Mittwoch, 20. Januar 2016

Watzmann, Reiteralm und Ramsauer Ache


Watzmann, Reiteralm und Ramsauer Ache

Author D.Selzer-McKenzie

Video: https://youtu.be/rmw_p1wCXz8

Watzmann, Hochkalter, Reiteralm — und darunter, im Tal der Ramsauer Ache, das erste offizielle „Bergsteigerdorf" in Deutschland: So sieht nachhaltiger Tourismus im Sinne der Alpenkonvention aus.

 

A

m 16. September 2015 bläst der Föhn warm über das ,Wachterl", den Sattel der Schwarzbach-wacht zwischen Reiteralm und Lattengebirge, und man reibt sich die Au¬gen. Weil man sich hier oben, hinter dem kleinen Taubensee, bei schönem Wetter eigentlich immer die Augen reibt. Watz-mann und Hochkalter ragen in den Him¬mel, die klare Luft offenbart die Textur der Felsmassen und den grünen Pelz der Baumwipfel darunter in beinahe schmerz¬hafter Detailschärfe. Vorbei an „Leben" und „Häusln" geht es auf der Alten Rei-chenhaller Straße hinab ins Dorf Ramsau und zum Festakt im feinen Hotel Rehlegg. Zwei bayerische Ministerinnen sind ge¬kommen, um Ramsau in den Stand des ersten deutschen Bergsteigerdorfs (siehe Kasten S. 86) zu erheben.

Ulrike Scharf, Staatsministerin für Um¬welt und Verbraucherschutz, sagt, sie freue

 

sich über die Auszeichnung. „Ramsau ist damit Pionier und Vorbild", Bergstei-gerdörfer könnten einen großartigen Bei¬trag zu einer nachhaltigen Entwicklung der Alpen leisten: „Unser Ziel ist, sanften Tourismus als Motor der Regionalent¬wicklung in Bayern weiter auszubauen. Eine erfolgreiche Ausweitung des Pro¬jekts Bergsteigerdorf auf weitere bayeri¬sche Alpendörfer ist von umweltpoliti¬schem Interesse:`

Scharfs Amtskollegin Ilse Aigner lobt die „Win-win-Situation", denn von den Bergsteigerdörfern profitierten alle: Gäste, Wirtschaft und Natur. Die Wirtschaftsmi¬nisterin blickt in lächelnde Gesichter, als sie von ihrer Suchanfrage bei einem Tou¬renportal im Internet berichtet: ‚Wande¬rungen in Ramsau?" Jede Menge Treffer! Am Ende dankt Aigner den Verantwortli¬chen beim DAV: ,,Sie haben nicht nachge¬lassen, für dieses Projekt zu werben. Und

 

jetzt sind Sie am Ziel. Die Marke Bergstei¬gerdorf steht für nachhaltigen Tourismus. Sie ist sozusagen ein Synonym dafür und in Bayern herzlich willkommen."

Markus Reiterer, Generalsekretär der Alpenkonvention, tritt nach den Ministe¬rinnen ans Pult und bemerkt mit Blick auf

Bergsteigerdörfer geben der

schwer zu fassenden Alpenkon-

vention ein attraktives Gesicht.

die beiden Politikerinnen vor ihm: Wie schön, dass Umweltschutz und Wirt-schaft so eng nebeneinander sitzen!" So soll das schließlich sein in der Alpen-konvention. Bergsteigerdörfer geben dem sperrigen, schwer zu fassenden Vertrags¬werk ein attraktives Gesicht. Reiterer freut sich nicht nur über das Anbandeln von Ökonomie und Ökologie, sondern auch über ein neues Kapitel deutsch-österrei¬chischer Nachbarschaft: „Dass man sich über die Ländergrenzen hinweg verstän¬digt, bringt eine neue Qualität ins Konzept Bergsteigerdörfer: Symbolische Vorarbeit dazu leistete seit 2005 bereits der Alm-erlebnisbus: Er verbindet Hintersee über den Hirschbichlpass mit dem benach¬barten österreichischen Bergsteigerdorf Weißbach im Salzburger Saalachtal.

