Winterreise durch Island
Author D.Selzer-McKenzie
Video: https://youtu.be/xZY02TVt3Qw
Die Insel im hohen Norden Europas hat nicht nur ihre
Eiseskälte zu bieten. Was keiner erwartet: Hier steppt der Bär trotz
Minusgraden und wenig Licht im Winter.
Im Winter nach Island? Hast du sie noch alle? Da frierst du
dir nur den Hintern ab und außer¬dem ist es doch dauernd finster." Oh je,
all die Unkenrufe aus meinem Freundeskreis scheinen sich schon auf den ersten
Kilometern zu bestäti¬gen. Bei der Landung in Keflavik war der Him¬mel
wenigstens noch bleigrau. Doch schon lastet auf der nahen Hauptstadt Reykjavik
eine Wolke so schwarz wie eine Tarantel. Apokalyptische Böen peitschen über gentropfen
klatschen nach waagrechtem Flug lautstark auf die Frontscheibe. Doch
urplötzlich, als würde der Donnergott Thor höchstpersönlich mit seinem
Streithammer auf das Firmament ein¬prügeln, löst sich der Spuk auf. Schwarz
weicht lila, betonfarbene Wolken verflüchtigen sich im Zeitraffer, hinterlassen
intensives Stahlblau.
Direkt an der Saebraut, der Straße am Meer, ar¬beite ich
mich mit eingezogenen Schultern und hochgeschlagenem Kragen gegen einen fiesen Wind
hoch zur berühmten Hallgrimskirche. V er Kirche thront Leifur Eriksson auf
einem s lisierten Schiffsbug. Hand am Schwert, den Bli in die Ferne gerichtet,
so segelte der Entdeck schon um das Jahr 1000 nach Nordamerik
Trotz hoher Preise knallen die Korken
Von der Kirche führt die Skolavördustigur ber ab in ein
wahres Bermuda-Dreieck aus schicke und schrägen Ca&s, Kneipen und
Designershop Schon am frühen Abend klackern die ersten Highheels über das
Kopfsteinpflaster. Der Da¬menwelt scheint die Temperatur schnurz zu sein. Kurze
Röckchen und Abendgarderobe — von we¬gen Daunenjacken und Moonboots. Heute ist
Freitag und dann steppt in Reykjavik der Bär. Vorbei am „Harpa", dem neuen
vollverglasten und variabel illuminierbaren Kulturzentrum am Hafen, laufe ich
zurück zum Hotel Marina. In der hauseigenen Slippbarinn kesselt es immer noch.
Kaum habe ich mich für einen Absacker entschieden, hakt sich auch schon eine
Schöne der Nacht unter. „Wo bist du her, komm setz dich zu uns." Direkt
nach dieser Verhaftung werden die Gläser gefüllt. Von wegen frostiger Außen¬posten
am Polarkreis. Die Preise für Alkohol schrammen zwar an der Schmerzgrenze, aber
von der Finanzkrise merke ich hier nichts, so wie die Mädels hier die Korken
knallen lassen. Island hat den Bankenkollaps unkonventionell und ohne Gejammer
verarbeitet. Die Regierung wurde ab-gesetzt, korrupte Banker kurzerhand
eingesperrt.
Der TV-Komiker und Ex-Punk Jon Gnarr wurde zum Bürgermeister
gewählt. Seither schart er ein Kabinett aus Rockmusikern und Künstlern um sich.
Und siehe da, es geht bergauf in Island.
BHs schmücken Zaunpfosten
Auf der Ringroad Nummer 1, der Hauptverkehrs-ader Islands,
tingle ich tags darauf die Südküste entlang. Nach dem Speckgürtel der
Hauptstadt eröffnet sich schlagartig die Wildnis Islands. Auf ganz Island leben
nur ca. 325.000 Leute, davon alleine 60 Prozent im Großraum Reykjavik.
Der berühmt-berüchtigte Eyjajallajökull, der im Frühjahr
2010 mit seiner monströsen Asche-wolke fast den gesamten europäischen
Flugver¬kehr lahmlegte, liegt direkt auf meiner Route. Zum Glück hält er still.
