Die Fabriken von morgen
Author D.Selzer-McKenzie
Video: http://youtu.be/nzx6hNewYmU
In der Fabrik von morgen sind Bauteile, Produkte und
Maschinen komplett miteinander vernetzt. Deutschland treibt diese Entwicklung
weltweit führend voran.
A uf der Hannover Messe Industrie im April war es das
zentrale Schlagwort, das viele Aussteller und Messebesucher elektrisierte:
Industrie 4.0. Ein griffiges Kürzel, das nach Ansicht von Produktionsexperten
für einen Umsturz in den Fabriken steht, der die Art, wie Waren produziert
werden, radikal verändern wird. Doch das Thema bewegt nicht nur Fachleute aus
der Industrie, wie eine kurze Suche im Internet beweist: Nach 0,45 Sekunden
zeigt Google fast 200 000 Ergebnisse an. Industrie 4.0 steht für die vierte industrielle
Revolution — nach der Einführung der Dampfmaschine (1.0), des Fließbandes (2.0)
und des Computers (3.0) in der Industrie.
Seit Ende 2011 beschäftigt sich Dagmar Dirzus,
Geschäftsführerin der VDI/ VDE-Gesellschaft Mess- und Automati-sierungstechnik
aus Düsseldorf, mit dem Thema. Für die Wissenschaftlerin ist In-dustrie 4.0 die
„komplette Vernetzung aller Teilnehmer an der Wertschöpfung: aller Bauteile,
Produkte, Maschinen, Produktions- und Managementsysteme, Mitarbeiter bis hin zu
den Dienstleistungen über den gesamten Lebenszyklus".
Kommunizierende Küchenteile
Auf dem Weg zu 4.0 sind nicht nur Institute, Hochschulen und
Konzerne, sondern auch ein bodenständiger ostwestfälischer Hersteller aus Verl
bei Gütersloh. Bei Nobilia, nach eigenen Angaben der größte Küchenhersteller in
Europa, entstehen pro Jahr rund 580 000 komplett
mit sämtlichen Elektrogeräten bestückte Küchen.
Betriebsleiter Martin Henken-johann betont: „Wir liefern die Küchen mit einer
Liefertreue von 99,8 Prozent weltweit zum gewünschten Termin aus." Dieses
Ziel erreicht Nobilia nur mit einem ausgeklügelten Produktionssystem. Denn
eines der größten Probleme ist die Vielfalt: Fast jede Küche ist ein Unikat.
Viele Bau-teile wie Schubladen oder Schranktüren sind Spezialanfertigungen.
Die Produktionsanlage holt sich vom Computer des
Küchenkonstrukteurs bei-spielsweise alle Daten zum Herstellen der
Schubladenteile und ihrer späteren Montage. Alle Bauteile erhalten
Strichcode-Etiketten, die Mitarbeiter — ähnlich wie Supermarkt-Kassiererinnen —
mit einem Lesegerät scannen. Allerdings wäre es zu aufwendig und zu teuer,
jeden Arbeitsplatz mit einem manuellen Scanner auszustatten. Daher ersetzen die
Ostwestfalen die Strichcodes zum Teil durch winzige Funketiketten (RFID-Tag),
die Produktionsdaten auf einem Chip speichern. Dank der lückenlosen Überwachung
per Funk wird verhindert, dass die falsche Schublade in eine Küche kommt. Und
durch die RFID-Tags erhält das Planungssystem alle 30 Sekunden von allen
Stationen über 1200 Antennen Meldungen über den4roduktionsfortschritt: Die
Betriebs-leitAg kennt stets den Stand der Dinge und kann schnell gegensteuern.
Eine enorme Leistung, denn das System muss jeden Tag 20 Millionen Daten
verarbeiten.
Beim Maschinenhersteller Trumpf aus Ditzingen bei Stuttgart
werden Funketiketten ebenfalls trickreich genutzt: Klaus Bauer, Leiter der
Abteilung Systementwicklung von Basistechnologien, sah es als enorme
Zeitverschwendung an, dass optische Linsen von Lasern nach jedem
verschleißbedingten Wechsel umständlich neu eingestellt werden müssen. Trumpf
erfand daher eine intelligente Fokussier-linse, die sich selbst justiert. Dazu
erhielt die Linse ein Funketikett (RFID-Tag), auf
dem sich alle wichtigen Informationen — also Brennweite und
korrekte Einbaulage — zum Einstellen befinden. Der Bediener muss nur noch die
Lensline RFID in das Lasersystem stecken, der Rest geschieht automatisch,
ähnlich wie beim Anschluss eines neuen Druckers an einen Computer. Trumpf
speichert auch die Einsatzzeiten auf dem RFID-Tag: Der Maschinenbediener erhält
rechtzeitig Informationen, wann er eine Linse reinigen oder wegen Verschleiß
auswechseln soll.
