Architektur der Zukunft
Author D.Selzer-McKenzie
Video: http://youtu.be/RyGDwluLovs
Wenn im Hochsommer der Him-
mel über London blau erstrahlt,
dann kommt Rafael Virioly ins Schwitzen. 2014 weihte der
Architekt eines seiner jüngsten Projekte in der Fen-church Street 20 im Herzen
des Londoner Finanzdistrikts ein: ein 160 Meter hohes Hochhaus. Schon kurz nach
der Eröffnung nannten es Londoner Medien „Fryscraper" (von „fry",
braten). Denn die gewölbte Fassade des Wolkenkratzers, ein Markenzeichen von Viriolys
Architektenbüro, zieht nicht nur die Blicke auf sich, sondern bündelt auch das
Sonnenlicht wie ein Brennspiegel. Mit üblen Folgen: Man könnte an warmen
Mittagen auf dem Gehweg der Fenchurch Street Spiegeleier brutzeln.
Viriolys Büro verwies darauf, dass der Himmel über London
meistens bewölkt sei. Vermutlich hatte sich der Sohn einer Uruguayer
Mathematiklehrerin beim Entwurf mitreißen lassen von einem Trend in der
mathematischen Architektur: Mathematisch betrachtet ist die Fas- sade des
Fryscrapers eine in zwei Raumrichtungen gewölbte Oberfläche, die in rechteckige
Glasflächen zerlegt wurde. Solche doppelt gekrümmten Flächen sind aktuell der
letzte Schrei in der Architektur: Sie sehen hübsch aus — und sie sind teuer, ob
aus Glas oder Beton.
Mathe soll die Kosten drücken
„Im Bauwesen gilt die Faustregel: Eine doppelt gekrümmte
Fläche kostet etwa zehnmal so viel wie eine einfach ge-krümmte", sagt
Daniel Lordick, der am Institut für Geometrie der TU Dresden die Verbindungen
von Architektur und Mathematik erforscht. Der Grund: Betonflächen müssen in
Formen gegossen werden, sogenannten „Schalungen". Und komplizierte
Krümmungen erfordern Schalungen nach Maßanfertigung. Die
Mathematik soll jetzt helfen, die Kosten dafür zu drücken.
Lordick erforscht in einem Schwer-punktprogramm der
Deutschen For-schungsgemeinschaft, wie man geschwungene Flächen mit wenig
Aufwand aus Beton gießen kann. Dabei greift er auf Mathematik zurück, die 200
Jahre alt ist: Der Franzose Jean Nicolas Pierre Hachet-te (1769 bis 1834)
taufte Anfang des 19. Jahrhunderts einen gewissen Typ Flächen „surfaces
reglees", also „linierte Flächen" — was im Deutschen zu
„Regelflächen" wurde. Solche Flächen lassen sich nämlich nach einer
einfachen Regel herstellen: Man nehme eine Gerade und bewege sie entlang einer
Kurve im Raum. „Regelflächen haben im Betonbau mehrere Vorteile: Der
Stahl im Inneren des Stahlbetons kann entlang der Geraden
ausgelegt und vorgespannt werden. Und man kann die Schalung einfach durch
Heißdrahtschneiden erzeugen", erklärt Lordick. Beim Heißdraht-schneiden
wird die Schalung aus Hartschaum mithilfe eines heißen geraden Drahts
herausgeschnitten. Der Draht wird dabei einfach entlang der Kurve geführt.
• Diese Idee
ist eigentlich nicht neu. Die Form von Kraftwerks-Kühltürmen —mathematisch sind
das einschalige Dreh-Hyperboloide — wird zum Beispiel durch die Bewegung einer
Geraden entlang eines Kreises erzeugt. Architekten wie Le Cor-busier haben sich
bereits Ende der 1950er von Regelflächen inspirieren lassen. Lordick will für
die Architektur neu erschließen, was seit Jahrzehnten in Lehr- büchern und
Modellsammlungen der mathematischen Institute schlummert. Und eventuell lassen
sich eines Tages noch ganz andere Formen für die Architektur aufarbeiten,
sogenannte algebraische Flächen. Diese Flächen werden mithilfe von Polynomen
definiert und können sehr komplizierte und in sich verwundene Strukturen
bilden. „Doch das ist Science Fiction", meint Lordick.
