Das Gehirn von Zebrafischen
Author D.Selzer-McKenzie
Video: http://youtu.be/2M2kZolBbdM
Es ist ein schöner Tag im Fluss. Freddy, ein junger
Zebrafisch, i
schwimmt fröhlich herum. Er geht
auf Entdeckungsreise. Seine stecknadel-großen Glubschaugen
scannen den Boden ab. Plötzlich wird ihm sehr heiß. Hier scheint die Sonne
offenbar besonders stark. Doch Freddy gerät nicht in Panik, sondern schwimmt
ruhig auf das linke -g> Flussufer zu. Er weiß, dass er sich dort ab] kühlen
kann. Am rechten Ufer ist das nicht möglich — das hat er heute schon ein paar
Mal erfolglos ausprobiert. Und 1 schon geht es munter weiter auf
Erkundungstour. Der Schein trügt: Nichts ist real an diesem Szenario. Den Fluss
gibt es nicht. Freddy schwimmt auch nicht durchs Wasser. Stattdessen bietet
sich dem Beob-achter ein bizarrer Anblick: In einem abgedunkelten Raum liegt
ein winziger Fischkörper reglos auf einer Petrischale. Das Tierchen ist noch
ganz jung — es ist eine Fischlarve, die nicht im Wasser sein muss, um zu
überleben. Der Luftsauerstoff kann das Tier am Leben halten, solange sein
Körper feucht ist. Ein Paraly-tikum hat es komplett bewegungsunfähig gemacht.
In den Flanken des Jungfischs stecken Mini-Elektroden. Sie
messen die Aktivi-tät der motorischen Nervenzellen der Schwanzflosse, mit denen
er sich im Wasser vorwärts bewegen kann. Über dem gelähmten Tier schwebt das
Objektiv eines 500000 US-Dollar teuren Laser-mikroskops. Unter ihm befindet
sich der „Fluss" — er ist nichts weiter als ein Monitor, der einen Film
mit vorbeiziehenden Balken zeigt. Und die „Sonne" ist nur ein über der
Larve angebrachter Laserstrahler.
Grund der clever inszenierten Illusion: Florian Engert von
der amerikanischen Universität Harvard will mit seinen virtu-ellen
Fischversuchen in die Gehirne von eine saugute Idee", sagt der Forscher in
Zebrafischen schauen, während diese astreinem Bayrisch und verrät damit nach
dem Motto „Ich denke, also nicht nur seine Münchner Herkunft, son-schwimme
ich" im Dienst der Wissen- dem auch eine gehörige Portion Selbst-
schaft im Einsatz sind. bewusstsein.
„Die lernen in wenigen Minuten, wie
sie den Laser mit einem Schlag der Experimente im Cyberspace
Schwanzflosse ausschalten können", be-
richtet Florian Engert. Gut 30 000 Zebra- Worauf Florian
Engert stolz ist: Er ist der fische beherbergt der quirlige Professor erste
Forscher, der Zebrafische in den im muffigen Kellergeschoss des biologi-
Cyberspace gesteckt hat. Dort setzt er schen Instituts in Boston. Auf scheinbar
Freddy & Co unterschiedlichen Reizen endlos langen Regalreihen stehen 18
000 aus und beobachtet dabei einerseits die Aquarien, jedes ungefähr so groß
wie eine Cornflakes-Packung. „Die virtuellen Experimente machen wir nur mit den
Babys", schreit Engert gegen den Lärm der Wasserpumpen an. Denn die
Jungfische sind durchsichtig, weshalb Engert ihnen direkt ins Gehirn schauen
kann.
Flink läuft der in Sandalen und Jeans gekleidete
Neuro-wissenschaftler aus Deutschland ein paar Dutzend Aquarien ab, kann gerade
aber keine Larven finden. Stattdessen zeigt er auf ein Exemplar, dessen
blaugestreifter Bauch deutlich größer ist als der seiner Artgenossen. „Hier
stecken sie drin, die Babys, bald gibt's Nachwuchs!" Knapp 200 neue
Testtiere wird das Weibchen dem Forscher bescheren. „Nur wenige Tage, nachdem
die Larven aus den Eiern geschlüpft sind, kommen sie in die Matrix", sagt
Engert.
Der Neuroforscher hat viel vor mit ihnen. Der Name
„Matrix", den er seinem vir-
tuellen Aquarium gegeben hat, ist eine Aktivität einzelner
Gehirnzellen, ande-Anspielung auf den gleichnamigen rerseits auch die
Gesamtaktivität aller Science-Fiction-Film, in dem Menschen, 100 000 Neurone.