Schwarmintelligenz in der Lagerhalle
Und wie könnte die perfekte Fabrik 4.0 aussehen? Konkrete
Ideen dazu entstehen zurzeit in kleinen wissenschaftlichen Modellfabriken am
Dortmunder Fraunhofer-Institut für Materialfluss und Logistik (IML). Die
Lösungen dort sollen bezahlbar und leicht realisierbar sein. Michael
ten Hompel, Geschäftsführender kmmim-teiter, verwendet in
seiner Versuchsani Sensoren und Elektronik mit geringen Stromverbrauch und
Systeme, die
sche Energie aus natürlichen Quellen Umgebungstemperatur
gewinnen, per genanntem Energy Harvesting. Die Wem-falen haben damit eine
Logistik-Versueur-anlage mit 50 völlig autonom fahrenäen Mobilen gebaut, die
mit 3-D-Laserreer-nik ihre Umgebung scannen und sia gen orientieren. „Sie
bewegen sich mit eleir Schwarmintelligenz selbstständig — ohne irgendeinen
Leitdraht im Boden", erliz.zet1 - ten Hompel.
Unter Schwarmintelligenz oder Kai-lektiver Intelligenz
verstehen die Forste sinnvolle Handlungen, die durch das er-schickte
Zusammenwirken von vielen Lebewesen oder Robotern zustande korrre-men. Die
Fahrzeuge fahren ins Regal. bestellen Ware, die per Lift ausgeliefert. nen Sie
sich dagegen innerhalb kürzester Zeit eine MES-App herunterladen, die
Datenverbindung herstellen und die Daten in die Cloud laden."
Training live und in Farbe
Und welche Rolle spielt bei 4.0 der Mensch — wird er
überhaupt noch ge-braucht? Den Albtraum mancher Kritiker von der menschenleeren
Fabrik teilt Siemens-Vorstand Siegfried Russwurm nicht. Er spricht von einer
wachsenden Bedeutung des Mitarbeiters in der Fabrik von morgen. Gefragt sei
allerdings hoch quali-fiziertes Personal, während man ange-lernte Arbeitskräfte
langfristig wohl kaum mehr bräuchte. Doch auch gering Qualifizierte haben eine
Chance: So hat der Spezialist für Aus- und Weiterbildung Festo Didactic Anlagen
entwickelt, auf denen Mitarbeiter den Industrie-4.0-Alltag live, in Farbe und
gefahrlos trainieren können, um sich für höherwertige Tätigkeiten zu
qualifizieren. Das kann extern geschehen, im Idealfall aber besser intern in
einer eigenen, kleinen Lernfabrik.
84 bild der
wissenschaft 7-2015
Fest steht: Gut geschulte Fachkräfte werden gebraucht. Das
Bundesministe-rium für Bildung und Forschung (BMBF) setzt dabei auf
„selbstorganisierte Per-sonaleinsatzplanung ä la Industrie 4.0". Dazu
haben Forscher im BMBF-Projekt KapaflexCy unter dem Motto „Smart-phone schlägt
Stechuhr" nützliche Apps entwickelt. Mit ihnen können die Mitarbeiter auf
ihrem Handy eine Einsatzanfrage mit exakten Angaben etwa zum Arbeitsinhalt,
Auftrag und Kunden sowie zur Bezahlung empfangen.
Jedem Mitarbeiter wird zudem anhand seines Zeitkontos
angezeigt, wie viel Kapazitäten er noch frei hat. Er kann sich dann per App um
Sonderschichten bewerben. Laut den Projektbeteiligten lässt sich die Aufgabe
per Smartphone oder Tablet-Computer technisch leicht lösen. Zu klären sei aber
noch die Arbeitssicherheit: Wann darf der Mitarbeiter „angemailt" werden:
Kann eine Smartphone-Anfrage den Werker an der Maschine in gefährlicher Weise
von seiner Arbeit ablenken?
Die neue smarte Fabrik könnte auch einen ganz anderen Umgang
mit Energie
Für Schiffbauingenieure wird die Konstruktion und Fertigung
durch die virtuelle Realität ein-facher und schneller (im Bild: ergonomische
Simulation).
ermöglichen. So regt Trumpf-Systeme-10-wickler Klaus Bauer
an, Industrie 4.0 zr Vernetzung mit der Energieversorgung nutzen. Seine Idee:
„Warum sollte die mt der Maschine entstehende Energie rüde gespeichert und ins
Netz eingespeist wey-den, um dafür Geld zu bekommen?" Du ist kein
Wunschtraum, sondern wird lx-reits ansatzweise in einer neuen Fabrik des
Unternehmens verwirklicht.
Industrie 4.0 ist also deutlich mehr als ein griffiges Schlagwort.
Immer wie% erhalten deutsche Spitzenmanager err-sprechende Anfragen aus dem
Ausland_ Und Ende Oktober 2013 hielt Siemens-Vorstand Russwurm in Peking einer
Vortrag vor der angesehenen „Chinese Academy of Engineering" zu dem Thema_
Die Deutsche Welle dort sendete seinem Kommentar: „In China ist man hochgradig
an Industrie 4.0 interessiert. Die deutschen Hersteller und auch die deutschem
Wissenschaftsinstitute, die daran arbei-ten, werden weltweit als Vorreiter
ge-sehen. Und das zu Recht, davon bin ic
fest überzeugt."
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