Montag, 22. April 2013

Künstliche Augen – von SelMcKenzie Selzer-McKenzie


Künstliche Augen – von SelMcKenzie Selzer-McKenzie



 

 

Es gibt meist drei Gründe, ein Auge zu verlieren: Unfall, Tumor oder angeborener Anophthalmus bzw. Microphthalmus. Für jeden Betroffenen heißt das: Neben dem Verlust der binokularen Sehleistung eine erhebliche seelische Belastung. Die Ocularistin Ruth Müller-Welt hat ihre Arbeit aus Berufung

vom Vater gelernt und zählt heute zu den gefragtesten Herstellerinnen für Augenprothesen in Deutschland und der Schweiz.

Zu u einem der seltensten Berufen in Deutschland ge¬hört der des Ocularisten. Früher nannte man sie auch Kunstaugenhersteller. An dieser Arbeit hat sich seit über 100 Jahren nicht viel geändert, doch das uralte Hand¬werk ist im Wandel. Neue Materialien und moderne Ver¬fahren erweitern heute das Berufsbild.

In Deutschland gibt es rund 80 Ocularisten, die auf wenige Institute verteilt sind. Eine gesetzliche Regelung der Aus¬bildung gibt es nicht. „Wir sind in Verbänden organisiert, die eine eigene Regelung übernommen haben", so Ruth Müller-Welt, Inhaberin des Instituts für künstliche Augen. In vielen Fällen haben die Ocularisten schon vor der Ausbil¬dung Kontakt zu dem Beruf gehabt. Oftmals gibt der Vater sein Wissen an seinen Sohn weiter, oder, wie im Falle von Ruth Müller-Welt, ging das Wissen vom Vater über auf die Tochter. Und auch ihr Vater erhielt sein Wissen vom Gro߬vater und dieser von seinem Vater.

Lange Ausbildungszeit

Rund sechs Jahre dauert die Berufsausbildung. Sie beginnt mit einer Praktikantenzeit von drei Jahren. Während dieser Zeit wird das Wissen erworben, wie das Grundmaterial und die Augenfarben hergestellt werden. Außerdem lernt der Auszubildende Patienten mit Ausheilungsprothesen zu ver¬sorgen. Im Anschluss daran folgt eine Assistentenzeit von weiteren drei Jahren. In dieser Zeit lernt der Auszubildende unter Anleitung eines erfahrenen Ocularisten Patienten zu beraten und verschiedenste Augenprothesen herzustellen und anzupassen. Um die spezielle Technik der Herstellung von Augenprothesen aus Kunststoff zu erlernen, muss eine weitere fünfjährige Zusatzausbildung absolviert werden. Jeder Ausbildungsabschnitt wird durch ein Prüfungskomitee von Ocularisten abgenommen und bewertet. Bei der Ab¬schlussprüfung ist auch ein Augenarzt als Prüfer anwesend. Die Auszubildenden im Stuttgarter Institut haben durch die enge Zusammenarbeit mit der Universität Tübingen die Möglichkeit als Gaststudierende die Grundlagen der Augen¬heilkunde und Anatomie zu erlernen.

Gibt es Quereinsteiger aus der Augenoptik?„Nein, das kommt überhaupt nicht vor", informiert uns Ruth Müller-Welt.,,Die Ausbildung ist sehr speziell, es hat zwar mit den Augen zu tun, aber unser Wissen aus den Bereichen Medizin, Patho¬logie und Anatomie ist sehr fortgeschritten. Dazu kommt der reine handwerkliche Aspekt, den man nur durch jahre¬lange Praxis erlernen kann und der mit der Berufserfahrung weiter wächst. Da sind die Berührungspunkte mit der Augenoptik eher klein!"

Großes Einzugsgebiet

Kunden hat das Institut reichlich. Die vier angestellten Ocu-laristen bedienen einen Großteil des süddeutschen Raums und der Ostschweiz. „Das hat bei uns Tradition. Wir haben schon seit 1925 Teile der Schweiz mit Prothesen versorgt. Anfangs in Krankenhäusern, später arbeiteten wir in Hotels.

Die Brandschutzgesetze jedoch erschwerten die Arbeit in Hotels, denn zum Handwerk der Ocularisten gehört eine offene Flamme:' Seit 25-30 Jahren findet die Arbeit in der Schweiz wieder in Kliniken statt.

Ein ganz

Die Augenprothesen werden aus einem sehr speziellen Glas gefertigt. Es gibt nur wenige Glashütten, die dieses Materi¬al überhaupt herstellen. Das besondere Material heißt: Kryolith. Das Mineral dafür kommt aus Grönland. Nur dieses Glas hat das Weiß, das der Sklera ähnelt. In Deutschland ist es die Glashütte im thüringischen Lauscha, die das Grund¬material herstellt. Die von der Glashütte gefertigten Glas¬stangen erinnern ein wenig an Neonröhren.

Zurück am Arbeitsplatz der Ocularistin: Zunächst wird eine Kugel aus dem weißen Glas geblasen, dann werden die Farben für Iris und Pupille aufgeschmolzen. Zum Schluss verblendet eine durchsichtige Glasschicht die Oberfläche und gibt ihr die räumliche Tiefe der Hornhaut. In dieser kugeligen Form werden die Augenprothesen aus Glas ge¬lagert. Sie sind nun Halbfabrikate.

