Valle Stura im Piemont
Author D.Selzer-McKenzie
Video: https://youtu.be/iREXcc02l90
Der Himmel tiefblau, die Bäume frisch verschneit, die
Schnee¬kristalle glitzern geradezu ver¬führerisch in der Sonne. Ideale
Voraussetzungen für einen wunderschö¬nen Skitourentag am Feldalphorn in den
Kitzbüheler Alpen. Und das Beste: Wir
sind allein unterwegs. Nur am verlocken¬den Nordhang des
Schwaigberghorns, auf den wir geradewegs zulaufen, ist eine ein¬zelne Spur zu
sehen, während wir als Erste hinüber zur Trockenbachalm spuren. Eine Alm wie
aus dem Bilderbuch mit dunklen, von der Sonne verbrannten Holzbalken
und blassgrünen Fensterläden. Obwohl das Feldalphorn zu den
leichtesten Kitz-büheler Skitourenzielen zählt, hält sich der Andrang in
Grenzen. Zum einen wählen die meisten den Anstieg aus der Wildschö-nau, zum
anderen verteilen sich die Ski-
Die Zukunft der Kelchs au
liegt abseits der Piste,
beim Skitourengehen.
tourengeher auf ein riesiges Gebiet. Und so kann es durchaus
passieren, dass man an einem sonnigen Neuschneetag beim An¬stieg aus der
stillen Kelchsau alleine unter¬wegs ist. Und das, obwohl man die ersten Meter
ganz bequem mit einer Sesselbahn zurücklegen kann.
51 Millionen Euro investierte allein die Skiwelt Wilder
Kaiser-Brixental im Som¬mer 2015 in neue Liftanlagen - in der Kelchsau, zu der
man in Hopfgarten rechts abbiegt, fährt lediglich eine betagte
Dop-pelsesselbahn, die an die Anfänge des Pis-tenskifahrens erinnert. In dem
kleinen Familienskigebiet ist die Zeit stehen ge¬blieben. Was natürlich kein
Fehler ist: Hektik und Gedrängel gibt es hier nicht. Allerdings ist der
Dorfwirt seit 2012 ge¬schlossen, der Neuwirt seit 20 Jahren. Nurden Fuchswirt
gibt es noch. Ein urgemüt¬licher Gasthof in einem Ensemble beson¬ders
prachtvoller Holzhäuser - und den ganzen Winter über gut gebucht, wobei längst
die Tourengeher den Pistenskifah¬rern den Rang abgelaufen haben. „Gut zwei
Drittel meiner Gäste sind Tourenge¬her", schätzt der Wirt Reinhard
Brugger.
Genau da liegt die Zukunft, denn die Kelchsau ist ein
riesiges Skitourenpara-dies. Einige Ziele wie den Klassiker Lo-dron, seinen
Nachbarn Steinbergstein oder eben das Feldalphorn kann man so¬gar vom Ort aus
angehen, viele weitere vom Kurzen und Langen Grund. Die bei¬den Täler
verzweigen sich südlich der Kelchsau und führen mitten hinein ins
20 DAV Panorama 1/2016
weiße Skiwunderland der Kitzbüheler Al¬pen. Die
Möglichkeiten sind selbst in zwei Wochen nicht abzuarbeiten, je nach Schneelage
und Jahreszeit kann man sich die richtige Exposition aussuchen, die ide¬al
geneigten Skiwiesen stellen selbst Ein¬steiger vor keine großen Probleme, und
die Saison startet schon mit dem ersten gro- ßen Schneefall im Dezember.
Entspre-chend groß ist der Andrang an Tourenge¬hern, zumindest an Wochenenden.
Damit es keine Konflikte mit Jägern gibt, stehen bei den Ausgangspunkten große
Über-sichtstafeln mit den Aufstiegs- und Ab-fahrtsrouten und Sperrgebieten.
Bei dieser Fülle an Skitourenzielen steht man vor der Qual
der Wahl - und ent¬scheidet sich dann doch wieder für einen
der Klassiker wie das Feldalphorn. Eine gute Entscheidung,
vor allem, wenn man die Tour ausbaut und etwa weiter läuft zum benachbarten
Schwaigberghorn. Im leichten Auf und Ab und mit Blick auf die Wildschönauer
Tourenziele zwischen Lämpersberg und Großem Beil geht es so über weite
Schneeflächen auf den verlo¬ckenden Nachbargipfel - und damit zum Start der
1100-Höhenmeter-Abfahrt über skifreundlich geneigte Wiesenhänge, die geradezu
typisch sind für die Kitzbüheler Alpen.
Der großartige Skitag klingt im Fuchs-wirt aus, dem
Treffpunkt für Tourengeher.
Der gemütliche Fuchswirt
in der Kelchsau ist der Treff-
punkt für Skitourengeher.
