Kelchsau, Windau und Spertental
Author D.Selzer-Mckenzie
Video: https://youtu.be/5Sc6o7bAHdY
Schwalben und Bartgeier; Nebbiolo und Dolcetto; Agnello
sambucano und Orangen¬konfitüre; hohe Hänge, steile Spitzen und lichte Lärchen
- der vielfältige Charme des Valle Stura zieht Christine Kopp (Text und Fotos)
immer wieder in die Seealpen.
N
leder mit den Alpen - freie Sicht aufs Mittelmeer!",
skandierte die Jugendbewegung, die die Stadt Zürich 1980 wütend aus ihrer
behäbigen Beschaulichkeit aufrüttelte. Lä-
chelnd denke ich an den unter uns Schwei-
zern legendären Slogan, als ich hinter
FranQois den letzten Steilhang zur Cima Sud d'Ischiator
(2926 m) angehe: Das Mit¬telmeer ist ganz nah, aber noch sind wir umringt vom
Gipfelmeer.
Wir waren in der Dämmerung in Bes-morello aufgebrochen,
einem Dörfchen in einem Seitental des Valle Stura. An die¬
sem prachtvollen Aprilsamstag hätten wir in den West- oder
Ostalpen an einem vergleichbaren, für Skitouren wie ge¬machten Gipfel Dutzende
Bergsteiger an¬getroffen. Doch wir befanden uns eben in den Seealpen, den Alpi
Marittime. Und so waren wir mutterseelenallein.
unverkennbare Pyramide des 3841 Meter hohen Monviso
aufragte.
Ischiator, der „rutschige Ort": Schließ-lich stehen wir
auf dem südlichen Vorgip-fel des Berges mit diesem geheimnisvol¬len Namen. Und
ich bekomme endlich, wovon ich in den Tagen davor geträumt hatte: den Blick auf
das große Blau! Um ehrlich zu sein, es ist keine freie Sicht aufs Mittelmeer,
eher eine Ahnung davon. Aber schon dieser verheißungsvolle Hauch ist umwerfend,
ein Gefühl von mediterraner Weite, das in mir anhält, als wir in weiten Kurven
über die riesigen Firnhänge hin-unterjauchzen. Beim Schwingen und Sur¬fen sehe
ich plötzlich ein paar Schwalben, die hoch über uns gen Norden ziehen. Der
Frühling ist da.
Die Cima Sud d'Ischiator war der ski-fahrerische Höhepunkt
meiner bisher drei Aufenthalte im Valle Stura. Oder vielleicht auch nicht: Da
war dieser allererste Tag, zwei Jahre davor, mit Freeriden im „Cham¬pagne
Powder" an den offenen Hängen der Cima delle Lose und im lichten
Lär¬chenwald darunter. Einen gelungeneren Einstieg in das piemontesische
Skitouren-paradies westlich der Stadt Cuneo hätte ich mir nicht erträumen
können.
Mit einer lieben Bergführer-Freundin war ich am Vortag ohne
Karte und Führer im Dorf Sambuco im Albergo Osteria del-la Pace eingetrudelt.
Außer dem Namen dieser Unterkunft, die mir von mehreren Empfehlungen her ein
Begriff war, hatten
wir beide keine Ahnung vom Tal. Verlegen erkundigten wir uns
also im Hotel bei Raf¬faele, was wir unternehmen könnten. Der quirlige
Gastgeber hatte sich schon bei der Begrüßung als begeisterter Skialpinist
offenbart. Und nun hörte ich zum ersten Mal seine berühmte Frage: „Quanto
volete fare?"„Wie viel wollt ihr machen?" Denn Raffaele empfiehlt
nicht einfach eine Tour, sondern will zuerst einmal wissen, wie viel Aufstieg
es sein darf: achthundert, tausend, fünfzehnhundert Meter oder ein richtig
langer Hatscher? Ist man sich über diese Zahl im Klaren, überlegt sich
Raffa¬ele die passende Antwort. Für mich und
„Wie viele Höhenmeter
dürfen's denn sein?",
fragt der Wirt im Albergo.
Gudrun suchte er aus: Zuerst diesen gran¬diosen Freeride-Tag
an der Cima delle Lose, unterstützt durch die einzige Auf¬stiegsanlage des
Tales, eine endlose Ses¬selbahn. Und für den Tag danach den kur¬zen Aufstieg
zur Enclausetta mit Samtfirn und Ausblick nach Frankreich in das prachtvolle
Valle de 1'Ubayette.
Pulver und Firn innerhalb von achtund¬vierzig Stunden und
unendlich viel Platz, um unsere Spuren ungehindert in den Schnee zu ziehen. Und
danach die kulina-rischen Genüsse in der Osteria della Pace. Kein Wunder, dass
ich das Valle Stura so¬fort ins Herz schloss.
