Sonntag, 26. Juli 2015

Herzpflaster für den Herzinfarkt


Herzpflaster für den Herzinfarkt

Author D.Selzer-McKenzie

Video: http://youtu.be/Kn1sURocfFc

Ein Herzpflaster soll die Verletzungen nach einem Infarkt heilen. Mediziner in Hannover sind hier international führend.

 

Muskulös, beweglich, ausdauernd — das Herz schläft nie, macht keine Pause. Etwa drei Milliarden Mal schlägt der 300 Gramm schwere Muskel in 70 Lebensjahren. Insgesamt pumpt das Herz vier SupertankerFüllungen Blut durch das 100 000 Kilometer lange Adergeflecht unseres Körpers bis hin zu jeder einzelnen Zelle.

Doch selbst das stärkste Herz wird schwach, wenn sich die Gefäße verschließen, die es mit Nährstoffen und Sauerstoff versorgen. Dann kommt es zu einem Infarkt, den in Deutschland jährlich über 280 000 Menschen erleiden. Dank des medizinischen Fortschritts überleben ihn heute die meisten. Das Herz aber ist von dem Ereignis für immer gezeichnet.

Einfache Reparaturzellen treten an die Stelle hochspezialisierter Herzmuskelzellen. Sie bilden Narbengewebe, das das Herz zwar stabilisiert, seine Kontraktionskraft aber vermindert. Das Herz versucht trotzdem, seine Pflicht zu tun. Manchmal verausgabt es sich dabei, wird schwach und schwächer, bis es zu versagen droht. Dann hilft oft nur die Transplantation eines Spenderherzens. Daran

 

aber besteht hierzulande ein eklatanter Mangel.

Wie schön wäre es doch, ließe sich der desaströse Gewebeschaden, den der Infarkt zurückgelassen hat, einfach rückgängig machen — mit einem „Herzpflaster" beispielsweise. Das klingt fantastisch. Doch die Wissenschaftler der Leibniz Forschungslaboratorien für Biotechnologie und künstliche Organe an der Medizinischen Hochschule Hannover verfolgen genau dieses Ziel. „In fünf Jahren", hofft Ulrich Martin, der Leiter der Forschungsstätte, „könnten wir mitersten therapeutischen Prüfungen in der Klinik sein."

Unter dem Mikroskop sieht das, was die Forscher zu so großer Hoffnung veranlasst, wenig .spektakulär aus. Braune Gewebeklümpchen schwimmen in der trüben Brühe einer Kulturschale. „Warten Sie einen Moment", rät Ina Gruh, Leiterin der Arbeitsgruppe „Myokardiales Tissue Engineering". Und tatsächlich — der zweite, geduldigere Blick lässt staunen. Die braunen Kügelchen zucken, erst eins, dann ein anderes. Der Rhythmus ist vertraut: Es ist, als schlage ein Herz.

Ina Gruh nennt die unscheinbaren braunen Klümpchen „Cardiac Bodies".

 

Jedes Einzelne dieser Herzkörperchen, erklärt die Biochemikerin, besteht aus 1000 bis 2000 spontan kontrahierenden Herzmuskelzellen, die im Labor erschaffen wurden. Die Zellen aus der Retorte sollen das Gleiche leisten wie ihre natürlichen Vorbilder — und das ist nicht wenig.

Kräftige Schläge aus der Retorte

Herzmuskelzellen gehören zu den Topspezialisten unter den 200 Zelltypen unseres Körpers. Alle diese Zellen haben sich aus derselben befruchteten Eizelle entwickelt und besitzen das gleiche Erbgut. Dass sie dennoch so verschieden sind,

 

liegt daran, dass in ihnen jeweils andere genetische Vorgaben verwirklicht sind: Winzige Markierungen auf der Erbsubstanz entscheiden darüber, welche Gene in Proteine übersetzt werden und welche nicht. Deshalb kann eine Nervenzelle Botschaften weiterleiten, eine Leberzelle Zucker speichern und eine Hautzelle den Farbstoff Melanin produzieren.

Herzmuskelzellen sind darauf spezialisiert, mit großer Ausdauer mechanische Arbeit zu leisten. Dafür hat die Natur sie mit kontraktionsfähigen Elementen, den sogenannten Filamenten, ausgestattet. Sie sehen aus wie ordentlich aufeinander gestapelte, quergestreifte Päckchen. Auf einen elektrischen oder hormonellen Reiz hin sorgen die Filamente dafür, dass sich die Zelle anspannt und anschließend wieder entspannt. Eine einzelne Herzmuskelzelle kann nur wenig bewirken — in Gesellschaft mit ihresgleichen aber entwickelt sich eine enorme Power. Für ihr kraftvolles Miteinander verbinden sich die Zellen durch Kanäle, die „Gap Junctions". Über sie kann eine Erregung sehr schnell weitergegeben werden, sodass alle Zellen gemeinsam kontrahieren.

