Watzmann, Reiteralm und Ramsauer Ache
Author D.Selzer-McKenzie
Video: https://youtu.be/rmw_p1wCXz8
Watzmann, Hochkalter, Reiteralm — und darunter, im Tal der
Ramsauer Ache, das erste offizielle „Bergsteigerdorf" in Deutschland: So
sieht nachhaltiger Tourismus im Sinne der Alpenkonvention aus.
A
m 16. September 2015 bläst der Föhn warm über das
,Wachterl", den Sattel der Schwarzbach-wacht zwischen Reiteralm und
Lattengebirge, und man reibt sich die Au¬gen. Weil man sich hier oben, hinter
dem kleinen Taubensee, bei schönem Wetter eigentlich immer die Augen reibt.
Watz-mann und Hochkalter ragen in den Him¬mel, die klare Luft offenbart die
Textur der Felsmassen und den grünen Pelz der Baumwipfel darunter in beinahe
schmerz¬hafter Detailschärfe. Vorbei an „Leben" und „Häusln" geht es
auf der Alten Rei-chenhaller Straße hinab ins Dorf Ramsau und zum Festakt im
feinen Hotel Rehlegg. Zwei bayerische Ministerinnen sind ge¬kommen, um Ramsau
in den Stand des ersten deutschen Bergsteigerdorfs (siehe Kasten S. 86) zu
erheben.
Ulrike Scharf, Staatsministerin für Um¬welt und
Verbraucherschutz, sagt, sie freue
sich über die Auszeichnung. „Ramsau ist damit Pionier und
Vorbild", Bergstei-gerdörfer könnten einen großartigen Bei¬trag zu einer
nachhaltigen Entwicklung der Alpen leisten: „Unser Ziel ist, sanften Tourismus
als Motor der Regionalent¬wicklung in Bayern weiter auszubauen. Eine
erfolgreiche Ausweitung des Pro¬jekts Bergsteigerdorf auf weitere bayeri¬sche
Alpendörfer ist von umweltpoliti¬schem Interesse:`
Scharfs Amtskollegin Ilse Aigner lobt die „Win-win-Situation",
denn von den Bergsteigerdörfern profitierten alle: Gäste, Wirtschaft und Natur.
Die Wirtschaftsmi¬nisterin blickt in lächelnde Gesichter, als sie von ihrer
Suchanfrage bei einem Tou¬renportal im Internet berichtet: ‚Wande¬rungen in
Ramsau?" Jede Menge Treffer! Am Ende dankt Aigner den Verantwortli¬chen
beim DAV: ,,Sie haben nicht nachge¬lassen, für dieses Projekt zu werben. Und
jetzt sind Sie am Ziel. Die Marke Bergstei¬gerdorf steht für
nachhaltigen Tourismus. Sie ist sozusagen ein Synonym dafür und in Bayern
herzlich willkommen."
Markus Reiterer, Generalsekretär der Alpenkonvention, tritt
nach den Ministe¬rinnen ans Pult und bemerkt mit Blick auf
Bergsteigerdörfer geben der
schwer zu fassenden Alpenkon-
vention ein attraktives Gesicht.
die beiden Politikerinnen vor ihm: Wie schön, dass
Umweltschutz und Wirt-schaft so eng nebeneinander sitzen!" So soll das
schließlich sein in der Alpen-konvention. Bergsteigerdörfer geben dem
sperrigen, schwer zu fassenden Vertrags¬werk ein attraktives Gesicht. Reiterer
freut sich nicht nur über das Anbandeln von Ökonomie und Ökologie, sondern auch
über ein neues Kapitel deutsch-österrei¬chischer Nachbarschaft: „Dass man sich
über die Ländergrenzen hinweg verstän¬digt, bringt eine neue Qualität ins
Konzept Bergsteigerdörfer: Symbolische Vorarbeit dazu leistete seit 2005
bereits der Alm-erlebnisbus: Er verbindet Hintersee über den Hirschbichlpass
mit dem benach¬barten österreichischen Bergsteigerdorf Weißbach im Salzburger
Saalachtal.