Wer den Erzählungen an den Nachbarti¬schen auf der
Sonnenterrasse oder in der holzgetäfelten Stube mit Kachelofen lauscht, der
erfährt im Grunde alles über mögliche Ziele und die aktuellen Touren¬bedingungen
- und über spannende Erleb nisse auf den Mautstraßen in den Kurzen und Langen
Grund. Die sind zwar bestens geräumt, aber oft spiegelglatt - Schneeket¬ten
sind hier definitiv kein Luxus.
Für unsere Durchquerung der Kitzbü-heler Alpen nach Aschau
nehmen wir am zweiten Tag frühmorgens ein Taxi in den Langen Grund. Der
Parkplatz bei der Er-
lauer Hütte ist gut gefüllt, doch die Leute verteilen sich
gleichmäßig auf die vielen Ziele. Beim Westanstieg zum Schafsiedel ist man in
der Regel sogar alleine unter¬wegs. Was nicht heißt, dass man spuren muss -
eine Aufstiegsspur ist meist vor¬handen. Oberhalb des Waldbereichs, auf dem
Westrücken des Schafsiedels, zeigt
sich die alpine Seite der Kitzbüheler Al-pen. Das Gelände
wird felsdurchsetzt, die Spur am Kamm immer steiler - eine gute
Spitzkehrentechnik ist hier von Vorteil. Zuletzt geht es flach über den Grat
auf ei¬nen der bekanntesten und beliebtesten Kitzbüheler Skigipfel.
Schon beim Aufstieg begeisterte der Blick auf all die
umstehenden Skiziele und die verlockenden Spuren Richtung Bären-talkopf und
Frommgrund. Die gehören zu den eher einfachen Tourenmöglichkeiten, während der
benachbarte Fünfmandling mit seinen steilen Nordosthängen für die sportliche
Seite steht - die Steilabfahrten dort erfordern ganz sichere
Schneever-hältnisse. Vielfalt bietet auch der Schafsie-del: Sanfte und weite
Hänge ziehen direkt hinunter zur Neuen Bamberger Hütte, et¬was steiler sind
kurze Varianten auf der • benachbarten Aleitenspitze, während die Abfahrt ins
Manzenkar je nach Routen¬wahl richtig sportlich ist.
Die Neue Bamberger Hütte ist zwi-schen der Wildschönau und
Aschau der einzige Stützpunkt am Berg, alle anderen liegen im Tal oder an den
per Auto erreich¬baren Ausgangspunkten. Der Komfort stimmt aber auch auf der
Hütte, erst recht nach dem Umbau vom Sommer 2015: komplett neue Einrichtung,
Seminar¬raum und ein größerer Schuhraum, ein Stockwerk mehr - und die oft
gewünsch¬ten neuen Zimmer, deretwegen die Kapa¬zität allerdings etwas gesunken
ist. Noch mehr bemängeln einige Gäste aber den fehlenden Handyempfang. In
Internet-Bewertungsportalen schimpfen sie ano-nym auf den Wirt Robert Fuchs,
wenn er ihnen nicht erlaubt, das Hüttentelefon zu benutzen. Und auch sonst
finden sich er¬staunlich negative Kommentare, was viel¬leicht auch daran liegt,
dass manche den
sehr trockenen Humor des Kärntners nicht verstehen, der seit
15 Jahren die Hütte bewirtschaftet. Dennoch fühlen sich die Gäste wohl, vor
allem eine große Gruppe, die gerade lautstark „Zum Wohle dem Alkohole"
anstimmt.
Zur Neuen Bamberger Hütte
kommt man nicht per Auto;
der Komfort stimmt trotzdem.
Die Schneesicherheit ist einer der Hauptpluspunkte der
Hütte, auf der im Winter deutlich mehr los ist als im Som-
mer. „Das Tourengehen hat sich einfach gut entwickelt",
erläutert Robert, „und es kommen auch immer mehr Schnee-schuhwanderer:`
Natürlich auch in Grup¬pen, zum Glück nicht alle so durstig auf Alkohol.
Andererseits ist die Saison recht kurz, auch wenn sie bei normaler Schnee¬lage
bereits an Weihnachten beginnt. „Ab Mitte März ist wenig los, denn da machen
die hoch gelegenen Hütten auf", erzählt Robert. „Früher hatten wir noch
den gan¬zen April offen`, jetzt sperrt er meist um den 10. April zu, auch wenn
die Schneela¬ge in dieser Höhe noch perfekt wäre.
Schafsiedel, Schwebenkopf, Salzachgei-er, Tristkopf und
Kröndlhorn heißen die bekanntesten Skigipfel über der NeuenBamberger Hütte,
doch Möglichkeiten gibt es weit mehr - mit Höhenunterschie-den von maximal 700
Metern auch für Toureneinsteiger perfekt. Wer nicht aus-gelastet ist, macht
halt zwei Gipfel am Tag, je nach Lust und Kondition. Entspre¬chend viele
Tourengeher sind unterwegs, doch die verteilen sich bestens. „Es ist un-
glaublich", sagt Robert, „da übernachten bis zu 80
Leute in der Hütte und zusätz-lich kommen vielleicht 40 aus dem Tal he¬rauf -
aber du siehst keinen."