Mäbiusband auf der Messe
Denn schon die bekannten gekrümmten Flächen bereiten
reichlich Kopfzerbrechen. Schließlich will man nicht nur glatte, geschwungene
Betonwände haben, sondern auch gekrümmte Fensterfronten wie in Vifiolys
Fryscraper. Die aber setzen sich aus ebenen Einzelteilen zusammen. Dafür gute
Zerlegungen — sogenannte Diskretisierungen — zu finden, ist ganz schön
kniffelig.
Dieses Problem hatte zum Beispiel die Berliner Architektin
Heike Matcha, als sie vor fünf Jahren mit Studierenden der TU Darmstadt einen
begehbaren Messestand entwarf. Den Nachwuchs-Architekten war aufgefallen, dass aus
einer speziellen Regelfläche, einem Möbiusband, eine ideale Präsentationsfläche
entstehen kann: Geht man an einem Möbiusband entlang, kommt man schließlich
wieder am Ausgangspunkt an. Und man hat die gesamte Oberfläche gesehen, weil
das Band nur eine Seite besitzt.
„Wir fragten uns: Wie kann man das Band in ebene, annähernd
trapezförmige Segmente zerlegen, die sich durch Scharniere verbinden lassen,
sodass das Band am Ende zu einer stabilen Konstruktion wird?", erinnert
sich Matcha. Die Lösung brachte ein Kollege vom mathematischen Institut: Einer
seiner Studenten berechnete die Segmente mit einem eigens geschrie-benen
Programm.
Heike Matcha hätte auch Thilo Rörig fragen können. Denn der
entwickelt als Mathematiker im Sonderforschungs-
bereich „Discretization in Geometry and Dynamics"
mathematische Unterstüt-zung für Architekten. Er arbeitet an der TU Berlin, in
einem Büro aus den 1970er-Jahren, das aussieht wie eine Kreuzung aus
Gewächshaus und Raumschiff. Von seinem Arbeitsplatz im achten Stock hat er
einen Blick über die Dächer der Stadt —was gut passt, denn Dachkonstruktionen
beschäftigen ihn zurzeit, vor allem geschwungene.
So wie bei einem Einkaufszentrum in Leipzig, das vor einigen
Jahren gebaut werden sollte: Es ging darum, einen nahezu rechteckigen Innenhof
mit einem Glasdach zu überspannen, ungefähr in der Form einer riesigen
umgestülpten Badewanne. „Die Ingenieure kamen auf uns zu, weil sie das mit
viereckigen ebenen
Glasscheiben bauen wollten — und das ist gar nicht
einfach", sagt Alexander Boben-ko, der den Sonderforschungsbereich leitet
und dort auch die Verbindung zwischen Mathematik und Architektur erforscht.
Umgedrehte Badewanne
Eine Standardlösung aus der Architektur funktioniert etwa
so: Man modelliert die umgedrehte „Badewanne" als kontinuierliche Mzier-
oder NURBS-Fläche (siehe Kasten S. 60, „Geschwungene Flächen im Raum") —
mithilfe von gängiger Software. Dann zerteilt man den Boden des Hofs in ein
Dreiecksmuster, projiziert die Knoten der Unterteilung auf die Dachfläche darüber
und verbindet dort jeweils drei Punkte zu einem Dreieck. „Drei Punkte liegen immer
in einer Ebene", erklärt Rörig. „Doch bei vier Ecken kann es passieren,
dass eine Ecke zu tief oder zu hoch liegt. Ein gutes Vierecksgitter zu finden
ist daher viel schwieriger. Und die Linienstruktur, die in den NURBS steckt,
ist dafür meist nicht brauchbar."
Schnitte durch Schäume
Soll eine Fläche in vier- oder mehreckige Fliesen zerlegt
werden, brauchen Archi-tekten daher Tricks oder mathematische Hilfe — oder
beides. So griffen die Architekten des Beijing National Aquatics Cen-tre für
die Schwimmhalle der Olympiade 2008 in Peking auf eine mathematische Entdeckung
zurück: 1993 hatten Denis Weaire und sein damaliger Doktorand Robert Phelan am
Trinity College in Dublin herausgefunden, dass man mit Kopien zweier bestimmter
eben begrenzter Körper den Raum lückenlos füllen kann. Die Körper bilden
sozusagen Blasen in einem Schaum. Sie haben alle dasselbe Volumen, und sie haben
wenig Oberfläche gemeinsam. Schneidet man den Schaum mit einem virtuellen
Messer durch, dann erhält man an der Schnittfläche ein Blasen-muster. Weil die
Blasen nur wenig Fläche gemeinsam haben, fallen die Kanten in der Schnittebene
auch eher kurz aus.