Wie jeder der bisher 20 österreichi-schen Orte im Portfolio
hat nun auch das erste deutsche Bergsteigerdorf eine eige¬ne, 52 Seiten starke
Broschüre bekom¬men. Herausgeber ist der DAV, der auch gleich noch eine ganz
neue Alpenver-einskarte im Maßstab 1:25.000 nachreicht. Einen wichtigen
Unterschied gibt es aber doch. Dr. Tobias Hipp, der Projektleiter
Bergsteigerdörfer beim DAV, erklärt: „In
Österreich hat man den Aspekt der Wirt-schaftsförderung
betont, da wollte man bewusst kleinen Gemeinden helfen: Ein Rettungsschirm für
Dörfer in Schwierig¬keiten? Den haben die 1800 Ramsauer nicht nötig. Der
hiesige Tourismus ist ohne Frage fein; klein ist er mit gut 330.000
Was ein Bergsteigerdorf
vor allem braucht, ist „Relief-
energie" — je mehr, desto besser.
Übernachtungen im Jahr (Stand 2014) al¬lerdings nicht.
Darüber hinaus bieten Handwerksbetriebe, Metallverarb eiter und Zulieferer
Alternativen auf dem Ar¬beitsmarkt. Pendler haben es nicht sehr weit zum
Industriedreieck zwischen Pi-ding, Freilassing und Salzburg.
Was ein Bergsteigerdorf vor allem braucht, ist
„Reliefenergie" - je mehr, des¬to besser. Der Unterschied zwischen dem
niedrigsten und dem höchsten Punkt im Gemeindegebiet muss mindestens 1000 Meter
betragen. Ramsau bietet zwischen der Wimbachbrücke (630 m), der
kalen-derbildschönen Pfarrkirche St. Sebastian (670 m) und dem
Watzmann-Mittelgipfel (2713 m) mehr als das Doppelte. Der Watzmann ist der
dickste Posten im alpi¬nen Naturinventar - zusammen mit dem Nationalpark
Berchtesgaden, zu dem auch das fantastische Wimbachtal, der urtümliche
Hochkalterstock mit dem Hochkalter (2607 m) und das Klaus-bachtal mit dem
blauen Hintersee und der steil darüber aufragenden Felskulisse der Reiteralm -
höchster Gipfel das Sta-delhorn (2286 m) - gehören. Willkommen in einer der
schönsten Berglandschaften der Nordalpen! Dass der Gemeinderat
1972 eine Seilbahn auf den Watzmann für
"lebenswichtig" erachtete, ist heute eine belächelte Anekdote. Die
Seilbahn kam nicht, dafür sechs Jahre später der erste und einzige
Alpen-Nationalpark Deutsch¬lands. Er umfasst 210 Quadratkilometer, mehr als 82
Prozent der Gemeindefläche. Nördlich schließt sich das rund 259 Qua¬dratkilometer
große Nationalparkvorfeld an, der Alpenpark Berchtesgaden; beide gehen im 467
Quadratkilometer großen Biosphärenreservat Berchtesgaden auf.
Auch das historische Erbe kann sich se¬hen lassen. Im
Schlüsseljahr 1870 erschie¬nen zwei für die europäische Geschichte wegweisende
Dokumente: in Berlin die Emser Depesche, die den deutsch-franzö¬sischen Krieg
und, im Jahr darauf, die Gründung des Deutschen Reiches zur Folge hatte; und in
Berchtesgaden die ers¬te Bergführerverordnung. Johann Grill er¬
hielt die Ernennung zum ersten autori-sierten
„deutschen" Bergführer. 1881 ge¬lang dem „Kederbacher" (weil er auf
dem Kederbacher-Lehen in Ramsau zu Hause war) die erste Durchsteigung der
Watz-mann-Ostwand. Sein Denkmal vor dem Haus des Gastes am Ortseingang von
Ramsaubekam er aber erst 1981. Sehr gern erinnert man auch an den gebürtigen
Innsbrucker und Wahl-Ramsauer Her¬mann Buhl, der sich in eine Tochter des
Dorfes verguckt hatte. 1951 heiratete er seine Eugenie („Generl"), geb.
Högerle; zwei Jahre später glückte ihm die zur Le¬gende gewordene
Erstbesteigung des Nan-ga Parbat, 1957 stürzte er an der Chogolisa im Karakorum
in den Tod.
