Mittwoch, 29. Juli 2015

Architektur der Zukunft


Architektur der Zukunft

Author D.Selzer-McKenzie

Video: http://youtu.be/RyGDwluLovs

Wenn im Hochsommer der Him-

mel über London blau erstrahlt,

dann kommt Rafael Virioly ins Schwitzen. 2014 weihte der Architekt eines seiner jüngsten Projekte in der Fen-church Street 20 im Herzen des Londoner Finanzdistrikts ein: ein 160 Meter hohes Hochhaus. Schon kurz nach der Eröffnung nannten es Londoner Medien „Fryscraper" (von „fry", braten). Denn die gewölbte Fassade des Wolkenkratzers, ein Markenzeichen von Viriolys Architektenbüro, zieht nicht nur die Blicke auf sich, sondern bündelt auch das Sonnenlicht wie ein Brennspiegel. Mit üblen Folgen: Man könnte an warmen Mittagen auf dem Gehweg der Fenchurch Street Spiegeleier brutzeln.

Viriolys Büro verwies darauf, dass der Himmel über London meistens bewölkt sei. Vermutlich hatte sich der Sohn einer Uruguayer Mathematiklehrerin beim Entwurf mitreißen lassen von einem Trend in der mathematischen Architektur: Mathematisch betrachtet ist die Fas- sade des Fryscrapers eine in zwei Raumrichtungen gewölbte Oberfläche, die in rechteckige Glasflächen zerlegt wurde. Solche doppelt gekrümmten Flächen sind aktuell der letzte Schrei in der Architektur: Sie sehen hübsch aus — und sie sind teuer, ob aus Glas oder Beton.

Mathe soll die Kosten drücken

„Im Bauwesen gilt die Faustregel: Eine doppelt gekrümmte Fläche kostet etwa zehnmal so viel wie eine einfach ge-krümmte", sagt Daniel Lordick, der am Institut für Geometrie der TU Dresden die Verbindungen von Architektur und Mathematik erforscht. Der Grund: Betonflächen müssen in Formen gegossen werden, sogenannten „Schalungen". Und komplizierte

 

Krümmungen erfordern Schalungen nach Maßanfertigung. Die Mathematik soll jetzt helfen, die Kosten dafür zu drücken.

Lordick erforscht in einem Schwer-punktprogramm der Deutschen For-schungsgemeinschaft, wie man geschwungene Flächen mit wenig Aufwand aus Beton gießen kann. Dabei greift er auf Mathematik zurück, die 200 Jahre alt ist: Der Franzose Jean Nicolas Pierre Hachet-te (1769 bis 1834) taufte Anfang des 19. Jahrhunderts einen gewissen Typ Flächen „surfaces reglees", also „linierte Flächen" — was im Deutschen zu „Regelflächen" wurde. Solche Flächen lassen sich nämlich nach einer einfachen Regel herstellen: Man nehme eine Gerade und bewege sie entlang einer Kurve im Raum. „Regelflächen haben im Betonbau mehrere Vorteile: Der

 

Stahl im Inneren des Stahlbetons kann entlang der Geraden ausgelegt und vorgespannt werden. Und man kann die Schalung einfach durch Heißdrahtschneiden erzeugen", erklärt Lordick. Beim Heißdraht-schneiden wird die Schalung aus Hartschaum mithilfe eines heißen geraden Drahts herausgeschnitten. Der Draht wird dabei einfach entlang der Kurve geführt.

         Diese Idee ist eigentlich nicht neu. Die Form von Kraftwerks-Kühltürmen —mathematisch sind das einschalige Dreh-Hyperboloide — wird zum Beispiel durch die Bewegung einer Geraden entlang eines Kreises erzeugt. Architekten wie Le Cor-busier haben sich bereits Ende der 1950er von Regelflächen inspirieren lassen. Lordick will für die Architektur neu erschließen, was seit Jahrzehnten in Lehr- büchern und Modellsammlungen der mathematischen Institute schlummert. Und eventuell lassen sich eines Tages noch ganz andere Formen für die Architektur aufarbeiten, sogenannte algebraische Flächen. Diese Flächen werden mithilfe von Polynomen definiert und können sehr komplizierte und in sich verwundene Strukturen bilden. „Doch das ist Science Fiction", meint Lordick.