Hitze, Lärm und Licht deren Gehirne mit einer Cyber-Welt ver- sind Stimuli, die
Engerts Matrix mit bunden sind, in futuristischen Einmach- Leben füllen. Der
Forscher will etwa he-gläsern leben. Engerts Kunstwelt dient rausfinden, wo bei
einem Zebrafisch das dazu, die „größte Herausforderung des „Links", das
„Rechts" und das „Anhal-21. Jahrhunderts" zu meistern, wie er
ten" codiert sind. Und welche Schaltkrei-sagt: in der Gehirnaktivität
eines lebenden se aktiv sind, wenn er Angst hat.
Organismus eine Erklärung für sein Ver- Andere „Cyber-Forscher" arbeiten lie-
halten zu finden. „Die Matrix ist einfach ber mit
Nagetieren. David Tank von der Princeton-Universität etwa setzt _\ !: auf einen
rotierenden Ball und läs,7 darauf durch ein virtuelles Labyrinf-. fen, das sich
vor ihren Augen auf e.-großen Monitor entfaltet. Doch pocht auf seinen Ansatz.
„Ein Mäust: ist eine Million Mal so groß wie das Zebrafischs", erklärt er.
Daher lässt mit den Fischen viel leichter arbeiten. dem gibt es gegenwärtig
keine Mög keit, die Aktivität der rund 75 Millic Neurone, die ein Mäusehirn
ent: gleichzeitig zu visualisieren. Um dieses Zusammenspiel in einem sich
bewegenden Fisch (oder in einem, der denkt, er würde sich bewegen)
nachzuvollziehen, muss er ins virtuelle Aquarium. „Leider kann ich mit meinem
Mikroskop nicht in den Fluss und neben dem Fisch her schwimmen", flachst
Engert, während er vor einem zu einer Seite hin offenen schwarzen Kasten steht.
Darin befindet sich das selbstgezimmerte Herzstück seiner Forschung: die
Matrix. Ganze fünf Exemplare gibt es davon am Institut. Ihre Komponenten sind
überschaubar: Es gibt ein Objektiv, das auf mehreren schwarzen Würfeln steckt,
in denen sich Spiegel für den Laser befinden, außerdem eine durchsichtige
Plexiglas-platte, auf die der Fisch kommt, Halterungen für die Elektroden und
einen kleinen Monitor. Kabel verbinden die Einzelteile miteinander.
Wie im Flugsimulator
Kaum vorstellbar, dass dieses etwa ein Meter hohe Konstrukt
genügt, um dem Fisch eine „heile Unterwasserwelt" vor-zugaukeln. Doch „ein
optischer Reiz reicht aus, um Bewegung zu simulieren", weiß Engert — wie
wenn man in einem stehenden Zug sitzt, aus dem Fenster schaut und plötzlich
meint, die Fahrt geht los. Dabei ist nur der Zug auf dem Nebengleis
losgefahren.
„Sobald wir den Monitor einschalten und das Strichmuster
erscheint, will der Fisch schwimmen", erklärt Engert. Ihm ginge es so wie
einem Menschen in einem Flug- oder Fahrsimulator: Wenn der etwa nach links
will, bewegt sich Monitor mit dem Streifenfilm blitzschr.-nach rechts.
„Schwimmt" der Fis_ schneller — die im Fisch steckenden El: troden messen
dann eine höhere neun): le „Feuerfrequenz" —, rauschen die Str: fen
rasanter unter ihm hindurch. Engert während seiner Experimente un:, dem
Mikroskop beobachtete, überrasch-ihn. „Für das Schwimmen sind nur etv 100
Zellen verantwortlich", berichtet Er hatte mit viel mehr gerechnet.
In einem anderen Experiment verlit Engert seinen Fischen
Superkräfte. D war einfach — er musste den Streifenfil-nur etwas schneller
abspielen, als die A. tivität der Nervenzellen vorgab. „D Fische lernten in
wenigen Minuten, ihr Kräfte sparsamer einzusetzen", bericht: er. Umgekehrt
führen die Fische bei ein,, zu langsam ablaufenden Unterwasserwe.-viel
schnellere „Schwimmbewegunger - aus. Offenbar erscheinen ihnen ihre Mus kein
dann ungewöhnlich schwach.
