Japan
Author D.Selzer-McKenzie
Video: https://youtu.be/UyG_RcBIelE
Nicht nur die altbekannten Touristenattraktionen sind in
Japan gern besuchte Orte. Auch viele andere Gebiete sind außergewöhnlich.
Genauso wie die Bewohner des Inselstaats.
4 Ichi, ni, san
- spätestens nach einer halben Stun¬de kann man das perfekt und sogar noch
mehr: ju san, ju yon, ju go, 13, 14, 15. Wer auf Japanisch zählen lernen
möchte, muss sich nur eine Zeit lang im Steingarten des Ryöan-ji in Kyoto
aufhalten. 15 kleine und größere Felsbrocken liegen im Gar¬ten des Tempels scheinbar
zufällig angeordnet in einem Kiesbeet, und weil offensichtlich jeder
japa¬nische Besucher überprüfen möchte, ob noch alle da sind, wird laut
abgezählt. Es sind dann tatsäch-
lich 15, man kann aber immer bloß 14 sehen, egal, wo man
steht. Niemand weiß, warum die Steine so arrangiert sind. Ganz Schlaue
behaupten gerne, der Erbauer des Gartens habe demonstrieren wol¬len, dass der
Mensch niemals alles sehen könne, sondern maximal nur beinahe alles. Nur wer
aus den Wolken hinunterblicke, habe den vollen Durchblick. Wahrscheinlich ist
deshalb der Ein¬satz von Foto -Drohnen auf dem Gelände verboten. Der
Steingarten des Ryöan-ji ist eine Besucherat- Kaffee in Dosen. Zehnstöckige
Elektroniksuper-märkte, Maserati-Läden, Frauen, die sich wie Renaissance-Gräfinnen
aus Mangas kleiden? Alles da. Aber es gibt eben auch das andere Japan. Das
normale. Das alltägliche.
Um das zu entdecken, fährt man am besten Zug. Das machen
täglich 400.000 Japaner allein in den Shinkansen-Schnellzügen, besser kann man
den Alltag im Land also nicht erleben. Praktisch ist es auch: Japans Züge
bringen einen bis in die hinters¬ten Winkel des Inselreiches. Sie klammern sich
an Steilküsten, gleiten Berge hinauf und zischen mit 300 Stundenkilometern
durch die Reisfelder. Und entgegen aller Gerüchte gibt es sowohl Durchsa¬gen
als auch LED-Anzeigen in Englisch. Was es nicht gibt: geänderte Wagenreihungen,
defekte Toiletten, unfreundliche Schaffner, verschwunde¬ne
Sitzplatzreservierungen, defekte Klimaanlagen, Signalstörungen sowie „Folgende
Anschlusszüge können leider nicht erreicht werden"-Durchsagen:
sammengebastelt worden ist - das Gebäude wird alle 20 Jahre
abgebaut und anschließend neu errichtet). In Nara kann man sich von zahmen
Rehen belagern lassen und auf Mikimoto zusehen, wie Austerntaucherinnen nach
Perlen suchen. Und im Kiso-Tal kann man auf einer alten Post¬straße aus der
Zeit der Samurai wandern.
Steinbuddhas gehören dazu
Wandern? In Japan? Aber klar. Der Pfad vom Bahnhof in Nagiso
ist zweisprachig ausgeschildert, verlaufen kann man sich nicht, stattdessen hat
man schon nach ein paar hundert Metern das Ge¬fühl, das Land verschlucke einen.
Man geht über flache, alte Steinplatten durch Bambushaine und Nadelwälder, die
der Wind sanft hin- und her-schaukeln lässt. Anfangs bleibt man ständig
ste¬hen, aber irgendwann gehören all die alten Altäre, Steinbuddhas und
Markierungssteine wie selbst-
rechts oben oder die Sushi-Platte unten links, und kurz
darauf bekommt man ein Gericht, dass ex¬akt so aussieht wie sein Plastikgegenstück.
