Tätowierung
Author D.Selzer-McKenzie
Video: http://youtu.be/1w5nye_PBgE
österreich-ungarische Kaiserin Sissi war tätowiert. Sie trug
einen Anker auf der linken Schulter, wie ein Hafenarbeiter oder Seemann.
Sis-sis Gatte, Kaiser Franz Joseph, reagierte darauf angeblich ziemlich
ungehalten. Zumal sie sich das Tattoo heimlich in einer griechischen
Hafenkneipe hatte ste-chen lassen — mit 51 Jahren. Kein Bildnis der lieblichen
Kaiserin hat dieses „Schandmal" je gezeigt. Damals, Ende des 19.
Jahrhunderts, haftete Tätowierungen noch etwas Verruchtes an, ein Hauch von
kriminellem Milieu und Prostitution — Hafenkneipe eben.
In den letzten Jahrzehnten hat sich das sittenlose Image
gegeben. Inzwischen gilt
ein Tattoo regelrecht als Körperschmuck für jedermann. Einer
Studie der Universität Bochum zufolge ist fast jeder zehnte Deutsche tätowiert,
die meisten mit einem Zeichen ewiger Freundschaft, einem kleinen Symbol oder
schmückenden Ornament. Das war ursprünglich, weit vor Sis-sis Zeiten, noch ganz
anders. Wie Archäo-logen und Volkskundler herausgefunden haben, sind
Tätowierungen etwas kulturell absolut Fundamentales. Wahrscheinlich gab es sie
schon in der Steinzeit: „Forscher vermuten mittlerweile, dass sie parallel zum
Sesshaftwerden des Menschen, vielleicht sogar noch früher mit der Entwicklung
der darstellenden Kunst entstanden sind", sagt Igor
EberhardKulturanthropologe an der Universität Wien. Bis in die Neuzeit, ja bei
manchen indigenen Völkern bis heute, spielten Tätowierungen eine bedeutende
Rolle, oft eine lebenswichtige.
So zum Beispiel bei einer weiteren Ad-ligen — zumindest
wurde sie von den Me-dien dazu erkoren, nämlich zur „Eisprin-zessin von
Ukok". Es handelt sich um eine Mumie, die ein russisches Archäologen-Team
1993 im sibirischen Altai-Gebirge fand. Die Eisfrau lag auf dem kargen
Ukok-Plateau, verborgen in einem Kur-gan, einem Grabhügel, wie er beim
Reitervolk der Skythen und ihrer Pazyryk-Kul-tur üblich war. Die Menschen
dieser Kultur lebten vom 6. bis zum 2. Jahrhundert v.Chr. in der sibirischen
Steppe. Eingeschlossen in einer hölzernen Kammer, von Steinen überdeckt, war
die Mumie im ewigen Eis konserviert.
Ein Zeichen von Adel
•
Eine Analyse der Jahresringe im Holz sowie des Mageninhalts
der als Grabbeigabe beigesetzten Pferde ergab, dass die Eisprinzessin im 5.
Jahrhundert v.Chr. ge-lebt haben muss. Sie war bei ihrem Tod zwischen 20 und 30
Jahre alt. Die Pferde und andere Beigaben, ihre edle Kleidung aus Seide und
Pelz sowie ein reich verzierter Hut, der den Kopf fast einen Meter hoch
überragt haben muss, zeugen vom hohen Status der Frau. Genauso wie die
zahlreichen Tätowierungen auf ihrer Haut: Schulter, Handgelenke und Lenden, ja
sogar die Daumen waren von Vögeln, Hirschen und anderen mythischen Tieren überzogen.
Bei den Skythen war das vermutlich eine Art Auszeichnung. Um 450 v.Chr. merkte
der griechische Schreiber Herodot an, dass unter den Thrakern, den nächsten
Nachbarn der Schwarz-meer-Skythen, „Tätowierungen ein Zeichen von Adel sind —
wer keine hat, ist von niederem Stand".
Wahrscheinlich war die Dame vom Ukok-Plateau aber eher
Priesterin als Prinzessin — womöglich auch Erzählerin oder
Kriegerin, denn die Skythen waren berüchtigt für ihre
Amazonen, wie es die griechischen Schriftsteller Herodot und Pseu-
do-Hippokrates im 5. Jahrhundert v.Chr. plastisch
beschrieben. Ganz ähnliche Tat-toos zieren die Haut männlicher Skythen-
Mumien aus derselben Zeit. „Es gibt Theorien, wonach die
Skythen Arme, Beine und vor allem Gelenke mit Tätowierungen versehen haben, um
gerade diese Teile, die für das Überleben besonders wichtig waren, besser zu
schützen", sagt der Archäologe Hermann Parzinger, Präsident der Stiftung
Preußischer Kulturbesitz. Er hat einen skythischen Krieger im Altai ausgegraben
und im Anatomischen Institut der Universität Göttingen untersucht. Für die
Skythen waren Tat-toos demnach nicht nur Schmuck und Rangabzeichen. Sie sollten
auch Kraft und Macht verleihen und auf rituelle Weise vor Verletzungen
bewahren.
Von keinem anderen Volk kennen wir ältere bildhafte
Tätowierungen als von den Skythen — also komplexe figürliche Ornamente. Doch
die Skythen waren bei-leibe nicht die Ersten, die sich tätowierten. Und nicht
die Ersten, die sich davon Schutz und Heilung versprachen. Auch die wohl
bekannteste Mumie der Welt, der Mann vom Hauslabjoch, kurz Ötzi, ist tätowiert.
