Donnerstag, 23. Juli 2015

Irre und kreativ


Irre und kreativ

Author D.Selzer-McKenzie

Video: http://youtu.be/hIx7JPihdk0

Genie und Wahnsinn bilden sprichwörtlich eine Einheit. Doch die Wirklichkeit sieht anders aus, sagen Forscher.

Die Geschichte vom abgeschnittenen Ohr kennt man. Doch Vin-cent van Gogh hatte noch mehr bizarre Anwandlungen: Im Streit stellte er seinem Malerfreund Paul Gauguin mit einem gezücktem Rasiermesser nach. Und: Er aß gelegentlich Ölfarben.

Mozart fiel durch verbale Obszönitäten auf — möglicherweise weil er am Tou-rette-Syndrom litt. Hölderlin kam mit 36 Jahren in die Psychiatrie, weil er, wie Experten heute vermuten, eine Psychose hatte. Der Mathematiker und Nobelpreisträger John Nash fühlte sich von imaginären Geheimagenten verfolgt — er war an paranoider Schizophrenie erkrankt. Einstein und Newton wird von manchen das Asperger-Syndrom nachgesagt, eine milde Form des Autismus.

Auch spektakuläre Selbstmorde de-pressiver Künstler wie Ernest Hemingway und Virginia Woolf legen den Schluss nahe: Die geniale Psyche funktioniert nur am Abgrund, auf einem schmalen Grat zwischen kreativer Hochbegabung und seelischer Schieflage.

Hinweise auf diese tragische Verqui-ckung. haben Wissenschaftler mehrfach dokumentiert. Zum Beispiel Shelley Car-son, Psychologie-Professorin an der Harvard University, die seit einigen Jahren die sogenannte latente Inhibition erforscht: 2 Diese Reizhemmung schränkt bei gesun-I' den Menschen die Wahrnehmung ein und schützt so das Gehirn vor einer Reizüber-

flutung. „Ist dieser Schutz zu schwach

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21 ausgeprägt, ist man für Informationen

und neue Eindrücke offener und findet

 

bessere Lösungen für Aufgaben", erklärt Carson. Nur: Diese psychische Besonderheit schafft auch ein Problem. Die Betroffenen können die auf sie einstürzende Informationsflut schlecht filtern. „Hochkreative Menschen haben ein höheres Risiko für psychische Erkrankungen als andere", stellt Carson fest. Das kann in Depressionen oder Alkoholismus mün-den und bis zu Symptomen ähnlich einer Schizophrenie führen.

Welche Rolle spielen die Gene?

Kreative Menschen können ihre psychische Sonderstellung zwar in Arbeit umsetzen, laufen jedoch Gefahr, aus der Spur zu geraten. Laut einer 1999 veröffentlichten Studie des isländischen Gen-Forschers Jon Karlsson vom Institut für Genetik in Reykjavik finden sich in den Familien begabter Mathematiker überdurchschnittlich viele Psychotiker. Er hatte geprüft, wie viele der Top-Mathematik-Absolventen einer Generation und deren Geschwister, insgesamt 620 Personen, wegen einer Psychose behandelt werden mussten. Es waren etwa dreimal so viele wie im Bevölkerungsdurchschnitt.

Und der ungarische Neuroforscher Szabolcs Keri von der Universität Budapest entdeckte, dass Studenten mit einer bestimmten Variante des Gens Neure-gulin 1 zwar kreativere Lösungen für Probleme finden als Kommilitonen, die andere Varianten des Gens tragen. Dieser Erbfaktor birgt aber auch ein höheres Risiko, an einer Psychose zu erkrankenDas Gen regelt unter anderem die Hirn-entwicklung und die Kommunikation der Neuronen untereinander.

Muss also jeder kreative Kopf fürch-ten, in geistiger Umnachtung zu enden? Mitnichten! So faszinierend das Duo In-fernale von Genie und Wahnsinn sein mag — es gibt viel mehr kreative Menschen mit intakter geistiger Gesundheit, wie Forscher beobachtet haben. Thomas Mann, Karl Lagerfeld, Steven Spielberg, Alice Munro und viele andere Künstler und Nobelpreisträger belegen, dass kreative Hochleistungen bis ins hohe Alter bei klarem Verstand möglich sind. Auch hinter

 

Lady Gaga verbirgt sich eine rationale, geschäftstüchtige und hochintelligente, so gar nicht wahnsinnige Persönlichkeit.

Warum aber prägen die Verschrobenen unser Bild vom Genie? Sie scheinen besonders attraktiv zu sein. Wir erliegen dem doppelten Faszinosum aus seelischer Schieflage und genialem Werk. Geniale psychisch Kranke und Koryphäen ragen aus der Masse heraus. Die Auffälligen nimmt man stärker wahr, erinnert sich besser an sie. Hagop Akiskal, Psychiatrie-Professor an der University of California in San Diego, gibt zu bedenken, dass zwar 8 Prozent der Manisch-Depressiven

 

Künstler seien, aber 92 Prozent eben nicht. Die Mehrheit dieser Patienten er-bringt keinerlei kreative Ausnahmeleis-tung. Die menschliche Wahrnehmung hält sich jedoch ungern mit Statistik auf und lässt sich leicht davon überzeugen, dass beides zusammengehört — verstärkt durch Hollywood-Filme wie „Pi" oder „A Beau-tiful Mind".

Eine schwach ausgeprägte bipolare Störung (manische Depression) kann zwar künstlerische Leistungen fördern, „denn die depressive Phase ermöglicht tiefe Einsichten in das menschliche Dasein", betont Akiskal, „während eine gemäßigt manische Phase die Umsetzung beim Komponieren, Malen oder Schreiben erlaubt". Doch die meisten Menschen mit dieser Störung seien in extrem manischen Phasen nicht zu nennenswerten kreativen Leistungen fähig, weil sie sich nicht genügend konzentrieren können. Besonders starke Manien und Psychosen sind zudem mit komplexer kreativer Arbeit über viele Jahre hinweg nicht vereinbar. „Das entkräftet die romantische Idealisierung des Wahnsinns als zentralen Faktor für Kreativität", stellt der Psychiater trocken fest.

Wichtig: Talent und Fleiß

Auch Peter Brugger, Neurowissen-schaftler am Universitätsspital in Zü-rich, untersucht seit Jahren die Ver-bindung von Kreativität und Wahn. Was die mit Schizophrenie assoziierten Gene betrifft, die manche Kreati-vitätsforscher unter die Lupe nehmen, argumentiert er ähnlich wie Akiskal: „Nicht jeder Gen-Träger erkrankt. Und wer nicht erkrankt, ist womöglich in mancher Hinsicht kreativer als der Durchschnitt." Ebenso räumt Harvard-Psychologin Shelley Carson ein, dass trotz des höheren Risikos für seelische Schief-lagen die meisten kreativen Menschen psychisch gesund sind. Nicht Wahnsinn, sondern Talent, Fleiß und Übung führen in der Regel zum Erfolg. Und eine hohe Intelligenz sowie ein gutes Arbeitsgedächtnis schützen laut ihren Studien davor, dass die
Psyche Schaden nimm


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