2012 ist es den Wissenschaftlern aus Hannover gelungen, im Labor aus menschlichen Stammzellen einen dreidimensionalen Zellverband zu züchten, der wie ein Herzmuskel aussieht und auch genauso funktioniert. Derzeit prüfen die Forscher bei Tieren, wie sich die künstlich hergestellten Zellen verhalten, wenn sie in ein Herz übertragen werden, das in einem Organismus schlägt. „Was wir dort sehen, ist sehr vielversprechend", sagt Martin Ulrich. Zurzeit testen die Wissenschaftler ihre Zellen an Schweinen, deren Herz dem Menschenherz sehr ähnlich ist Embryonale Stammzellen überflüssig

Lange gab es nur eine einzige Quelle für alle Versuche, zelluläre Spezialisten im Labor heranreifen zu lassen: embryonale Stammzellen, mit all ihren ethischen Problemen. Um sie zu isolieren, müssen menschliche Embryonen zerstört werden. Doch 2006 präsentierten japanische und amerikanische Forscher der staunenden Welt ein Laborrezept, das 2012 mit dem Nobelpreis bedacht wurde und „Reprogrammierung" genannt wird (bild der wissenschaft 6/2010, „Der irrwitzige Wettkampf der Forscher").

Damit lassen sich ausgereifte Zellen er ,:hsener Menschen — etwa Zellen der Haut — in embryonale Ursprungszellen zurückverwandeln. Den auf „Neustart" gestellten Zellen stehen fast alle Entwicklungswege offen, sie sind „pluripotent". Forscher sprechen von „induzierten pluripotenten Stammzellen" (iPSZellen).

Die iPSZellen haben einen wesentlichen Vorteil: Anders als embryonale Stammzellen lassen sie sich von dem Menschen gewinnen, der sie später als Transplantat erhalten soll. Gegen fremde Zellen gerichtete Abwehrkämpfe des Immunsystems sind daher nicht zu befürchten. Um Herzmuskelgewebe aber handelt es sich bei den im Labor reprogrammierten Zellen noch lange nicht. Dafür bedarf es zwei bis drei Monate Zeit — und einiger spezieller Zugaben aus dem aktuellen Repertoire zellbiologischer und labortechnischer Kunst.

Die Forscher in Hannover gönnen ihren iPSZellen beispielsweise die Gesellschaft von Bindegewebszellen. Und sie verwöhnen sie mit Ascorbat, besser bekannt als Vitamin C. Beide Zugaben unterstützen den Aufbau der extrazellulären Matrix, das wasser und kollagenreiche Grundgerüst, in das Körperzellen eingebettet sind. „In der Matrix können die Herzmuskelzellen miteinander in Kontakt treten und sich zu einem einheitlichen Gewebe zusammenschließen", erklärt Ina Gruh.

Ihre Kollegin, die Biologin Monica Jara Avaca, ist gerade dabei, die Entwicklungsschritte ihrer iPSZellen auf dem Weg zum Herzmuskelgewebe zu kontrollieren. Konzentriert schaut sie auf den Computerbildschirm. Er zeigt die mechanische Aktivität der Zellaggregate. Der Laie erkennt auf dem Monitor nichts anderes als bunte Linien, die zackig nach oben und unten ausschlagen. Monica Jara Avaca aber kann die Aufzeichnungen mit einem einzigen Blick interpretieren. Nachdenklich wiegt sie den Kopf hin und her. Heute ist sie mit ihren Zellen nicht ganz so zufrieden wie sonst: Sie schlagen ihr nicht regelmäßig genug. „Es sieht so aus, als kontrahieren einige Zellen im Verband sehr kraftvoll, andere aber nicht", erklärt die Wissenschaftlerin.

„Dann müssen wir sie wohl noch ein bisschen besser trainieren", meint Ina Gruh. Sie öffnet die Tür zu einem Schrank, dessen Leuchtdioden die Wohlfühltemperatur von exakt 37 Grad anzeigen, und holt dann eine kleine Apparatur heraus: ein BodybuildingStudio für Zellen.

Die MiniFitnessgeräte, sogenannte Bioreaktoren, sind eine Eigenkonstruk tion der Hannoveraner Forscher. Für das Krafttraining werden die Zellen in die Apparatur eingespannt. Ein kleiner Motor dehnt sie von zwei Seiten, zusätzlich werden sie elektrisch stimuliert. So lässt sich die Belastung nachahmen, der Zellen im heranreifenden Herzen aufgrund der ständigen Pumpbewegung ausgesetzt sind. Gleichzeitig können die Forscher mit ihrer Apparatur die Kraft messen, mit der die Zellen kontrahieren. Die wissenschaftliche Auswertung des zellulären Fitnessprogramms hat ergeben, dass ein sich langsam steigerndes Training für Herzmuskelzellen am besten ist. Tatsächlich kann dabei ein Gewebe entstehen, das ebenso gut arbeitet wie das Herz eines Neugeborenen.

