Nore ug Uvdal, Norwegen
Author D.Selzer-Mckenzie
Video: https://youtu.be/AriqWVdr_3o
> Es ist sechs Uhr früh und noch dunkel, wenn Vilhelm
Hävardsrud seine tägliche Tour startet. Der blonde Norweger im Strickpulli
knipst die Scheinwerfer, gleich danach Motor und Heizung an. Dann klettert er
auf den Fahrersitz und gibt Gas. Mit lautem Rattern zuckelt die Loipenma-schine
ins Langlaufgebiet.
Unter Krüppelkiefern flattern Schneehühner auf. Wenig später
blinzeln die ersten Lichtstrahlen durch die Morgenwolken. Noch ist niemand hier
oben auf dem Fjell - so heißen die baumlosen Hochebenen Norwegens. Vilhelm ist
Loipen-macher. Jeden Wintermorgen fährt er mit der „Träkkemaskin" rund 70
Kilometer auf und ab, dekoriert Hügel und Ebenen mit zwei sauber ge¬stanzten
Gleitrinnen. „Mein Job ist etwas ganz Besonderes, das muss ich mir immer wieder
be¬wusst machen", sagt Vilhelm. Deshalb stoppt er später auf seinem
Lieblingshügel für eine Kaf-feepause und einen Blick in die Ferne: Zu sei¬nen
Füßen breitet sich das Dagalifiell aus. Eine schneebedeckte Hügellandschaft,
die aussieht, als hätte Verpackungskünstler Christo die Welt in weiße Laken
gehüllt.
Das Dagalifiell liegt in der Kommune Nore og Uvdal,
zweieinhalb Autostunden von Oslo ent¬fernt, und gilt noch als Geheimtipp für
Winter-
urlauber. Große Hotels findet man hier kaum, es ist eher das
Revier der typisch norwegischen Ferienhütten. Eine davon gehört dem
norwegi¬schen Kronprinzen Haakon und Kronprinzes-sin Mette-Marit. Vilhelm
trifft das sympathi¬sche Paar mit dessen Kindern hin und wieder in der Loipe.
„Kronprinz Haakon erkennt man an seinem Laufstil. Er ist sehr groß und macht
lan¬ge Schritte", sagt Vilhelm. Obendrein sei der Königsanwärter gut an
seinem Bart zu erken¬nen. Oder an den beiden Leibwächtern mit Funkverbindung im
Ohr, die vorauslaufen oder folgen. „Das Paar grüßt genauso freundlich wie alle
anderen", erzählt Vilhelm. Dabei duzt man sich wie selbstverständlich.
Niemandem würde hier oben die offizielle Anrede „eure Königliche Hoheit"
über die Lippen kommen. Minister wer¬den im hierarchiearmen Norwegen auch
außer-halb der Loipe geduzt.
Kurzer Umweg zu den Königs
Die Nähe zum Volk kann sich die Obrigkeit leis¬ten, denn auf
Privatsphäre wird viel Rücksicht genommen. Hier pilgert man nicht in Scharen
zum königlichen Feriendomizil, um sich an den Fensterscheiben die Nase
plattzudrücken. Nur
eine einzige Skispur zweigt von der Loipe ab und führt
querfeldein am Haus vorbei. Ein einfacher Holzzaun umgibt das Grundstück, daran
hängt ein unauffälliges Metallschild mit der Aufschrift „Det kongelige
Hoff" (Der königliche Hof).
Bei minus 17 Grad
— ein kühles Bier bitte!
Für Frank Olsen ist die berühmte Nachbarschaft gute Werbung.
Zehn Langlaufminuten entfernt vermietet er, nicht königlich, aber gemütlich
eingerichtete Ferienhütten. „Hi my friend", be¬grüßt er seine Gäste und
zeigt seine selbst reno¬vierten Schmuckstücke, ausgestattet mit Kamin, Grillterrasse
oder Open-Air-Whirlpool. Dort serviert er seinen Gästen am Abend bei minus 17
Grad ein kühles Bier, während diese mit Ba¬deanzug und Sturmhaube bekleidet
ihre Mus¬keln im heißen Jacuzzi entspannen und dabei die Sterne der Milchstraße
zählen.