Die im Kriterienkatalog für Bergstei-gerdörfer geforderte
„alpine Kompetenz" reicht jedenfalls bis in die Gegenwart: Elf Bergführer
sind in Ramsau gemeldet,
damit rühmt sich das Dorf der "größten
Bergführerdichte" in Deutschland.
Das schönste Nationalpark-Panorama erschließen die
waldig-grünen Höhen nördlich über der Ramsauer Ache, zwi¬schen ,»Vachterl"
und Bischofswiesen.
Elf Bergführer sind in Ramsau
gemeldet - die größte „B.erg-
führerdichte" in Deutschland.
Hier herauf begibt sich die Festgesell-schaft nach den
protokollarischen Feier¬lichkeiten am 16. September 2015. Ziel der Wanderung
ist die entzückende klei¬ne Bezoldhütte auf dem Toten Mann (1390 m). Die Musik
spielt, das Bier wird frisch gezapft, es gibt Brotzeitplatten und Gamsgulasch
mit Knödeln. Zur Bergku-lisse liefern die lokalen Mandatsträger den überaus
malerischen Vordergrund. Das hiesige Mannsbild macht in seinem Dresscode
zwischen Business, Smart Ca-sual und „Come as you are" keinen Unter¬schied
und verkörpert in jeder Lage die Ramsauer Variante des berühmten Sat¬zes von
Loriot: Ein Leben ohne Lederho¬sen ist möglich, aber sinnlos.
Tourismuschef Fritz Rasp kombiniert die kurze Hirschlederne
mit einem Stroh¬hut. Er wirkt so entspannt wie ein Mann, der nach zwei Jahren
Arbeit endlich am Ziel ist. Rasp erinnert sich an den vollen Saal bei der
großen Bürgerversammlung im Frühjahr 2014 und an die entscheiden¬de
Gemeinderatssitzung: 13:0 Stimmen für das Bergsteigerdorf! Dass es so gekommen
war, lag am Alpenverein, der nimmermüde Auskunft erteilt hatte, an unzähligen
Infor-mationsveranstaltungen und Gesprächen mit allen Gruppen im Ort und an den
fünf-bis sechsstündigen Workshops des berg-dorfnarrischen Bürgermeisters
Herbert Gschoßmann. Rasp lacht: ‚Vier Stunden waren schon hart!" Schon vor
der Unter-
zeichnung der Urkunde war das Bergstei¬gerdorf ein voller
Erfolg. „Die Leute sind durch die umfassende Kommunikation eng
zusammengewachsen", erklärt Rasp.
Aber wie unterscheidet sich denn nun das frühere Dorf vom
neuen Bergsteiger¬dorf? Rasp zuckt mit den Achseln. Ei¬gentlich gar nicht -
warum auch? "Alles bleibt anders" heißt das inoffizielle Motto. Gut,
das Thema E-Mobilität wird eine größere Rolle spielen, denn ohne Elektro-radl
geht nichts mehr im zeitgenössi¬schen Tourismus. Echte Ramsauer brau¬chen so
was natürlich nicht, die stehen gewissermaßen von Natur aus unter Strom. „Wer
im Winter keine drei Skitou¬ren in der Woche macht", sagt Rasp, „zu dem
kommt der Nachbar, um nach dem Rechten zu schauen': Die soziale Kontrol¬le
funktioniert. Die Berglandschaft ist eh unschlagbar, und die Infrastruktur, die
sie den Einheimischen und ihren Gästen er¬schließt, bedarfkeiner modischen
Upgra-des. An den schroffen Gipfeln findet man Wege und Routen für viele
Urlaube. Dar¬unter gibt es schön gelegene Almen und einen Almerlebnisweg, der
sie verbindet. Zusätzlich bietet die Nationalparkver-waltung ein attraktives
Wander- und Ver¬anstaltungsprogramm. Das Wegenetz ist dicht und gut gepflegt.
Und nicht zuletzt sind da die Berggasthäuser und alpinen Schutzhütten - alle in
großartiger Lage erbaut und auf schönen Wegen zu errei-chen: das Watzmannhaus
auf dem Falz¬kopf, die Blaueishütte mit ihrem berühm¬ten Kuchenbuffet, die Neue
Traunsteiner Hütte auf der Reiteralpe und die Wim-bachgrieshütte, in der
Watzmann-Be-zwinger das Trauma des Abstiegs von der Südspitze mit dem ersten
Weißbier kurie¬ren können.