Auch angeborene Missbildungen wie Löcher in der Herzscheidewand von Kindern könnten mit körperidentischen Gewebeflicken gestopft werden, erklärt Axel Haverich, Leiter der Klinik für Thorax, Herz und Gefäßchirurgie der Medizinischen Hochschule Hannover. Doch bis es so weit ist, müssen noch etliche Probleme gelöst werden.

So muss es zunächst einmal gelingen, die künstlichen Zellen in ausreichender Zahl herzustellen. Denn um den Verlust von rund einer Milliarde Zellen ausgleichen zu können, die bei einem Infarkt zugrunde gehen, reichen auch Hunderttausend Zellen aus der Petrischale nicht aus. In Hannover ist die Arbeitsgruppe von Robert Zweigerdt dafür zuständig, dieses Problem zu lösen. „Derzeit sind wir im 100MilliliterBereich und können 40 bis SO Millionen Herzmuskelzellen produzieren", erklärt der Biologe. Um aber auf die für medizinische Zwecke benötigte Zellzahl zu kommen, ist ein Ein bis ZweiLiterProduktionsmaßstab nötig. Zweigerdt zeigt auf die Laborbank hinter sich: Dort steht die Produktionsstätte bereit, in der die Zellen milliardenfach hergestellt werden sollen.

Die Zellfabrik sieht aus wie ein mit vielen Kabeln, Zu und Abläufen präpanertes Einweckglas. Im Innern des Glases ichwimmen unzählige kleine braune Kügelchen in einer Flüssigkeit — die Aggregate von Herzmuskelzellen. „Unser Zellkultursystem ermöglicht es, Herz=uskelzellen im therapeutisch notwendizen Maßstab bereitzustellen", sagt Zwei

 

gerdt und verrät augenzwinkernd ein Geheimnis: „Die Flüssigkeit muss dazu gerührt werden — nicht geschüttelt."

Einer zweiten Herausforderung hat sich die Forschergruppe „Polymer Design" der Universität Hannover gestellt. Die Wissenschaftler um den Chemiker Gerald Dräger entwickelten für die künstlichen Zellen ein Gel, das menschliches Kollagen und chemisch veränderte Hyaluronsäure enthält, ein Bestandteil von Bindegewebe. Darin werden die Herzmuskelzellen eingebettet — und lassen sich dann zu einem handhabbaren einheitlichen Gewebe formen.

Sicherheit geht vor

Das dritte, womöglich größte Kunststück wird es sein, das künstliche Gewebe mit Blutgefäßen auszustatten. Denn um zu gewährleisten, dass die Implantate ausreichend mit Sauerstoff und Nährstoffen versorgt werden, müssen sie mit dem Blutkreislauf des Patienten verbunden sein. „Das könnte mit kleinen Gefäßen geschehen, die sich von selbst mit dem Blutgefäßsystem des Körpers verbinden", überlegt Ina Gruh. Zusätzlich sollten es wohl aber auch große Gefäße sein, die chirurgisch angeschlossen werden müssen. „Wie das genau aussehen soll, wissen wir derzeit noch nicht", gesteht sie.

Die alles entscheidende Herausforderung aber ist es, die Sicherheit des Patienten zu gewährleisten. „Es muss restlos ausgeschlossen sein", betont Ulrich Martin, „dass die. übertragenen Zellen und Gewebe dem Patienten in irgendeiner

 

Weise schaden." Denn die Zellen, die heilen sollen, bergen eine ernste Gefahr: Für die Reprogrammierung werden in die Empfängerzellen bestimmte Gene eingeschleust, die sich nach dem Zufallsprinzip in das zelluläre Erbgut integrieren. Damit aber besteht das Risiko, dass die Zellen aus ihrem Teilungsgleichgewicht geraten und zu Krebszellen entarten. Neue Methoden der GenÜbertragung, die auf die herkömmlichen Viren verzichten, könnten dieses Problem lösen.

Technische Fortschritte und Erfahrung mit den Zellen ist die Kombination, aus der sich die Hoffnungen der regenerativen Medizin speisen. Könnte er also doch eines Tages wahr werden, der alte Traum vom künstlichen Herzen, für Patienten maßgeschneidert in den Designshops der Gewebeingenieure? „Da gibt es durchaus Ideen", sagt Ulrich Martin. „Aber ein Organ wie das Herz? Nein, das wird noch

lange Zukunftsfantasie sein."


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