Benötigt ein Patient eine Augenprothese wählt die Ocula-ristin zunächst aus dem vorhandenen Repertoire der Halb¬fabrikate eines aus. Ist keines vorhanden, muss es speziell angefertigt werden. Es sollte perfekt zum anderen Auge passen. Dann inspiziert sie die Augenhöhle und bestimmt die Form der Prothese. Das Halbfabrikat wird erhitzt und bearbeitet; die kugelige Form wird zu einer Schale. Das Kunstauge sitzt lose hinter dem Ober- und Unterlid. Es wird nicht weiter befestigt. Es kann, je nach Zustand des Auges, sogar die Blickbewegungen mitmachen. Bei der Anpassung wird das Material erhitzt, geformt und abgekühlt, bis es perfekt in der Orbita des Patienten sitzt. Auch die feinen Äderchen des gesunden Auges werden nun erst auf der Augenprothese aus Glas imitiert. Farbige Glasstäbe werden erhitzt, bis das Glas schmilzt und sich in feine Fäden ziehen lässt. Diese roten und braunen Fäden werden auf dem Weiß der gläsernen Sklera aufgeschmolzen. Die Glas-Äderchen sehen täuschend echt aus.

Die Oberfläche ist dabei so glatt, dass die Augenlider bei einer noch funktionierenden Tränendrüse problemlos dar¬über gleiten. Leider greift die Tränenflüssigkeit die glatte Glasoberfläche an und macht sie porös. Nach bereits ein bis zwei Jahren muss die Augenprothese aus Glas ersetzt wer¬den. Außerdem müssen sie einmal täglich aus der Orbita genommen und gereinigt werden. Es bildet sich Sekret an kleinen Hohlräumen hinter der Glasfläche.

Seit einigen Jahren fertigen die Ocularisten im Stuttgarter Institut auch Prothesen aus Kunststoff an. Das war zunächst nicht ganz einfach, denn der verwendete Kunststoff muss ganz besondere Eigenschaften haben, um als Augenpro¬these zu dienen. Neben einer extrem glatten Oberfläche soll das Material auch eine gute Härte haben. Kratzer und

kleine Beschädigungen wirken sich störend auf die Gleit-fähigkeit der Lider aus, außerdem reizen sie die Innenseite der Lider. Der Vorteil von Augenprothesen aus Kunststoff ist jedoch die lange Haltbarkeit gegenüber Glas. Denn kleinere Blessuren in der Oberfläche lassen sich mehrmals wieder glatt polieren. Außerdem lassen sie sich sehr exakt anpassen. So exakt, dass keine Hohlräume hinter der Pro¬these sind. Das ist möglich durch ein Abdruckverfahren der Orbita. So bildet sich kein Sekret und die Prothese muss nicht täglich entnommen und gereinigt werden.

Bis Ruth Müller-Welt den geeigneten Kunststoff dafür ge¬funden hat, vergingen einige Jahre. In Deutschland ist sie nicht fündig geworden. Ein befreundeter Ocularist aus Texas (USA) gab ihr einen Tipp. So verwendet sie heute einen ka¬nadischen Kunststoff, ähnlich dem PMMA für Kontaktlinsen. Nur dieser Kunststoff hat die richtige Härte und lässt sich so präzise bearbeiten, wie es für die Ocularisten nötig ist.

Verlust des Augapfels geht mit großer seelischer Belastung einher

„Die Menschen, die zu uns kommen, haben sehr oft ähnliche Schicksale erlebt. Meist ist es einer von drei Gründen,

 

 

Wie ein Malkasten: Glasstäbe zur Farbgebung

die eine Prothetik erforderlich machen: Kongenitaler Anopthalmus oder Microphthalmus, ein Unfall (z.B. Arbeits-, Silvester- oder Autounfall), bei dem das Auge zerstört wurde, oder der Verlust des Augapfels durch Krankheiten, wie bei¬spielsweise bei Tumoren. Für die Kosten kommen in der Regel die Krankenkassen auf.,,Aber man spürt, dass auch hier ver¬sucht wird zu sparen: Ab und zu fragen Krankenkassen da¬nach, ob es lediglich um eine kosmetische Indikation gehe. Ich finde das zynisch! Der Patient möchte mit seiner Prothese nicht besser aussehen als ein gesunder Mensch. Es geht da¬rum ihn zu rehabilitieren. Es ist eine rekonstruktive Maßnah¬me. Man kann zwar sein Sehen nicht wiederherstellen, aber es geht darum, dass er wieder zurück in die Gesellschaft fin¬det!", so Ruth Müller-Welt. „Wir haben oft mit schweren Schicksalen zu tun, so gehört es auch zu unserer Arbeit, ein offenes Ohr für unsere Kunden zu haben und mit großem Einfühlungsvermögen vorzugehen!'

In der Baseler Augenklinik ist das Team von Ruth Müller-Welt mehrmals jährlich zu Gast. In einem ca. 25qm großen Raum sitzt Ruth Müller-Welt ihrem Kollegen Thomas Jung an einem Tisch am Fenster gegenüber. Die offene blaue Flamme färbt sich gelb, sobald sie über eine Augenprothe¬se aus Glas streicht. Das Werkzeug und die Materialien er¬innern an eine uralte Tradition. Gemeinsam mit ihnen sitzen mehrere Patienten im Raum. Sie werden Zeuge, wie ihre Prothesen entstehen. Dabei sitzt der jeweilige Patient vor der Werkbank des Ocularisten und die Anpassungen erfol¬gen direkt vor Ort.

An einem Nebentisch liegt eine Pralinenschachtel und da-neben steht ein kleines Blümchen. Auf der beigefügten Karte steht ein großes „Danke" und eine Patientin verab-schiedet sich bei Ruth Müller-Welt mit einer Umarmung. Man kann ahnen, was es für die Patienten bedeutet, wenn sie mit einer Prothese ausgestattet werden.

Hier geht es nicht nur um technische Perfektion und hohe Handwerkskunst. Es geht um Patienten, die nach einem Verlust ihres Auges ihre seelische Balance wiederfinden und die sich mit ihren neuen Augen so identifizieren können, als wären sie ein Stück von ihnen.

 

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