Künstliche Augen – von SelMcKenzie Selzer-McKenzie
Video: http://youtu.be/AlGuByS17V4
Es gibt meist drei Gründe, ein Auge zu verlieren: Unfall,
Tumor oder angeborener Anophthalmus bzw. Microphthalmus. Für jeden Betroffenen
heißt das: Neben dem Verlust der binokularen Sehleistung eine erhebliche
seelische Belastung. Die Ocularistin Ruth Müller-Welt hat ihre Arbeit aus
Berufung
vom Vater gelernt und zählt heute zu den gefragtesten
Herstellerinnen für Augenprothesen in Deutschland und der Schweiz.
Zu u einem der seltensten Berufen in Deutschland ge¬hört der
des Ocularisten. Früher nannte man sie auch Kunstaugenhersteller. An dieser
Arbeit hat sich seit über 100 Jahren nicht viel geändert, doch das uralte Hand¬werk
ist im Wandel. Neue Materialien und moderne Ver¬fahren erweitern heute das
Berufsbild.
In Deutschland gibt es rund 80 Ocularisten, die auf wenige
Institute verteilt sind. Eine gesetzliche Regelung der Aus¬bildung gibt es
nicht. „Wir sind in Verbänden organisiert, die eine eigene Regelung übernommen
haben", so Ruth Müller-Welt, Inhaberin des Instituts für künstliche Augen.
In vielen Fällen haben die Ocularisten schon vor der Ausbil¬dung Kontakt zu dem
Beruf gehabt. Oftmals gibt der Vater sein Wissen an seinen Sohn weiter, oder,
wie im Falle von Ruth Müller-Welt, ging das Wissen vom Vater über auf die
Tochter. Und auch ihr Vater erhielt sein Wissen vom Gro߬vater und dieser von
seinem Vater.
Lange Ausbildungszeit
Rund sechs Jahre dauert die Berufsausbildung. Sie beginnt
mit einer Praktikantenzeit von drei Jahren. Während dieser Zeit wird das Wissen
erworben, wie das Grundmaterial und die Augenfarben hergestellt werden.
Außerdem lernt der Auszubildende Patienten mit Ausheilungsprothesen zu
ver¬sorgen. Im Anschluss daran folgt eine Assistentenzeit von weiteren drei
Jahren. In dieser Zeit lernt der Auszubildende unter Anleitung eines erfahrenen
Ocularisten Patienten zu beraten und verschiedenste Augenprothesen herzustellen
und anzupassen. Um die spezielle Technik der Herstellung von Augenprothesen aus
Kunststoff zu erlernen, muss eine weitere fünfjährige Zusatzausbildung
absolviert werden. Jeder Ausbildungsabschnitt wird durch ein Prüfungskomitee
von Ocularisten abgenommen und bewertet. Bei der Ab¬schlussprüfung ist auch ein
Augenarzt als Prüfer anwesend. Die Auszubildenden im Stuttgarter Institut haben
durch die enge Zusammenarbeit mit der Universität Tübingen die Möglichkeit als
Gaststudierende die Grundlagen der Augen¬heilkunde und Anatomie zu erlernen.
Gibt es Quereinsteiger aus der Augenoptik?„Nein, das kommt
überhaupt nicht vor", informiert uns Ruth Müller-Welt.,,Die Ausbildung ist
sehr speziell, es hat zwar mit den Augen zu tun, aber unser Wissen aus den
Bereichen Medizin, Patho¬logie und Anatomie ist sehr fortgeschritten. Dazu
kommt der reine handwerkliche Aspekt, den man nur durch jahre¬lange Praxis
erlernen kann und der mit der Berufserfahrung weiter wächst. Da sind die
Berührungspunkte mit der Augenoptik eher klein!"
Großes Einzugsgebiet
Kunden hat das Institut reichlich. Die vier angestellten
Ocu-laristen bedienen einen Großteil des süddeutschen Raums und der Ostschweiz.
