Dienstag, 19. Januar 2016

Japan


Japan

Author D.Selzer-McKenzie

Video: https://youtu.be/UyG_RcBIelE

Nicht nur die altbekannten Touristenattraktionen sind in Japan gern besuchte Orte. Auch viele andere Gebiete sind außergewöhnlich. Genauso wie die Bewohner des Inselstaats.

4         Ichi, ni, san - spätestens nach einer halben Stun¬de kann man das perfekt und sogar noch mehr: ju san, ju yon, ju go, 13, 14, 15. Wer auf Japanisch zählen lernen möchte, muss sich nur eine Zeit lang im Steingarten des Ryöan-ji in Kyoto aufhalten. 15 kleine und größere Felsbrocken liegen im Gar¬ten des Tempels scheinbar zufällig angeordnet in einem Kiesbeet, und weil offensichtlich jeder japa¬nische Besucher überprüfen möchte, ob noch alle da sind, wird laut abgezählt. Es sind dann tatsäch-

 

lich 15, man kann aber immer bloß 14 sehen, egal, wo man steht. Niemand weiß, warum die Steine so arrangiert sind. Ganz Schlaue behaupten gerne, der Erbauer des Gartens habe demonstrieren wol¬len, dass der Mensch niemals alles sehen könne, sondern maximal nur beinahe alles. Nur wer aus den Wolken hinunterblicke, habe den vollen Durchblick. Wahrscheinlich ist deshalb der Ein¬satz von Foto -Drohnen auf dem Gelände verboten. Der Steingarten des Ryöan-ji ist eine Besucherat- Kaffee in Dosen. Zehnstöckige Elektroniksuper-märkte, Maserati-Läden, Frauen, die sich wie Renaissance-Gräfinnen aus Mangas kleiden? Alles da. Aber es gibt eben auch das andere Japan. Das normale. Das alltägliche.

Um das zu entdecken, fährt man am besten Zug. Das machen täglich 400.000 Japaner allein in den Shinkansen-Schnellzügen, besser kann man den Alltag im Land also nicht erleben. Praktisch ist es auch: Japans Züge bringen einen bis in die hinters¬ten Winkel des Inselreiches. Sie klammern sich an Steilküsten, gleiten Berge hinauf und zischen mit 300 Stundenkilometern durch die Reisfelder. Und entgegen aller Gerüchte gibt es sowohl Durchsa¬gen als auch LED-Anzeigen in Englisch. Was es nicht gibt: geänderte Wagenreihungen, defekte Toiletten, unfreundliche Schaffner, verschwunde¬ne Sitzplatzreservierungen, defekte Klimaanlagen, Signalstörungen sowie „Folgende Anschlusszüge können leider nicht erreicht werden"-Durchsagen:

 

sammengebastelt worden ist - das Gebäude wird alle 20 Jahre abgebaut und anschließend neu errichtet). In Nara kann man sich von zahmen Rehen belagern lassen und auf Mikimoto zusehen, wie Austerntaucherinnen nach Perlen suchen. Und im Kiso-Tal kann man auf einer alten Post¬straße aus der Zeit der Samurai wandern.

Steinbuddhas gehören dazu

Wandern? In Japan? Aber klar. Der Pfad vom Bahnhof in Nagiso ist zweisprachig ausgeschildert, verlaufen kann man sich nicht, stattdessen hat man schon nach ein paar hundert Metern das Ge¬fühl, das Land verschlucke einen. Man geht über flache, alte Steinplatten durch Bambushaine und Nadelwälder, die der Wind sanft hin- und her-schaukeln lässt. Anfangs bleibt man ständig ste¬hen, aber irgendwann gehören all die alten Altäre, Steinbuddhas und Markierungssteine wie selbst-