Die Wände des Schwimmbads sind eben — aber was ist mit
geschwungenen Flächen wie dem Dach des Einkaufszentrums in Leipzig? „Wir haben
für die Dis-kretisierung die Krümmung des Dachs genutzt", lautet Thilo
Rörigs Antwort. „Unser Vorschlag war, ein Netz aus sogenannten
Hauptkrümmungslinien zu bilden. In den Schnittpunkten der Krüm-
Das Cafö auf dem Eiffelturm (oben) ist ein architektonisches
Meisterstück. Unten ein Möbiusband-Exponat, ausgestellt 2009 im Erfurter
Hauptbahnhof: Es hat eine einzige Fläche.
mungslinien stoßen dann meist vier Vierecke
aneinander."
Doch die Architekten hatten mit einem nicht gerechnet: Es
lässt sich beweisen, dass man ihren Wunsch nach Regelmäßigkeit nicht überall
erfüllen kann. An manchen Stellen der Fläche gibt es sogenannte Singularitäten.
Dort müssten zum Beispiel Sechsecke verwendet werden oder sechs Vierecke
aneinander stoßen. Die Vorschläge der Mathematiker erschienen den Architekten
jedoch zu inno
vativ, und sie kehrten zur Dreieckszerle-gung zurück.
Mit anderen Ideen hatten die Forscher mehr Erfolg: Helmut
Pottmann gestaltete vor Kurzem mit der Firma „Evolute" —einem Spin-Off für
Architektur-Geometrie der TU Wien, Ingenieuren und den Architekten von Moatti
et Riviere — die Fassade der neuen Pavillons auf dem ersten Stock des
Eiffelturms in Paris sowie ein neues Glasdach für den Louvre. Momentan
erforscht er zusammen mit AlexanderBobenko und Thilo Rörig das mathematische
Potenzial für die künftige Architektur. Der Trend führt weg von ebenen Fliesen,
hin zu einer Zerlegung der Flächen in geschwungene abwickelbare Streifen oder
noch stärker geschwungene Formen.
Ein Beispiel: Man teilt die Fläche in Vierecksnetze auf, bei
denen jede Ecke mit seinen Nachbarn in einer Ebene liegt, deren Vierecke
allerdings nicht eben sind. Dann ersetzt man jedes Viereck durch ein gewölbtes
Flächenstück, das man passend aus einem Hyperboloid herausschneidet —ein
solcher Körper gleicht etwa einem Kühlturm eines Atomkraftwerks. „Die einzelnen
Teile sind daher Regelflächen", betont Rörig, „und das freut
Betonbauer."
Verzerrter Schwimmreifen
Wenn man das Gitternetz etwas anders wählt — nämlich so,
dass man ebene Vierecke hat und um jedes Viereck einen Kreis e legen kann —,
dann lassen sich statt der
Hyperboloid-Stücke andere gebogene
1,>
Flächenelemente einsetzen, sogenannte
Dupin'sche Zyklide. Im Prinzip sind das
Ausschnitte aus Schwimmreifen, die zu-vor verzerrt wurden.
In beiden Fällen hat man ein Patchwork aus gekrümmten Flächen. Doch die
Mathematik sorgt dafür, dass alle Übergänge glatt werden.
Diese und andere „strukturerhaltende Diskretisierungen"
sind ein Kern des Berliner Sonderforschungsbereichs. Für Architekten verbirgt
sich dahinter der Wunsch, dass sie von Anfang an per Software Flächen planen
können, die sich gut diskretisie-ren lassen. „Unser Traum ist, dass der gesamte
Prozess vom architektonischen Design bis zur Ausführung mathematisch begleitet
wird", sagt Thilo Rörig. Die Flächen sollen leicht interaktiv modellierbar
sein und zugleich automatisch intelligente Dis-kretisierungen mitliefern.
„Trotzdem wird komplexe Architektur immer eine individuelle Lösung sein",
ist Rörig überzeugt,
„also mathematische Handarbeit.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen
Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.