Winter in Südtirol
Author D.Selzer-McKenzie
Video: https://youtu.be/3PXPBci8GRg
Leise flüstern die Skier in der Loipe. Es geht durch einen
verschneiten Märchenwald. Plötz¬lich schält sich aus den Tannen eine
Bergkulisse wie aus einem Bildband von Reinhold Messner: Felsriesen mit Gipfeln
so spitz wie die Zähne eines Drachens ragen empor. Fasziniert von der
Mächtigkeit der Berge übersieht man beinahe das Reh, das ein paar Meter vor den
Skiern über die Loipe hüpft und auf der anderen Seite wieder im Wald
verschwindet. Idyllisch und zugleich aufregend ist die Landschaft in den
Sextner Do¬lomiten im Südtiroler Hochpustertal.
Kofeln, die den Himmel kitzeln
Viele Gipfel heißen hier Kofel. Obwohl der Name vom Wort
Kuppe herrührt, sind die meis¬ten eher spitz. Sie kitzeln den Himmel 3.000
Me¬ter über dem Meeresspiegel und tragen Namen wie Neuner-, Elfer-, Zwölfer-
und Einserkofel.
rue" Südtirol:
$- ill . größte steinerne Sonnenuhr B Kasknödel und
Kletterprofis
mg Wintercamping am Patzerfeld
Denn sie gehören zu einem weltweit einzigarti¬gen
Naturschauspiel: der größten steinernen Sonnenuhr. Zur Wintersonnwende steht
die Sonne um 12 Uhr genau auf dem Zwölferkofel, um 1 Uhr auf dem Einser. Die
Römer rechneten anders. Sie begannen erst bei Sonnenaufgang zu zählen. Deshalb
zeigte bei ihnen der Zwölferko-fel die „Sexta Hora" an, die sechste
Stunde. Ver¬mutlich entstand so der Ortsname Sexten.
Niedriger Puls durch tägliches Langlauftraining
Ein paar Minuten hinter dem Ort ist Eugenio Rizzo mit seinen
Gästen gestartet. Auf 1.500 Me¬ter führt die Höhenloipe am Berghang entlang.
Ein paar dunkle Holzhütten tupfen die weiße Schneelandschaft. „Hier ist das
,Negerdorf", er¬zählt Eugenio. Als im ersten Weltkrieg Tiroler
Standschützen die Verteidigungslinie am karni-schen Kamm aufbauten, nutzten sie
das Wort als Erkennungsparole — vermutlich weil sich im Laufe der Zeit das Holz
der Hütten schwarz färb¬te. Die Winter im Krieg waren hart. Nicht nur im Kampf
starben viele Menschen — zahlreiche wurden auch Opfer der Natur.
Eugenio ist in den Karnischen Alpen aufgewach¬sen. Schon als
Teenager war er ein ausdauernder Junge und flitzte wie ein Profi auf
Langlauf¬skiern durch Täler und über Berge. „Beim Ein¬zug zum Militär dachten
sie erst, ich hätte einen Herzfehler, weil mein Puls so niedrig war. Dabei kam
das vom täglichen Langlauftraining", lacht der 55-Jähige, der auch
Biathlet war. Zuletzt hat er jahrelang die Tour de Ski organisiert, die nach
der Olympiade als wichtigstes und härtestes Ski¬rennen gilt, das neben
Oberstdorf unter ande¬rem in Toblach und Cortina ausgetragen wird.
Kletterrouten mit hohem Schwierigkeitsgrad
Südtiroler lieben das Kräftemessen. Jedes Win¬terwochenende
findet ein anderer Skimarathon statt. Denn so rau die Natur ist, so zäh sind
auch die Einheimischen. Otti Innerkofler ist so ein Kerniger. Der 44-Jährige
hat den Elan eines Mittzwanzigers und kein Gramm zu viel auf den Rippen. „Beim
Klettern kann ein zusätzliches Kilo entscheidend sein, ob man es schafft oder
nicht", erklärt er sein Gewicht. Gemeinsam mit seiner Frau Klara betreibt
er eine Almhütte auf 1.877 Meter Höhe direkt an der Loipe. Drinnen hängen
Skizzen von Kletterrouten mit hohen Schwierigkeitsgraden an der Wand. Es duftet
nach leckerem Apfelkuchen. Da schnallt man gern die Skier für eine Pause ab.
Otti jongliert Teller mit Kuchen und Kasknö-deln zwischen
Küche und dem vollen Gastraum.