Wie jeder der bisher 20 österreichi-schen Orte im Portfolio hat nun auch das erste deutsche Bergsteigerdorf eine eige¬ne, 52 Seiten starke Broschüre bekom¬men. Herausgeber ist der DAV, der auch gleich noch eine ganz neue Alpenver-einskarte im Maßstab 1:25.000 nachreicht. Einen wichtigen Unterschied gibt es aber doch. Dr. Tobias Hipp, der Projektleiter Bergsteigerdörfer beim DAV, erklärt: „In

 

Österreich hat man den Aspekt der Wirt-schaftsförderung betont, da wollte man bewusst kleinen Gemeinden helfen: Ein Rettungsschirm für Dörfer in Schwierig¬keiten? Den haben die 1800 Ramsauer nicht nötig. Der hiesige Tourismus ist ohne Frage fein; klein ist er mit gut 330.000

Was ein Bergsteigerdorf

vor allem braucht, ist „Relief-

energie" — je mehr, desto besser.

Übernachtungen im Jahr (Stand 2014) al¬lerdings nicht. Darüber hinaus bieten Handwerksbetriebe, Metallverarb eiter und Zulieferer Alternativen auf dem Ar¬beitsmarkt. Pendler haben es nicht sehr weit zum Industriedreieck zwischen Pi-ding, Freilassing und Salzburg.

 

Was ein Bergsteigerdorf vor allem braucht, ist „Reliefenergie" - je mehr, des¬to besser. Der Unterschied zwischen dem niedrigsten und dem höchsten Punkt im Gemeindegebiet muss mindestens 1000 Meter betragen. Ramsau bietet zwischen der Wimbachbrücke (630 m), der kalen-derbildschönen Pfarrkirche St. Sebastian (670 m) und dem Watzmann-Mittelgipfel (2713 m) mehr als das Doppelte. Der Watzmann ist der dickste Posten im alpi¬nen Naturinventar - zusammen mit dem Nationalpark Berchtesgaden, zu dem auch das fantastische Wimbachtal, der urtümliche Hochkalterstock mit dem Hochkalter (2607 m) und das Klaus-bachtal mit dem blauen Hintersee und der steil darüber aufragenden Felskulisse der Reiteralm - höchster Gipfel das Sta-delhorn (2286 m) - gehören. Willkommen in einer der schönsten Berglandschaften der Nordalpen! Dass der Gemeinderat

1972 eine Seilbahn auf den Watzmann für "lebenswichtig" erachtete, ist heute eine belächelte Anekdote. Die Seilbahn kam nicht, dafür sechs Jahre später der erste und einzige Alpen-Nationalpark Deutsch¬lands. Er umfasst 210 Quadratkilometer, mehr als 82 Prozent der Gemeindefläche. Nördlich schließt sich das rund 259 Qua¬dratkilometer große Nationalparkvorfeld an, der Alpenpark Berchtesgaden; beide gehen im 467 Quadratkilometer großen Biosphärenreservat Berchtesgaden auf.

Auch das historische Erbe kann sich se¬hen lassen. Im Schlüsseljahr 1870 erschie¬nen zwei für die europäische Geschichte wegweisende Dokumente: in Berlin die Emser Depesche, die den deutsch-franzö¬sischen Krieg und, im Jahr darauf, die Gründung des Deutschen Reiches zur Folge hatte; und in Berchtesgaden die ers¬te Bergführerverordnung. Johann Grill er¬

 

hielt die Ernennung zum ersten autori-sierten „deutschen" Bergführer. 1881 ge¬lang dem „Kederbacher" (weil er auf dem Kederbacher-Lehen in Ramsau zu Hause war) die erste Durchsteigung der Watz-mann-Ostwand. Sein Denkmal vor dem Haus des Gastes am Ortseingang von Ramsaubekam er aber erst 1981. Sehr gern erinnert man auch an den gebürtigen Innsbrucker und Wahl-Ramsauer Her¬mann Buhl, der sich in eine Tochter des Dorfes verguckt hatte. 1951 heiratete er seine Eugenie („Generl"), geb. Högerle; zwei Jahre später glückte ihm die zur Le¬gende gewordene Erstbesteigung des Nan-ga Parbat, 1957 stürzte er an der Chogolisa im Karakorum in den Tod.