Jeden Samstag schwingt sich Frank auf den Schneescooter und
legt mit seinem Anhänger dort Loipen, wo Vilhelm keinen Auftrag von der Kommune
hat. „Es ist traumhaft, besonders wenn morgens die Sonne aufgeht. Da könnte ichvor
Freude im Schnee tanzen", sagt Frank, ein Mann mit ebenso viel
Körpergewicht wie Le¬bensfreude.
Auf der anderen Talseite erstreckt sich Norwe¬gens größter
Nationalpark und Europas grö߬te Hochebene: die Hardangervidda. Durch ein
Fernglas kann man dort manchmal Rentiere be¬obachten, wie sie mit ihren Hufen
im Schnee nach Flechten graben. Sie sind so scheu, dass man sie nur selten in
freier Wildbahn trifft. Wer sie von ganz Nahem sehen und sogar streicheln
möchte, kann das im Naturpark Langedrag bei Nesbyen. Hier leben 26 Tierarten,
nicht nur Ha¬sen, Schafe und Pferde, sondern auch Elche, Luchse und fünf Rudel
Wölfe. Dabei handelt es sich nicht um einen Zoo, sondern um einen ganz
besonderen Wildnispark.
„Die Natur ist der beste Lehrmeister" ist das Motto auf
Langedrag. Man kann beim Stallaus-misten helfen, lernen wie man Brot backt und
Käse herstellt. Gegründet wurde der Park von Edvin Thorson, einem großen Natur-
und Tier-fan, der durch die Entwicklung der ersten Funk¬tionsunterwäsche in den
50er-Jahren einst zum Millionär wurde und sein ganzes Vermögen in
den Wildnispark - seinen Lebenstraum - steckte. Ein moderner
Noah, dessen Ziel es war, die Urras¬se jeder Tierart zu bewahren und
gleichzeitig Menschen einen anderen Blick auf die Tiere zu geben als durch den
Maschendraht eines Käfigs.
Dem Wolf den Bauch streicheln
Thorsons Tochter Tuva führt sein Lebenswerk nach diesen
Grundsätzen weiter. Die schlanke sportliche Frau mit wolfsgrauem Haar steht vor
dem Gehege von Varg, Irgas und Ask. „Beim Wolf kommt es auf jedes Augenblinzeln
an", sagt sie, nimmt einen Eimer voll Fleisch und sperrt das Ge¬hege auf,
als wäre es ihre Wohnungstür. Die Wölfe rennen auf sie zu. Tuva zieht die Nase
kraus, fletscht die Zähne und schaut ihnen dabei fest in die Augen. Daraufhin
setzen sich die Gierigen und warten geduldig, bis sie ihren Anteil bekommen.
Seit über 30 Jahren arbeitet die Wolfsflüsterin mit ihren Lieblingen und kennt
jede ihrer Reaktionen. Inzwischen lassen sie sich sogar von ihr den Bauch
kraulen.
Später zeigt Tuva das Rentiergehege, wo ein kleiner
Polarfuchs zwischen den Beinen der Tiere um-
herflitzt. Das flauschige Knäuel mit Knopfaugen könnte gut
als Nachfolger des Eisbären Knut her-halten. Das begeistert auch die
Königskinder. „Mette-Marit und Haakon kommen aber mit ih-nen nur noch
unangemeldet, damit nicht so viel Aufhebens um sie gemacht wird", sagt
Tuva.
Die größte Herausforderung sind für Tuva mo¬mentan die
Könige der Wälder - die Elche. Die Tierliebhaberin ist noch dabei, ihre Sprache
zu erlernen. Elche im Winter in freier Wildbahn zu erleben ist ganz großes Kino
und nur bei Gegen¬wind möglich, denn sie können Menschen bis zu drei Kilometer
weit riechen und flüchten dann schnell. Von einem Fahrzeug aus hat man
we¬sentlich bessere Chancen.
Der beste Job der Welt
Loipenmacher Vilhelm hatte einmal großes Glück. Eines frühen
Morgens, als Sonne und Wind noch schliefen, brach plötzlich eine Herde wilder
Elche aus dem Wald. Die mächtigen Hirschkühe trabten in die Loipe und staksten
für mehrere Minuten di¬rekt vor seiner „Träkkemaskin" her. In diesem
Mo¬ment hatte er den besten Job der Welt.
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