Mäbiusband auf der Messe

Denn schon die bekannten gekrümmten Flächen bereiten reichlich Kopfzerbrechen. Schließlich will man nicht nur glatte, geschwungene Betonwände haben, sondern auch gekrümmte Fensterfronten wie in Vifiolys Fryscraper. Die aber setzen sich aus ebenen Einzelteilen zusammen. Dafür gute Zerlegungen — sogenannte Diskretisierungen — zu finden, ist ganz schön kniffelig.

Dieses Problem hatte zum Beispiel die Berliner Architektin Heike Matcha, als sie vor fünf Jahren mit Studierenden der TU Darmstadt einen begehbaren Messestand entwarf. Den Nachwuchs-Architekten war aufgefallen, dass aus einer speziellen Regelfläche, einem Möbiusband, eine ideale Präsentationsfläche entstehen kann: Geht man an einem Möbiusband entlang, kommt man schließlich wieder am Ausgangspunkt an. Und man hat die gesamte Oberfläche gesehen, weil das Band nur eine Seite besitzt.

„Wir fragten uns: Wie kann man das Band in ebene, annähernd trapezförmige Segmente zerlegen, die sich durch Scharniere verbinden lassen, sodass das Band am Ende zu einer stabilen Konstruktion wird?", erinnert sich Matcha. Die Lösung brachte ein Kollege vom mathematischen Institut: Einer seiner Studenten berechnete die Segmente mit einem eigens geschrie-benen Programm.

Heike Matcha hätte auch Thilo Rörig fragen können. Denn der entwickelt als Mathematiker im Sonderforschungs-

 

bereich „Discretization in Geometry and Dynamics" mathematische Unterstüt-zung für Architekten. Er arbeitet an der TU Berlin, in einem Büro aus den 1970er-Jahren, das aussieht wie eine Kreuzung aus Gewächshaus und Raumschiff. Von seinem Arbeitsplatz im achten Stock hat er einen Blick über die Dächer der Stadt —was gut passt, denn Dachkonstruktionen beschäftigen ihn zurzeit, vor allem geschwungene.

So wie bei einem Einkaufszentrum in Leipzig, das vor einigen Jahren gebaut werden sollte: Es ging darum, einen nahezu rechteckigen Innenhof mit einem Glasdach zu überspannen, ungefähr in der Form einer riesigen umgestülpten Badewanne. „Die Ingenieure kamen auf uns zu, weil sie das mit viereckigen ebenen

 

Glasscheiben bauen wollten — und das ist gar nicht einfach", sagt Alexander Boben-ko, der den Sonderforschungsbereich leitet und dort auch die Verbindung zwischen Mathematik und Architektur erforscht.

Umgedrehte Badewanne

Eine Standardlösung aus der Architektur funktioniert etwa so: Man modelliert die umgedrehte „Badewanne" als kontinuierliche Mzier- oder NURBS-Fläche (siehe Kasten S. 60, „Geschwungene Flächen im Raum") — mithilfe von gängiger Software. Dann zerteilt man den Boden des Hofs in ein Dreiecksmuster, projiziert die Knoten der Unterteilung auf die Dachfläche darüber und verbindet dort jeweils drei Punkte zu einem Dreieck. „Drei Punkte liegen immer in einer Ebene", erklärt Rörig. „Doch bei vier Ecken kann es passieren, dass eine Ecke zu tief oder zu hoch liegt. Ein gutes Vierecksgitter zu finden ist daher viel schwieriger. Und die Linienstruktur, die in den NURBS steckt, ist dafür meist nicht brauchbar."

Schnitte durch Schäume

Soll eine Fläche in vier- oder mehreckige Fliesen zerlegt werden, brauchen Archi-tekten daher Tricks oder mathematische Hilfe — oder beides. So griffen die Architekten des Beijing National Aquatics Cen-tre für die Schwimmhalle der Olympiade 2008 in Peking auf eine mathematische Entdeckung zurück: 1993 hatten Denis Weaire und sein damaliger Doktorand Robert Phelan am Trinity College in Dublin herausgefunden, dass man mit Kopien zweier bestimmter eben begrenzter Körper den Raum lückenlos füllen kann. Die Körper bilden sozusagen Blasen in einem Schaum. Sie haben alle dasselbe Volumen, und sie haben wenig Oberfläche gemeinsam. Schneidet man den Schaum mit einem virtuellen Messer durch, dann erhält man an der Schnittfläche ein Blasen-muster. Weil die Blasen nur wenig Fläche gemeinsam haben, fallen die Kanten in der Schnittebene auch eher kurz aus.