„Das hat bei uns Tradition. Wir haben schon seit 1925 Teile der Schweiz mit
Prothesen versorgt. Anfangs in Krankenhäusern, später arbeiteten wir in Hotels.
Die Brandschutzgesetze jedoch erschwerten die Arbeit in
Hotels, denn zum Handwerk der Ocularisten gehört eine offene Flamme:' Seit
25-30 Jahren findet die Arbeit in der Schweiz wieder in Kliniken statt.
Ein ganz
Die Augenprothesen werden aus einem sehr speziellen Glas
gefertigt. Es gibt nur wenige Glashütten, die dieses Materi¬al überhaupt
herstellen. Das besondere Material heißt: Kryolith. Das Mineral dafür kommt aus
Grönland. Nur dieses Glas hat das Weiß, das der Sklera ähnelt. In Deutschland
ist es die Glashütte im thüringischen Lauscha, die das Grund¬material
herstellt. Die von der Glashütte gefertigten Glas¬stangen erinnern ein wenig an
Neonröhren.
Zurück am Arbeitsplatz der Ocularistin: Zunächst wird eine
Kugel aus dem weißen Glas geblasen, dann werden die Farben für Iris und Pupille
aufgeschmolzen. Zum Schluss verblendet eine durchsichtige Glasschicht die
Oberfläche und gibt ihr die räumliche Tiefe der Hornhaut. In dieser kugeligen
Form werden die Augenprothesen aus Glas ge¬lagert. Sie sind nun Halbfabrikate.
Benötigt ein Patient eine Augenprothese wählt die
Ocula-ristin zunächst aus dem vorhandenen Repertoire der Halb¬fabrikate eines
aus. Ist keines vorhanden, muss es speziell angefertigt werden. Es sollte
perfekt zum anderen Auge passen. Dann inspiziert sie die Augenhöhle und
bestimmt die Form der Prothese. Das Halbfabrikat wird erhitzt und bearbeitet;
die kugelige Form wird zu einer Schale. Das Kunstauge sitzt lose hinter dem
Ober- und Unterlid. Es wird nicht weiter befestigt. Es kann, je nach Zustand
des Auges, sogar die Blickbewegungen mitmachen. Bei der Anpassung wird das
Material erhitzt, geformt und abgekühlt, bis es perfekt in der Orbita des
Patienten sitzt. Auch die feinen Äderchen des gesunden Auges werden nun erst auf
der Augenprothese aus Glas imitiert. Farbige Glasstäbe werden erhitzt, bis das
Glas schmilzt und sich in feine Fäden ziehen lässt. Diese roten und braunen
Fäden werden auf dem Weiß der gläsernen Sklera aufgeschmolzen. Die
Glas-Äderchen sehen täuschend echt aus.
Die Oberfläche ist dabei so glatt, dass die Augenlider bei
einer noch funktionierenden Tränendrüse problemlos dar¬über gleiten. Leider
greift die Tränenflüssigkeit die glatte Glasoberfläche an und macht sie porös.
Nach bereits ein bis zwei Jahren muss die Augenprothese aus Glas ersetzt
wer¬den. Außerdem müssen sie einmal täglich aus der Orbita genommen und
gereinigt werden. Es bildet sich Sekret an kleinen Hohlräumen hinter der
Glasfläche.
Seit einigen Jahren fertigen die Ocularisten im Stuttgarter Institut
auch Prothesen aus Kunststoff an. Das war zunächst nicht ganz einfach, denn der
verwendete Kunststoff muss ganz besondere Eigenschaften haben, um als
Augenpro¬these zu dienen. Neben einer extrem glatten Oberfläche soll das
Material auch eine gute Härte haben. Kratzer und
kleine Beschädigungen wirken sich störend auf die
Gleit-fähigkeit der Lider aus, außerdem reizen sie die Innenseite der Lider.