 

rechts oben oder die Sushi-Platte unten links, und kurz darauf bekommt man ein Gericht, dass ex¬akt so aussieht wie sein Plastikgegenstück. Kom¬plizierter wird es dort, wo die shokuhin sampuru fehlen. Zum Beispiel beim Bäcker, wo man sich während seiner Wanderung schnell was für un¬terwegs besorgen möchte. Alles sieht unglaublich lecker aus, birgt allerdings Tücken: Bei japani¬schen Backwaren kann man unmöglich ahnen, was drinnen ist und wonach sie schmecken. Es gibt zum Beispiel köstlich schmeckende Früh¬stücksbrötchen mit milder, feiner Kastanien-cremefüllung. Die sehen aber von außen genauso aus wie die, in denen geschredderter Oktopus steckt oder eine kleine Bockwurst.

Doch, doch, das ist schon so: Vieles hier versteht man auch nach zwei oder drei Wochen noch nicht. Aber muss man das denn überhaupt? Ist es nicht viel schöner, sich bei den Brötchen überraschen zu lassen? Bis zur Abreise darüber nachzugrübeln,

In einem kompletten Fahrplanjahr beträgt die durchschnittliche Verspätung eines Shinkansen exakt sechs Sekunden.

Vor zwei Jahren ein neuer Tempel

Man glaubt gar nicht, was man in zwei Wochen in diesem Land alles reinpacken kann! Tokio, klar, die Übermetropole. Kyoto mit seinen gefühlt 1.017 Tempeln und Schreinen. Hiroshima, das mit sei¬ner Vergangenheit für die Zukunft mahnt. Aber auch die vielen kleineren Bahnhöfe, die man vor einer Reise gar nicht auf dem Schirm hatte. Hime-ji zum Beispiel, noch immer überragt von seiner Burg, und die ist schon über 400 Jahre alt. Ise mit seinem Schrein, dem bedeutendsten ganz Japans, dessen Haupttempel aussieht, als sei er vor zwei Jahren mit Material aus dem Baumarkt zusam¬mengebastelt worden (was daran liegt, dass er vor zwei Jahren mit Material aus dem Baumarkt zu-

 

verständlich dazu. Der erste Ort liegt morgens noch verlassen und verrammelt im Dunst wie die Siedlung in diesem Kurosawa-Film über die Sie¬ben Samurai. Magobe, am Ende der 14 Kilometer langen Strecke, ist dann aber schon von anderen entdeckt worden: Vor der historischen Kulisse der alten Handelshäuser posieren Pauschaltouristen aus China fürs Gruppenfoto. Sie lärmen ziemlich herum und verschwinden anschließend geschlos¬sen zum Lunch.

Übers Essen müssen wir sowieso noch kurz reden: Das ist nämlich eine Herausforderung. Zumindest immer dann, wenn das Restaurant keine shokuhin sampuru im Fenster stehen hat. Das sind Plas-tiknachbauten der echten Gerichte und derart de-tailgetreu modelliert, dass man am liebsten in sie reinbeißen würde. Die shokuhin sampuru sind sehr hilfreich: Wenn man mit der Speisekarte nicht klarkommt, zieht man die Bedienung ein¬fach nach draußen und zeigt auf die Nudelsuppe

 

warum hier alle Frauen laufen, als gingen sie auf Götterspeise? Und was die einem wohl alles erzäh-len, wenn sie einem an der Kasse das Wechselgeld zurückgeben? Warum stecken 50-jährige Ge-schäftsleute ihr 800-Euro-Handy in eine „Hello, Kitty"-Hülle? Und warum halten sich die Frauen verlegen kichernd die Hand vor den Mund, wenn man sie in der Bahn etwas fragt - und lassen Mi-nuten später laut schnarchend den Kopf auf meine Schulter fallen?

Nee, ist schon viel spannender, wenn Japan seine Geheimnisse behalten darf. Wenn es diese Zwie¬bel bleibt, von der Besucher nur die äußersten Schichten lösen können und nie erfahren, was wirklich tief innen steckt. Wenn man höchstens 14 von 15 Steinen sehen kann, einer aber immer verborgen bleibt, so sehr man sich auch an¬streng

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