Die Wände des Schwimmbads sind eben — aber was ist mit geschwungenen Flächen wie dem Dach des Einkaufszentrums in Leipzig? „Wir haben für die Dis-kretisierung die Krümmung des Dachs genutzt", lautet Thilo Rörigs Antwort. „Unser Vorschlag war, ein Netz aus sogenannten Hauptkrümmungslinien zu bilden. In den Schnittpunkten der Krüm-

 

Das Cafö auf dem Eiffelturm (oben) ist ein architektonisches Meisterstück. Unten ein Möbiusband-Exponat, ausgestellt 2009 im Erfurter Hauptbahnhof: Es hat eine einzige Fläche.

mungslinien stoßen dann meist vier Vierecke aneinander."

Doch die Architekten hatten mit einem nicht gerechnet: Es lässt sich beweisen, dass man ihren Wunsch nach Regelmäßigkeit nicht überall erfüllen kann. An manchen Stellen der Fläche gibt es sogenannte Singularitäten. Dort müssten zum Beispiel Sechsecke verwendet werden oder sechs Vierecke aneinander stoßen. Die Vorschläge der Mathematiker erschienen den Architekten jedoch zu inno

 

vativ, und sie kehrten zur Dreieckszerle-gung zurück.

Mit anderen Ideen hatten die Forscher mehr Erfolg: Helmut Pottmann gestaltete vor Kurzem mit der Firma „Evolute" —einem Spin-Off für Architektur-Geometrie der TU Wien, Ingenieuren und den Architekten von Moatti et Riviere — die Fassade der neuen Pavillons auf dem ersten Stock des Eiffelturms in Paris sowie ein neues Glasdach für den Louvre. Momentan erforscht er zusammen mit AlexanderBobenko und Thilo Rörig das mathematische Potenzial für die künftige Architektur. Der Trend führt weg von ebenen Fliesen, hin zu einer Zerlegung der Flächen in geschwungene abwickelbare Streifen oder noch stärker geschwungene Formen.

Ein Beispiel: Man teilt die Fläche in Vierecksnetze auf, bei denen jede Ecke mit seinen Nachbarn in einer Ebene liegt, deren Vierecke allerdings nicht eben sind. Dann ersetzt man jedes Viereck durch ein gewölbtes Flächenstück, das man passend aus einem Hyperboloid herausschneidet —ein solcher Körper gleicht etwa einem Kühlturm eines Atomkraftwerks. „Die einzelnen Teile sind daher Regelflächen", betont Rörig, „und das freut Betonbauer."

Verzerrter Schwimmreifen

Wenn man das Gitternetz etwas anders wählt — nämlich so, dass man ebene Vierecke hat und um jedes Viereck einen Kreis e legen kann —, dann lassen sich statt der

Hyperboloid-Stücke andere gebogene

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Flächenelemente einsetzen, sogenannte

Dupin'sche Zyklide. Im Prinzip sind das

 

Ausschnitte aus Schwimmreifen, die zu-vor verzerrt wurden. In beiden Fällen hat man ein Patchwork aus gekrümmten Flächen. Doch die Mathematik sorgt dafür, dass alle Übergänge glatt werden.

Diese und andere „strukturerhaltende Diskretisierungen" sind ein Kern des Berliner Sonderforschungsbereichs. Für Architekten verbirgt sich dahinter der Wunsch, dass sie von Anfang an per Software Flächen planen können, die sich gut diskretisie-ren lassen. „Unser Traum ist, dass der gesamte Prozess vom architektonischen Design bis zur Ausführung mathematisch begleitet wird", sagt Thilo Rörig. Die Flächen sollen leicht interaktiv modellierbar sein und zugleich automatisch intelligente Dis-kretisierungen mitliefern. „Trotzdem wird komplexe Architektur immer eine individuelle Lösung sein", ist Rörig überzeugt,

„also mathematische Handarbeit.


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