Florian Engert stellte fest: Es gibt eir.: ganze Reihe von
Neuronen, die nur diesen Situationen aktiv sind. Offenba-signalisieren sie:
Achtung! Hier stimm-etwas nicht! „Eine Gruppe von Zelle- feuert, wenn der Fisch
meint, zu viel Kra:-zu haben, eine andere, wenn er meint, z wenig Kraft zu
haben", erklärt de: Forscher.
Engert und sein 20-köpfiges Team fanden noch weitere
Aktivitätsmuster irr Gehirn der jungen Fische, die spezifisch sind für
bestimmte Situationen. So gibt es Nervenzellen, die immer dann feuern. wenn ein
Fisch nach mikroskopisch kleinen Beutetieren jagt. Zufrieden ist Engen
‘..3 mit solchen Ergebnissen noch lange nicht. Selbstkritisch
vergleicht er die Früchte seiner Arbeit mit einem Radio, das in seine
Einzelteile zerlegt wurde: Aus den Bausteinen lässt sich nicht erkennen, wie
das Gerät funktioniert. „Wir haben Wissen akkumuliert, aber wenig
Verständnis", resümiert er. „Und ich möchte wissen, wie ein Fisch
funktioniert."
Wissenschaftliche Neugierde hatte Florian Engert bereits als
Schüler. Eines seiner Lieblingsfächer war Physik, wes-halb er sich nach seinem
Abitur für ein Physik-Studium entschied. Nach dem Abschluss wechselte er in die
Biowissenschaften — was er einem zufälligen Gespräch mit einem Nachbarn zu
verdanken hatte, der am Max-Planck-Institut für Neurobiologie in München
arbeitete. Der junge Physiker entschied sich, dort mit einer Doktorarbeit über
Plastizität im Rattenhirn zu promovieren. Seitdem steht für Engert fest: Er
will begreifen, wie das Gehirn arbeitet.
1999 wechselte er an die Universität San Diego in
Kalifornien, wo er Kaul-quappen ins Hirn schaute, drei Jahre später begann er
in Harvard mit Zebra-fischen zu arbeiten. „,Simplifizierung, Simplifizierung' —
das hat Eric Kandel immer gesagt." Mit dem Zitat des berühmten
österreichischen Hirnforschers begründet Florian Engert, warum er heute
nicht mehr mit Ratten, sondern mit Fi-schen arbeitet. Eine
ungewöhnliche Laufbahn — aber sie passt zu Engerts Vorliebe für Risiko und
Abenteuer. Der. Wissenschaftler trägt auch während der kalten Ostküstenwinter
Muskel-Shirts, fährt ohne Helm Motorrad und wurde 2012 beim Skifahren auf dem
Hochglück in Tirol bei gesperrter Piste beinahe unter einer Lawine begraben.
Tennis, Squash und Hockey
Und es gibt wohl kaum einen anderen Harvard-Professor, der
mit Rollschuhen zur Arbeit fährt und eine respektable Sammlung von Tennis-,
Squash- und Hockey-Schlägern sowie dazu passendes Schuhwerk neben seinem
Schreibtisch aufweisen kann. Über Engerts Bürotür hängt eine schwarze
Metallstange. „Jeder Besucher muss 20 Klimmzüge machen", witzelt der
sportliche Professor — doch ein Blick auf seine freien Oberarme verrät, für wen
die Stange gedacht ist.
Zu Beginn seiner Karriere hat die eher konservative
Universitätsverwaltung versucht, den hyperaktiven Neuzugang in seine Schranken
zu weisen: Plötzlich tauchten Schilder mit „no rollerblading" im Institut
auf. Aber diese verschwanden fast über Nacht, als Engert 2009 zum
ordentlichen Professor ernannt wurde. „Jetzt kann ich mir
fast alles erlauben", sagt Engert augenzwinkernd und ergänzt scherzhaft,
er hätte mal gehört, dass in der Hierarchie nach einem Harvard-Professor nur
noch Gott komme.
Mit seinem nächsten Projekt „Zebra-fisch Connectom"
möchte der Vater zweier Kinder im Alter von 6 und 19 Jahren in die Annalen der
Neurowissen-schaften eingehen. Gemeinsam mit dem ebenfalls in Harvard wirkenden
Forscher Jeff Lichtman, ein Spezialist für Elektronenmikroskopie, will er eine
„Gehirnkarte" erstellen. Sie soll zeigen, wie sämtliche Neurone im Kopf
miteinander ver-
bunden sind.
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