Die im Kriterienkatalog für Bergstei-gerdörfer geforderte „alpine Kompetenz" reicht jedenfalls bis in die Gegenwart: Elf Bergführer sind in Ramsau gemeldet,

 

damit rühmt sich das Dorf der "größten Bergführerdichte" in Deutschland.

Das schönste Nationalpark-Panorama erschließen die waldig-grünen Höhen nördlich über der Ramsauer Ache, zwi¬schen ,»Vachterl" und Bischofswiesen.

Elf Bergführer sind in Ramsau

gemeldet - die größte „B.erg-

führerdichte" in Deutschland.

Hier herauf begibt sich die Festgesell-schaft nach den protokollarischen Feier¬lichkeiten am 16. September 2015. Ziel der Wanderung ist die entzückende klei¬ne Bezoldhütte auf dem Toten Mann (1390 m). Die Musik spielt, das Bier wird frisch gezapft, es gibt Brotzeitplatten und Gamsgulasch mit Knödeln. Zur Bergku-lisse liefern die lokalen Mandatsträger den überaus malerischen Vordergrund. Das hiesige Mannsbild macht in seinem Dresscode zwischen Business, Smart Ca-sual und „Come as you are" keinen Unter¬schied und verkörpert in jeder Lage die Ramsauer Variante des berühmten Sat¬zes von Loriot: Ein Leben ohne Lederho¬sen ist möglich, aber sinnlos.

Tourismuschef Fritz Rasp kombiniert die kurze Hirschlederne mit einem Stroh¬hut. Er wirkt so entspannt wie ein Mann, der nach zwei Jahren Arbeit endlich am Ziel ist. Rasp erinnert sich an den vollen Saal bei der großen Bürgerversammlung im Frühjahr 2014 und an die entscheiden¬de Gemeinderatssitzung: 13:0 Stimmen für das Bergsteigerdorf! Dass es so gekommen war, lag am Alpenverein, der nimmermüde Auskunft erteilt hatte, an unzähligen Infor-mationsveranstaltungen und Gesprächen mit allen Gruppen im Ort und an den fünf-bis sechsstündigen Workshops des berg-dorfnarrischen Bürgermeisters Herbert Gschoßmann. Rasp lacht: ‚Vier Stunden waren schon hart!" Schon vor der Unter-

 

zeichnung der Urkunde war das Bergstei¬gerdorf ein voller Erfolg. „Die Leute sind durch die umfassende Kommunikation eng zusammengewachsen", erklärt Rasp.

Aber wie unterscheidet sich denn nun das frühere Dorf vom neuen Bergsteiger¬dorf? Rasp zuckt mit den Achseln. Ei¬gentlich gar nicht - warum auch? "Alles bleibt anders" heißt das inoffizielle Motto. Gut, das Thema E-Mobilität wird eine größere Rolle spielen, denn ohne Elektro-radl geht nichts mehr im zeitgenössi¬schen Tourismus. Echte Ramsauer brau¬chen so was natürlich nicht, die stehen gewissermaßen von Natur aus unter Strom. „Wer im Winter keine drei Skitou¬ren in der Woche macht", sagt Rasp, „zu dem kommt der Nachbar, um nach dem Rechten zu schauen': Die soziale Kontrol¬le funktioniert. Die Berglandschaft ist eh unschlagbar, und die Infrastruktur, die sie den Einheimischen und ihren Gästen er¬schließt, bedarfkeiner modischen Upgra-des. An den schroffen Gipfeln findet man Wege und Routen für viele Urlaube. Dar¬unter gibt es schön gelegene Almen und einen Almerlebnisweg, der sie verbindet. Zusätzlich bietet die Nationalparkver-waltung ein attraktives Wander- und Ver¬anstaltungsprogramm. Das Wegenetz ist dicht und gut gepflegt. Und nicht zuletzt sind da die Berggasthäuser und alpinen Schutzhütten - alle in großartiger Lage erbaut und auf schönen Wegen zu errei-chen: das Watzmannhaus auf dem Falz¬kopf, die Blaueishütte mit ihrem berühm¬ten Kuchenbuffet, die Neue Traunsteiner Hütte auf der Reiteralpe und die Wim-bachgrieshütte, in der Watzmann-Be-zwinger das Trauma des Abstiegs von der Südspitze mit dem ersten Weißbier kurie¬ren können.