Zwischendurch nimmt er seine Ziehharmonika und spielt mit
leuchtenden Augen Bergsteiger¬lieder. Dabei ist sein Tag mehr als ausgefüllt:
Jeden morgen steht er um 4 oder 5 Uhr auf, je nachdem welche Mengen
Apfelstrudel er backen muss. Später bringt er die Kinder ins Tal in die Schule,
düst mit dem Motorschlitten zurück auf die Alm, wo er mit Klara bis 10 Uhr am
Abend die Gäste bewirtet. Obendrein trainiert Otti sei¬ne Muskeln in der
Kletterhalle und gibt Skikur¬se für Kinder. Manchmal doubelt er auch ge-fährliche
Skiabfahrten für Schauspieler. Wie er mit dem durchgetakteten Leben klarkommt?
„Prima, ich heiße ja nicht umsonst Innerkofler", lacht er. Sein
Urgroßvater war die Kletterlegen¬de Sepp Innerkofler, der den 2.744 Meter hohen
Paternkofel und viele weitere Gipfel als erster erklomm. Als Tourismuspionier
übernahm er Ende des 18. Jahrhunderts die Dreizinnenhütte im gleichnamigen
Naturpark und baute sie mit Lagerbetten aus.
Wintercamping: Abwasser beachten
Gut gestärkt geht es zurück auf die Loipe. Die Skier surren
leicht abschüssig bis zum Kreuzberg-pass. Zu Füßen der Rotwand liegt der
Campingplatz Patzerfeld. Die Wohnwagen tragen Mützen aus Schnee. Nicht nur
hartgesottene Urlauber trotzen hier der Kälte. „Man lernt viel beim
Wintercam¬ping", schwärmt ein Holländer vor seinem Sechs-Meter-Wohnmobil.
„Zum Beispiel darf man das Ab¬wasser nicht einfach herauslaufen lassen, dann
gefriert es." Was die
restlichen Kältecamper wohl mehr begeistert, ist das Gebäude
direkt neben den Wohnwagen: Dort gibt es eine Sauna und verschiedene Mas¬sagen
im Angebot.
Weiß gefrorene Fingerspitzen durch Draufbeißen beheben
So viel Komfort hatte Rainer Kauschke damals nicht. 1963
bestieg der Kletterer gemeinsam mit drei Freunden als erster eine neue
Nordroute in der großen Zinne. Die Wände der „Drei Zin¬nen" sind nicht
höher als 550 Meter, stehen aber senkrecht wie Schneidezähne in der Landschaft.
Damit ihnen niemand zuvor kam, planten Kauschke und seine Freunde die Tour für
den Winter. Am Ende haben sie 17 Tage bei teilweise minus 30 Grad in der Wand
verbracht. „Sobald man die Hände vom Fels genommen hat, waren die Fingerspitzen
weiß gefroren. Wir haben drauf-gebissen, um sie wiederzubeleben", erzählt
der
gebürtige Sachse, der in Toblach seine zweite Heimat hat.
„Ich hatte immer großen Respekt vor den Gipfeln und hätte nie etwas
Unüberleg¬tes getan."
Damals war die Ausrüstung noch richtig schwer. Sie hatten
Rucksäcke aus Leder dabei und Berg¬schuhe, die dreimal so viel wogen wie heute.
„Wir mussten zweimal am Tag Lebensmittel zu uns hochziehen. Das war so
anstrengend, es hat uns wahrscheinlich vor dem Erfrieren gerettet",
erzählt der leidenschaftliche Bergsteiger. Die Zeit hat seine Haare inzwischen
weiß gefärbt, trotzdem steigt er noch immer gern in die Zin¬nen, wenn auch
nicht mehr auf ganz so extre¬men Routen.
Schnee versteckt
das Wahrzeichen Südtirols
Die „Drei Zinnen" sind das Wahrzeichen Süd¬tirols. Auch
Eugenio Rizzo will, dass seine Gäste einen Blick darauf werfen können. Die
nächste Loipe führt deshalb ins Höhlensteintal. Doch an diesem Tag ist Frau
Holle dabei, die Märchenlandschaft zu reno¬vieren. Dicke Schneeflocken setzen
sich auf Nase und Schultern, su¬chen sogar ein Versteck hinter den Wimpern. Von
den Steilzähnen keine Spur. Die Wolken scheinen sie verschluckt zu haben. Dann
muss eben später ein Blick in den Bildband genügen. Schließlich sind die „Drei
Zinnen" eines der meistfotografierten Gebirge überhaupt.
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