Kom¬plizierter wird es dort, wo die shokuhin sampuru fehlen. Zum Beispiel beim
Bäcker, wo man sich während seiner Wanderung schnell was für un¬terwegs
besorgen möchte. Alles sieht unglaublich lecker aus, birgt allerdings Tücken:
Bei japani¬schen Backwaren kann man unmöglich ahnen, was drinnen ist und wonach
sie schmecken. Es gibt zum Beispiel köstlich schmeckende Früh¬stücksbrötchen
mit milder, feiner Kastanien-cremefüllung. Die sehen aber von außen genauso aus
wie die, in denen geschredderter Oktopus steckt oder eine kleine Bockwurst.
Doch, doch, das ist schon so: Vieles hier versteht man auch
nach zwei oder drei Wochen noch nicht. Aber muss man das denn überhaupt? Ist es
nicht viel schöner, sich bei den Brötchen überraschen zu lassen? Bis zur Abreise
darüber nachzugrübeln,
In einem kompletten Fahrplanjahr beträgt die
durchschnittliche Verspätung eines Shinkansen exakt sechs Sekunden.
Vor zwei Jahren ein neuer Tempel
Man glaubt gar nicht, was man in zwei Wochen in diesem Land
alles reinpacken kann! Tokio, klar, die Übermetropole. Kyoto mit seinen gefühlt
1.017 Tempeln und Schreinen. Hiroshima, das mit sei¬ner Vergangenheit für die
Zukunft mahnt. Aber auch die vielen kleineren Bahnhöfe, die man vor einer Reise
gar nicht auf dem Schirm hatte. Hime-ji zum Beispiel, noch immer überragt von
seiner Burg, und die ist schon über 400 Jahre alt. Ise mit seinem Schrein, dem
bedeutendsten ganz Japans, dessen Haupttempel aussieht, als sei er vor zwei
Jahren mit Material aus dem Baumarkt zusam¬mengebastelt worden (was daran
liegt, dass er vor zwei Jahren mit Material aus dem Baumarkt zu-
verständlich dazu. Der erste Ort liegt morgens noch
verlassen und verrammelt im Dunst wie die Siedlung in diesem Kurosawa-Film über
die Sie¬ben Samurai. Magobe, am Ende der 14 Kilometer langen Strecke, ist dann
aber schon von anderen entdeckt worden: Vor der historischen Kulisse der alten
Handelshäuser posieren Pauschaltouristen aus China fürs Gruppenfoto. Sie lärmen
ziemlich herum und verschwinden anschließend geschlos¬sen zum Lunch.
Übers Essen müssen wir sowieso noch kurz reden: Das ist
nämlich eine Herausforderung. Zumindest immer dann, wenn das Restaurant keine
shokuhin sampuru im Fenster stehen hat. Das sind Plas-tiknachbauten der echten
Gerichte und derart de-tailgetreu modelliert, dass man am liebsten in sie
reinbeißen würde. Die shokuhin sampuru sind sehr hilfreich: Wenn man mit der
Speisekarte nicht klarkommt, zieht man die Bedienung ein¬fach nach draußen und
zeigt auf die Nudelsuppe
warum hier alle Frauen laufen, als gingen sie auf
Götterspeise? Und was die einem wohl alles erzäh-len, wenn sie einem an der
Kasse das Wechselgeld zurückgeben? Warum stecken 50-jährige Ge-schäftsleute ihr
800-Euro-Handy in eine „Hello, Kitty"-Hülle? Und warum halten sich die
Frauen verlegen kichernd die Hand vor den Mund, wenn man sie in der Bahn etwas
fragt - und lassen Mi-nuten später laut schnarchend den Kopf auf meine Schulter
fallen?
Nee, ist schon viel spannender, wenn Japan seine Geheimnisse
behalten darf. Wenn es diese Zwie¬bel bleibt, von der Besucher nur die
äußersten Schichten lösen können und nie erfahren, was wirklich tief innen
steckt. Wenn man höchstens 14 von 15 Steinen sehen kann, einer aber immer
verborgen bleibt, so sehr man sich auch an¬streng
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