Egal ob Gipfelsammlerin oder Abfahrts¬freund, am dritten Tag
kommen alle auf ihre Kosten. hi einem weiten Bogen stei¬gen wir bequem ins
Nadernachjoch und
wechseln dort kurz auf Salzburger Gebiet. Mit Blick auf den
Großvenediger zieht die Spur über sonnige Hänge hinauf und schließlich von
Norden auf das Kröndl-horn, auf dessen Gipfel eine kleine Kapelle steht. Von
hier oben überblickt man das komplette Tourengebiet der Neuen Bam¬berger Hütte
und sieht Roberts Aussage bestätigt: Überall Spuren, aber die Touren¬geher
musst du suchen, so gut verteilen die sich in dieser Schneeschüssel. Bergab
steht man vor der Wahl: entweder in ei¬nem Rutsch hinunter ins Windautal oder
über die Schneegrubenspitze hinüber zum Steinbergstein, einem der
Skitouren-klassiker der Kitzbüheler Alpen. Wir ent-scheiden uns für die
Schneegrubenspitze und wählen dort die Abfahrt über die stei¬len Nordhänge, die
den Pulverschnee per¬fekt konservieren - sicher einer der skifah-rerischen
Höhepunkte der Region. Nach einem langen Gegenanstieg über einen aussichtsreichen
Rücken stehen wir auf dem Steinbergstein und genießen in nachmittäglicher
Einsamkeit den Rund-blick über die Skigipfel der Kitzbüheler.
Die lange Etappe klingt mit viel Genuss aus. Das stattliche
Gasthaus Steinberg im Windautal hat zwar schon 80 Jahre auf dem Buckel, doch
das sieht man ihm nicht an. Michael Grafi erlebt es immer wieder, dass die
Gäste überrascht sind vom Komfort. „Einige rufen vorher an und fragen, ob sie
ein Handtuch mitbrin¬gen müssen und ob die Betten bezogen sind", erzählt
der Wirt schmunzelnd und ergänzt: „Viele sind auch erstaunt, am Ende der Welt
so gutes Essen zu bekom¬men:` Verantwortlich dafür ist Michael
höchstpersönlich: Der leidenschaftliche Koch ist Gründungsmitglied der
Brixen-taler KochArt, einer Vereinigung von Wir¬ten, die bevorzugt Produkte
heimischer Bauern und Produzenten verwenden. Auf¬genommen werden nur
Familienbetriebe wie das Gasthaus Steinberg, das Michael in vierter Generation
führt.
Die Tourengeher fühlen sich auf jeden Fall wohl. Und Michael
ist froh um diese Gästegruppe. „Es braucht nicht viel, um
Egal ob Gipfelsammlerin
oder Abfahrtsfreund,
alle kommen auf ihre Kosten.
einen Tourengeher glücklich zu machen", ist seine
Erfahrung, „die brauchen kein Halligalli:` Für den nächsten Tag emp¬fiehlt er
uns das Gerstinger Joch, „das wird von vielen unterschätzt, so dass hier im
Vergleich zum Lodron nur wenige un¬terwegs sind". So ist es eben: Die
Klassiker wie Lodron und Steinbergstein zi die schönen Nachbarn wie das
Gerstinger Joch werden übersehen. Zumindest bis man das erste Mal über die
freien Hänge aufsteigt, dabei den Blick auf den wuchti¬gen Steinbergstein
genießt und oben in einer Panoramawanderung mit Blick auf Großvenediger und den
felsigen Großen Rettenstein hinüberläuft zum Gipfel ¬und restlos begeistert
ist.
Das Gerstinger Joch ist das Finale der viertägigen
Kitzbüheler-Durchquerung, die unten bei der Oberlandhütte in Aschau ihr Ende
findet. Der stattliche Holzbau wurde im Jahr 1928 fertigge¬stellt und hatte
bereits bei der Eröffnung eine Zentralheizung. Für uns ist er End-punkt, für
andere Ausgangspunkt zu vie¬lerlei Tourenzielen, für einige wenige
Etappenstützpunkt. Denn die Tour durch die Kitzbüheler Alpen lässt sich
problem¬los verlängern. Etwa über den Schwarz-kogel hinüber nach Jochberg und
hinauf zur Kelchalm (Bochumer Hütte), von dort dann weiter über den Saalkogel
nach Lengau im Glemmtal. Oder über den Gamshag zurück nach Jochberg. Vielleicht
sogar über den Weißkopfkogel nach Fieberbrunn und damit zum nächs¬ten Bahnhof.
Für was auch immer man sich entscheidet, erst einmal heißt es Bei¬ne
ausstrecken und entspannen, auf der Sonnenterrasse oder in einer der
wunder¬schönen Stuben der geschichtsträchtigen
Oberlandhütte.
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