Gelesen hatte ich schon davor einiges über das Tal. Im
Internet und in Program¬men von Bergsteigerschulen - besonders im März sind
viele geführte Gruppen aus der Schweiz, aus Deutschland, Frankreich und
Norditalien im Valle Stura unterwegs. Gewisse Schlagwörter wiederholten sich
auffallend: „steile Gipfel", „einsame Täler", „Touren ohne
Ende". Und Sätze wie „pie-montesische Küche und Weine mit Skige¬nuss
vereint" oder „Slow Food und Ski¬touren vom Feinsten". Da die Küche
Itali¬ens und seine Rotweine für mich zu den
unerlässlichen Zutaten des Lebens gehö¬ren, war der Fall
klar: Ins Valle Stura, wo offenbar nicht nur hinreist, wer gerne Ski fährt,
sondern auch, wer gerne gut isst und trinkt, musste auch ich!
Schon bei Cuneo erhält man einen ers¬ten Eindruck von den
Alpi Marittime, den Seealpen. Die südlichste Gebirgsgruppe der Alpen ist
schroffer und höher, als es ihre Nähe zum Meer vermuten ließe. Ihre wilden
Berge muss man sich geduldig er¬schließen mit Aufstiegen, die oft zuerst über
lange, flache Böden führen, um dann in steiles und offenes Gelände
überzuge-hen. Und es wimmelt von Cime und Mon-ti: Das Valle Stura allein bietet
über sieb¬
zig Skitouren auf meist zwischen 2500 und 3000 Meter hohe
Gipfel. Nimmt man das Valle de l'Ubaye dazu, auf der fran¬zösischen Seite des
Grenzpasses Colledella Maddalena zuhinterst im Tal, sind es über hundert.
Natürlich: Nicht immer sind die Verhältnisse gut. Aber häufig fin¬det man
gleichzeitig Pulver und Firn. Und das vom Gegensatz zwischen Meer und Bergen
geprägte Klima brachte gerade in den letzten Jahren viel Schnee bis spät in den
Frühling.
Auch bei den Touren, die ich vor zwei Jahren Anfang April
mit Francois hier un¬ternahm, lag viel Schnee. Der weit gereis¬te Bergführer
und Fotograf, der das Stura davor nicht kannte, war sogleich begeis-
Vielfalt prägt das Erleben: zauberhaf¬te Morgenstimmung beim
Aufstieg zum Ischiator; prächtige Firnhänge an der Cima delle Lose; den Monte
Enciastraia machen Wolken und Sturm zum Alpintrip — Fixpunkt
ist das Abendessen bei Bartolo Bruna.
Skitouren im Valle S
BESTE ZEIT: Ende Dezember bis April; im März sind am meisten
Skitourengänger unterwegs (Unterkunft rechtzeitig buchen). Allgemein sind die
Seealpen schneereich; in den letzten Jahren fiel ausgesprochen viel Schnee.
ANREISE: Über Turin nach Cuneo, dann über Borgo San Dalmazzo
ins Valle Stura nach Demonte und Sambuco.
LITERATUR/KARTEN:
> Auswahlführer (italienisch) von Jean-Charles Campana
bei Blu Edizioni (bluedizioni.it): „Alpi Ligure, Alpi Marittime, Alpes de
Provence" und „Dal Colle della Maddalena al Monviso, Italia-Francini
tert. So auch auf unserer ersten Tour zur knapp 2800 Meter
hohen Testa del Ferro. Vom Talort Prinardo stiegen wir auf ei¬nem Sträßchen,
dann auf einem Weg ins Tal hinein. Weit und breit kein Mensch. Francois ließ
sich von Gelände und Ge¬fühl leiten. Höher oben hielten wir Sicher-heitsabstand
- der Wind hatte in den Wo¬chen davor gewütet -, bevor wir den Grenzgrat zu
Frankreich erreichten und über ihn zum Gipfel aufstiegen.
Die Aussicht war berauschend, und noch beeindruckender war
die Abfahrt über mächtige, sehr steile Osthänge in einen an-deren flachen
Talboden und hinaus nach Pontebernardo. Im halb verlassenen Dörf-chen aßen wir
etwas in der Sonne. Ich hielt mich allerdings zurück, im Wissen um das
bevorstehende Abendessen.
Die Osteria della Pace liegt mitten im Dorf Sambuco unweit
der Straße, die sich durch das Valle Stura von Demonte über den erwähnten Colle
della Maddalena ( französisch Col de Larche) hinüber nach Frankreich zieht.
Entsprechend leidet das Tal, das überdies eine drastische Abwan¬derung erfahren
hat, unter dem Lastwa-genverkehr zwischen den zwei Ländern. Das kleine Hotel in
Sambuco setzt einen
ura
> Skitourenkarte 1:25.000 „Sci alpinismo in Valle
Stura" mit 131 Routen und Zusatz-infos (IU fraternalieditore.com).
> IGC-Skitourenkarten 1:25 000 „Valle
Stura-Vinadio-Argentera" und "Valle Maira-Acceglio-Brec de
Chambeyron", vor Ort oder über Internet erhältlich.