Der Vorteil von Augenprothesen aus Kunststoff ist jedoch die lange Haltbarkeit
gegenüber Glas. Denn kleinere Blessuren in der Oberfläche lassen sich mehrmals
wieder glatt polieren. Außerdem lassen sie sich sehr exakt anpassen. So exakt,
dass keine Hohlräume hinter der Pro¬these sind. Das ist möglich durch ein
Abdruckverfahren der Orbita. So bildet sich kein Sekret und die Prothese muss
nicht täglich entnommen und gereinigt werden.
Bis Ruth Müller-Welt den geeigneten Kunststoff dafür
ge¬funden hat, vergingen einige Jahre. In Deutschland ist sie nicht fündig
geworden. Ein befreundeter Ocularist aus Texas (USA) gab ihr einen Tipp. So
verwendet sie heute einen ka¬nadischen Kunststoff, ähnlich dem PMMA für
Kontaktlinsen. Nur dieser Kunststoff hat die richtige Härte und lässt sich so
präzise bearbeiten, wie es für die Ocularisten nötig ist.
Verlust des Augapfels geht mit großer seelischer Belastung
einher
„Die Menschen, die zu uns kommen, haben sehr oft ähnliche
Schicksale erlebt. Meist ist es einer von drei Gründen,
Wie ein Malkasten: Glasstäbe zur Farbgebung
die eine Prothetik erforderlich machen: Kongenitaler Anopthalmus
oder Microphthalmus, ein Unfall (z.B. Arbeits-, Silvester- oder Autounfall),
bei dem das Auge zerstört wurde, oder der Verlust des Augapfels durch
Krankheiten, wie bei¬spielsweise bei Tumoren. Für die Kosten kommen in der
Regel die Krankenkassen auf.,,Aber man spürt, dass auch hier ver¬sucht wird zu
sparen: Ab und zu fragen Krankenkassen da¬nach, ob es lediglich um eine
kosmetische Indikation gehe. Ich finde das zynisch! Der Patient möchte mit
seiner Prothese nicht besser aussehen als ein gesunder Mensch. Es geht da¬rum
ihn zu rehabilitieren. Es ist eine rekonstruktive Maßnah¬me. Man kann zwar sein
Sehen nicht wiederherstellen, aber es geht darum, dass er wieder zurück in die
Gesellschaft fin¬det!", so Ruth Müller-Welt. „Wir haben oft mit schweren
Schicksalen zu tun, so gehört es auch zu unserer Arbeit, ein offenes Ohr für
unsere Kunden zu haben und mit großem Einfühlungsvermögen vorzugehen!'
In der Baseler Augenklinik ist das Team von Ruth Müller-Welt
mehrmals jährlich zu Gast. In einem ca. 25qm großen Raum sitzt Ruth Müller-Welt
ihrem Kollegen Thomas Jung an einem Tisch am Fenster gegenüber. Die offene
blaue Flamme färbt sich gelb, sobald sie über eine Augenprothe¬se aus Glas
streicht. Das Werkzeug und die Materialien er¬innern an eine uralte Tradition.
Gemeinsam mit ihnen sitzen mehrere Patienten im Raum. Sie werden Zeuge, wie
ihre Prothesen entstehen. Dabei sitzt der jeweilige Patient vor der Werkbank
des Ocularisten und die Anpassungen erfol¬gen direkt vor Ort.
An einem Nebentisch liegt eine Pralinenschachtel und
da-neben steht ein kleines Blümchen. Auf der beigefügten Karte steht ein großes
„Danke" und eine Patientin verab-schiedet sich bei Ruth Müller-Welt mit
einer Umarmung. Man kann ahnen, was es für die Patienten bedeutet, wenn sie mit
einer Prothese ausgestattet werden.
Hier geht es nicht nur um technische Perfektion und hohe
Handwerkskunst. Es geht um Patienten, die nach einem Verlust ihres Auges ihre
seelische Balance wiederfinden und die sich mit ihren neuen Augen so
identifizieren können, als wären sie ein Stück von ihnen.
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