Erlaubt das Wetter keine hohen Tou-ren, fährt man wenige
Kilometer hinüber nach Berchtesgaden mit dem Schloss, dem Haus der Berge, der
Watzmann-Ther-me und dem Salzbergwerk, nach Bad Rei-chenhall mit der alten
Saline und der mo¬dernen Rupertus-Therme - oder gleich zum großen Kulturgipfel
über die Grenze nach Salzburg.
„Im Sommer brauchen wir wirklich nicht mehr
Übernachtungen", sagt der Tourismuschef, „aber im Winter geht noch was:'
Etwa ein Viertel des Umsatzes macht Ramsau in der kalten Jahreszeit.
Skibergsteiger schwärmen von den Ski¬touren am Watzmann (Gugl und
Watz-manngrube), vor allem aber am Hoch-kalterstock (Hochalm, Blaueis, Ofental,
Steintal, Sittersbachtal, Hintereis, Vorder-berghörndl) - grandiose Routen, die
tech¬nisch und konditionell aber teilweise sehr anspruchsvoll sind und sichere
Verhält¬nisse verlangen. Jetzt sollen in Zusam¬menarbeit mit dem Alpenverein
verstärkt zahmere Angebote wie Schneeschuhtou-ren oder Winterwanderwege
entwickelt oder ausgebaut werden.
Zurück zu den Übernachtungen: Hier besteht noch eine gewisse
Unwucht. Der Leitbetrieb, das Hotel Rehlegg, steht mit seiner geballten
Öko-Luxus-Power, mit Solarthermie, Fotovoltaik, Blockheiz¬kraftwerk, Bio-Küche
und dem Tesla von Hotelchef Lichtmanegger ziemlich ein¬sam an der Spitze. Doch
nicht alle Berg¬steiger buchen ja eine Vier-Sterne-Supe-rior-Suite. Es gibt im
Ort noch viele kleine Betriebe mit weniger als zehn Betten. Touristiker rümpfen
über so etwas heute schnell die Nase. Für Fritz Rasp ist das ge¬nerell kein
Problem: ,Wer seine Betten für zwanzig Euro anbietet, mit dem reden wir aber
schon. Ob er nicht vielleicht doch mal renovieren und ausbauen möchte:`
Ramsau REPORTAGE
Die Gretchenfrage - Wie hast du's mit der Nachhaltigkeit? -
richtet sich in je¬dem Fall nicht nur an Einheimische, son¬dern auch an ihre
Besucher. Die Anfahrt mit „Öffis" ist umständlich und zeitauf¬wändig. Von
München ist man zwischen drei und vier Stunden unterwegs: zuerst mit dem
Railjet nach Salzburg (aktuelle Verbindungen prüfen), dann mit dem Bus
Für Öffi-Nutzer sind die Berge
ferner, die Anfahrt ins Berg-
steigerdorf wird zur Reise.
840 nach Berchtesgaden, wo man An-schluss an den Bus 846
nach Ramsau und Hintersee hat. Oder man nimmt (mit dem günstigen Bayern-Ticket
für den Regional¬verkehr, das an Wochentagen leider erst ab 9 Uhr gilt) den
Meridian nach Freilas-sing, steigt dort in die Berchtesgadener Land Bahn BLB
nach Berchtesgaden um und dann in den Bus 846. Wer am Wochen¬ende mit dem
ersten Zug um 5.44 Uhr in München losfährt, ist um 9.30 Uhr in Ramsau. Das ist
zu spät für große Tages¬touren und schnellen Konsum. Was nicht schlecht sein
muss. Für Öffi-Nutzer sind die Berge ferner und gewissermaßen grö¬ßer, die
Anfahrt ins Bergsteigerdorf wird zur Reise. Und damit sich der Aufwand lohnt,
planen sie am besten mehrere Tou¬ren ein und die entsprechende Zahl von
Übernachtungen. Bergurlaub „dahoam" hat wieder Zukunft.
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