Erlaubt das Wetter keine hohen Tou-ren, fährt man wenige Kilometer hinüber nach Berchtesgaden mit dem Schloss, dem Haus der Berge, der Watzmann-Ther-me und dem Salzbergwerk, nach Bad Rei-chenhall mit der alten Saline und der mo¬dernen Rupertus-Therme - oder gleich zum großen Kulturgipfel über die Grenze nach Salzburg.

„Im Sommer brauchen wir wirklich nicht mehr Übernachtungen", sagt der Tourismuschef, „aber im Winter geht noch was:' Etwa ein Viertel des Umsatzes macht Ramsau in der kalten Jahreszeit. Skibergsteiger schwärmen von den Ski¬touren am Watzmann (Gugl und Watz-manngrube), vor allem aber am Hoch-kalterstock (Hochalm, Blaueis, Ofental, Steintal, Sittersbachtal, Hintereis, Vorder-berghörndl) - grandiose Routen, die tech¬nisch und konditionell aber teilweise sehr anspruchsvoll sind und sichere Verhält¬nisse verlangen. Jetzt sollen in Zusam¬menarbeit mit dem Alpenverein verstärkt zahmere Angebote wie Schneeschuhtou-ren oder Winterwanderwege entwickelt oder ausgebaut werden.

Zurück zu den Übernachtungen: Hier besteht noch eine gewisse Unwucht. Der Leitbetrieb, das Hotel Rehlegg, steht mit seiner geballten Öko-Luxus-Power, mit Solarthermie, Fotovoltaik, Blockheiz¬kraftwerk, Bio-Küche und dem Tesla von Hotelchef Lichtmanegger ziemlich ein¬sam an der Spitze. Doch nicht alle Berg¬steiger buchen ja eine Vier-Sterne-Supe-rior-Suite. Es gibt im Ort noch viele kleine Betriebe mit weniger als zehn Betten. Touristiker rümpfen über so etwas heute schnell die Nase. Für Fritz Rasp ist das ge¬nerell kein Problem: ,Wer seine Betten für zwanzig Euro anbietet, mit dem reden wir aber schon. Ob er nicht vielleicht doch mal renovieren und ausbauen möchte:`

 

Ramsau REPORTAGE

Die Gretchenfrage - Wie hast du's mit der Nachhaltigkeit? - richtet sich in je¬dem Fall nicht nur an Einheimische, son¬dern auch an ihre Besucher. Die Anfahrt mit „Öffis" ist umständlich und zeitauf¬wändig. Von München ist man zwischen drei und vier Stunden unterwegs: zuerst mit dem Railjet nach Salzburg (aktuelle Verbindungen prüfen), dann mit dem Bus

Für Öffi-Nutzer sind die Berge

ferner, die Anfahrt ins Berg-

steigerdorf wird zur Reise.

840 nach Berchtesgaden, wo man An-schluss an den Bus 846 nach Ramsau und Hintersee hat. Oder man nimmt (mit dem günstigen Bayern-Ticket für den Regional¬verkehr, das an Wochentagen leider erst ab 9 Uhr gilt) den Meridian nach Freilas-sing, steigt dort in die Berchtesgadener Land Bahn BLB nach Berchtesgaden um und dann in den Bus 846. Wer am Wochen¬ende mit dem ersten Zug um 5.44 Uhr in München losfährt, ist um 9.30 Uhr in Ramsau. Das ist zu spät für große Tages¬touren und schnellen Konsum. Was nicht schlecht sein muss. Für Öffi-Nutzer sind die Berge ferner und gewissermaßen grö¬ßer, die Anfahrt ins Bergsteigerdorf wird zur Reise. Und damit sich der Aufwand lohnt, planen sie am besten mehrere Tou¬ren ein und die entsprechende Zahl von Übernachtungen. Bergurlaub „dahoam" hat wieder Zukunft.

 

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