert, vor allem in der Ober- und Unterschicht, weniger in der Mittelschicht. In Deutsch-land gaben 2014 neun Prozent der Bevölkerung an, ein Tattoo zu tragen. Insofern ist der heutige Trend zur Tätowierung

doch recht harmlos.


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