Nach kilometerlangem Nichts bei diffuser Polarnacht-Funzel strahlen die
Scheinwerfer unvermittelt auf gelbe Körb-chen in DD. Kurz vor Hella hat ein
zünftiger Farmer mit seiner Trophäensammlung aus Büs¬tenhaltern die Zaunpfosten
seiner Pferdeweiden dekoriert.
Süße Babys dank Polarlicht?
Nächster Stopp: Seljalandsfoss. Foss heißt auf Isländisch
Wasserfall und der bei Seljaland ist ein echter Knüller. Ein gefährlicher
gefrorener Steig führt hinter den breiten Wasserschleier. Eine bizarre Kulisse,
der kalte Sprühnebel hat jeden einzelnen Grashalm schockgefrostet. Yoko und
Naoko tasten sich Händchen haltend vor-
wärts. „Wir liegen jede Nacht wach und beob¬achten die
Nordlichter", erzählen die Japaner heftig zähneklappernd. „Das steigert
die Frucht¬barkeit und sorgt für besonders süße Babys", kichern die
beiden.
Meine Nächte in den Farmhotels laufen kom¬plett anders ab.
In den riesigen Bauernhöfen mit zig Zimmern bin ich fast immer
mutterseelenal¬lein. Die Farmer drücken mir den Schlüssel in die Hand, knipsen
die Sauna an, zeigen mir, wo Kaffee und Müsli für das Frühstück stehen und
brausen davon in ihr Winterdomizil. Was, wenn die Saunatür nicht mehr aufgeht
oder ich auf der Seife ausrutsche? Alleine auf riesigen Gutshöfen denkt man
leider nicht an Tim und Struppi, son¬dern greift gerne in die Horrorschublade:
An-thony Perkins als Frau verkleidet hinter dem Duschvorhang in Hitchcocks
„Psycho" oder Jack Nicholson in Kubricks „Shining"...
Baustopp — den Trollen zuliebe
Zum Glück sind die Mietwagen auf Island im Winter mit
Spikesreifen ausgerüstet. Damit fah¬re ich selbst auf spiegelglatten Eispisten
wie angenagelt. Die nächste Station Vik erkenne ich schon von Weitem an den
gigantisch großen, im offenen Meer aufragenden „Reynisdrangar". Der
Legende nach sollen diese markanten Basalt-zacken verzauberte Trolle sein. Die
Wolken¬schleier hängen tief. Die Landschaft wirkt wild und verwunschen.
Wahrlich kein Wunder, dass laut Umfragen immer noch 80 Prozent aller Is-länder
an Trolle und Elfen glauben. Es gibt sogar
eine Ministeriumsbeauftragte, die schon mal einen Straßenbau
stoppt, wenn sich Trolle da¬von gestört fühlen könnten. Frage mich nur ge¬rade,
warum mich das nicht wundert?
Die Ringroad bietet weiterhin bestes Fahrkino. Nach
Nupstadur wirkt die Szenerie fast schon unwirklich. Linker Hand rückt der
Vatnajökull, der Wassergletscher, immer näher. Er ist der größte Gletscher
Europas, mit 8.300 Quadratki¬lometern die drittgrößte Eisfläche der Welt. Bei
Jökulsarlon wälzt der Breidamerkurjökull eine wahre Skyline aus haushohen
Eisklötzen direkt auf die Ringroad zu. An diesem Ort gibt sich Hol-lywood die
Klinke in die Hand und Pierce Bros-nan alias „James Bond" driftete hier
für „Stirb an einem anderen Tag" auch schon über das Eis. Nach tagelanger
Dunkelheit kämpft sich endlich mal die Sonne durch. Strahlt golden durch
gar-tenhausgroße Eiswürfel, die von der aufkommen¬den Flut gerade an den
schwarzen Lavastrand gespült wurden. Als zerbrechlicher Mensch fühlst du dich
hier wie ein Eiswürfel in einem über-dimensionalen Bourbon an the rocks. Eine
wahr¬haft berauschende Perspektive.
Das gibt es nur auf Island. Gut, der Fallwind scheint im
Stande, Bartstoppeln zu entwurzeln und die Sonne dreht auch gleich wieder ab.
Das isländische Winterglück ist kurz und erfordert Thermo -Unterwäsche. Dafür
feiern die Glückshor¬mone regelmäßig ein überschwängliches Wikin¬ger-Gelage.
Und feiern können die Wikinger, egal bei welchem Wetter
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