TOURISMUSVERBAND:
vallesturademonte.com/gertt
UNTERKUNFTSTIPP: Albergo Osteria della Pace, 1-12010 Sambuco
(CN), Tel.: 0039/ 0171/965 50, N albergodellapace.com
MEHR INFOS, TOURENTIPPS UND BILDER:
iü+alpenverein.de/panorama
Gegenpol und hat sich zum Mittelpunkt für Skitourengänger
und im Sommer für Ausflügler, Biker und Wanderer aus dem In- und Ausland
entwickelt. Zu verdan-ken ist dies der Schaffenskraft von Barto-lomeo
„Bartolo" Bruna und seiner Familie - Frau Alda, Tochter Manuela,
Schwie¬gersohn Raffaele und Sohn Daniele, der
Heute Pulver, morgen Firn
- bei über siebzig Gipfeln
ist das oft möglich.
die gegenüberliegende Bar La Meridiana in ein gediegenes
Lokal verwandelt hat.
Während Bartolo vom frühen Morgen bis zum späten Abend in
der Küche steht und seine Gäste vom Brot über die Konfi¬türe bis zur Pasta -
natürlich alles haus¬gemacht - liebevoll verwöhnt, berät Raf¬faele sie als
ausgebildeter Sommelier bei der Wahl des richtigen Weines und als
leidenschaftlicher Skibergsteiger bei der Planung der Touren. Das Gasthaus mit
seinen schönen Zimmern, dem kleinen Wellness-Bereich und der hervorragenden
Küche hat sich zu einer echten Oase entwickelt und setzt Impulse weit über
Sambuco hinaus.
Den guten Geist von Bartolo hatte ich bereits beim ersten
Aufenthalt schätzen gelernt. Und da ich liebend gerne koche, fragte ich ihn
bald, ob ich ihm in die Töp¬fe schauen dürfe. Ich durfte. So auch nach der
Testa del Ferro: Frisch geduscht, klop¬fe ich an die Küchentür. Bartolo empfängt
mich freundlich. Beim Schneiden und Rühren erzählt er mir die Geschichte der
Osteria von den Anfängen seines Urgro߬vaters über die Kriegsjahre bis heute.
Bar-tolo ist ein durch und durch positiver Ma¬cher, der sich weder von
wirtschaftlich harten Zeiten noch durch bürokratische oder politische
Hindernisse beeindru¬cken lässt. Vielmehr redet er von seiner
Hoffnung, dass immer mehr Menschen die Hemdsärmel
hochkrempeln, um das Tal mit nachhaltigen touristischen An¬geboten aufzuwerten.
Jammern - über Verkehr, Staat oder Strukturen - bringe nichts, sagt Bartolo,
bevor er mir seine unschlagbaren Rezepte für Orangenkon¬fitüre, Stockfisch im
Ofen, Auberginensa-lat und eine Gemüsetimbale mit Mönchs¬bart diktiert.
Anfang 2015 waren wir zurück im Valle Stura. Eugenio und ich
reisten aus dem nahen Valle Varaita an, seinerseits ein be¬liebtes Skitouren-
und vor allem Eisklet-tergebiet. Wie gewohnt, fragten wir Raffa¬ele nach seinen
Tipps. Es lag wenig Schnee, aber das Wetter war großartig. Auf seinen Rat hin
brachen wir, dieses Mal ohne Lifthilfe, von Argentera zur
Cima delle Lose auf Als wir auf den Gip¬felgrat ausstiegen,
erfuhr ich einmal mehr: Die Nähe zum Meer heißt nicht, dass es an diesen Bergen
immer sanft zugeht. Ein eisiger, stürmischer Nordwind blies uns
Die Nähe zum Meer heißt
nicht, dass es an diesen
Bergen immer sanft zugeht.
beinahe vom schmalen Rücken. Das Ab-fellen war schwierig,
von der Aussicht kriegten wir nichts mit. Wir hatten nur ei¬nen Wunsch: so
schnell wie möglich weg und hinunter in den Lärchenwald, wo uns der vom Wind
unberührte Schnee feder¬leicht empfing!
Am nächsten Tag fuhren wir zum Colle della Maddalena und
brachen von hier aus zu zwei kurzen, aber sehr steilen Tou¬ren auf. Zuerst
gelangten wir vom Pass über weite Hänge und ein ruppiges Cou-loir zur Tete de
Blave. Dann hängten wir den Monte Pierassin an: Seinen Gipfel er¬reicht man
hintenrum durch das hübsche Vallon de l'Oronaye. Für die Abfahrt wähl¬ten wir
die ausgesetzten Hänge direkt zur Passstraße hinunter.
Doch zuerst war noch etwas anderes. Auf dem Gipfel hörten
wir plötzlich ein Rauschen. Ich blickte hoch, und da sah ich ihn: den
Bartgeier. Wenige Meter über uns zog er mit gigantischen Schwingen seine
Runden. Still schauten wir zu
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