Mit gut 5300 Jahren ist er mehr als doppelt so alt wie die Altai-Mumien — und
war von eher geringem
Rang, vermutlich ein einfacher Hirte. 61 >. Tätowierungen
haben die Wissenschaftler j
des Bozener „Eurac-Instituts für Mumien und den Iceman"
an Ötzis Leib gezählt: g parallele Linien an der unteren Wirbelsäule, Streifen
am rechten Fußknöchel, re ein Kreuz an der Innenseite des rechten 2, Knies und
eines auf der rechten unteren Seite des Brustkorbs (siehe bild der
wis-senschaft 9/2013, „Schätze aus dem Eis" ).
Hinsichtlich der Bedeutung seiner vergleichsweise simplen
Tattoos gehen manche Wissenschaftler noch etwas weiter als bei den Skythen.
Radiologische Untersuchüngen und Computertomo-grafien haben gezeigt, dass Ötzi,
mit rund 45 Jahren für die damalige Zeit recht betagt, unter Arthrose litt:
Hüfte, Knie und Sprunggelenke waren erkrankt. Auch die Rückenwirbel waren
degeneriert. Er muss unter starken Schmerzen gelitten haben. Sollten die gestochenen
Muster auf der Haut vielleicht der Linderung dienen?
„Ötzis Tätowierungen können in 15 Strichgruppen
zusammengefasst wer-den", antwortet Leopold Dorfer, Profes-sor für
Akupunktur an der Universität Graz, der Ötzis Tätowierungen eingehend
inspiziert hat. „9 dieser 15 Gruppen liegen in unmittelbarer Nähe oder direkt
auf klassischen Akupunkturpunkten. Ihre Kombination entspricht aus der Sicht
der Akupunktur einer komplexen antiarthro-tischen Therapie." Dieses Fazit
zieht auch der Rheumatologe Walter E Kean von der McMaster-Universität im
kanadischen Hamilton. „Die Positionen der Tätowie-rungen entsprechen Stellen
zur therapeutischen Behandlung von chronischen Schmerzen."
Stiche versetzen
Schmerzhafte Prozedur und bleibender Eindruck — die Technik
des Tätowierens setzt auf nachhaltige Wirkung und tut höllisch weh. Der
Tätowie-rer durchsticht mit einer Nadel die Oberhaut (Epidermis) und spritzt
Farbe in die Lederhaut (Dermis) darunter. Dafür verwendet er eine Hohlnadel
oder taucht das Stechinstrument in den Farbstoff. In der Lederhaut wird die
Farbe dauerhaft eingelagert. Darüber oder darunter würde die Tinte rasch
verloren gehen. Denn die oberen Haut-schichten schuppen sich, und Blutungen
würden die tieferen auswaschen.
sind zahlreiche Mumien erhalten. Eine davon, die circa 7000
Jahre alte Mumie eines Mannes, hat auf der Oberlippe einen schmalen Streifen
tätowiert, der an einen Stift-Schnäuzer erinnert — und vielleicht einen solchen
simulieren sollte. In diesem Fall läge ein kosmetischer Zweck vor.
Ob die Tätowierkunst noch älter ist —dafür sprechen nur
Indizien. So wurde in der Grotte Arcy-sur-Cure in Frankreich eine 35 000 Jahre
alte Feuerstelle mit Ockerfarben entdeckt. Durch Erhitzen lässt sich gelber
Ocker in roten umwandeln. Gleich neben der Feuerstelle legten Archäologen
spitze knöcherne Werkzeuge frei. Mit ihnen könnte die Farbe in die Haut von
jemandem gestochen worden sein. Und dieser Jemand wäre nach Ausweis der übrigen
Funde Neandertaler gewesen.
Gefärbte Narben
Doch mit Ocker könnte auch Leder ge-färbt oder Haut bemalt
worden sein. Eindeutig klären lässt es sich nicht. Das räumt auch
Kulturanthropologe Igor Eberhard ein, wenn es um bis zu 10 000 Jahre alte
Felsmalereien in der Sahara geht, die Menschen mit Mustern auf der Haut zeigen:
„Die könnten natürlich auch einfache Körperbemalung darstellen."
So oder so, das Tätowieren ist tiefer in der
Menschheitsgeschichte verwurzelt als
lange angenommen — und offenbar haben verschiedene Kulturen
diese Kunst unabhängig voneinander entwickelt. Wie sie darauf kamen, bleibt
unklar. Plausibel erscheint folgende Theorie: Die ersten Tat-toos waren einfach
gefärbte Narben. Die Steinzeitmenschen dürften von Kämpfen oder der Jagd auf
gefährliche Tiere Wunden davongetragen haben. In die geriet Dreck, der die
Wundheilung verzögerte und für eine bleibende Verfärbung der Haut sorgte. Ein
erfahrener Kämpe wäre also an der Zahl solcher Körpermale zu erkennen gewesen.
Entsprechend stolz hätte man sie hergezeigt — und sich vielleicht auch
künstlich selbst zugefügt. Entweder, um Erfolge zu dokumentieren, wenn man
unverwundet geblieben war, oder einfach um Eindruck zu schinden. In vielen
Kulturen galten Tätowierungen bis in die Neuzeit als eine Art Orden für
verdiente Krieger und Jäger.
Die Techniken, mit denen sich die ruhmreichen Kämpfer die
Stech- und Schnittmalereien zufügten, waren im Vergleich zu heute recht
abenteuerlich. Als Nadeln dienten je nach Kultur Knochensplitter,
Haifischzähne, Dornen, Kakteennadeln oder geschnitzte Spieße aus Holz und
Elfenbein. Als Farben nutzte man Asche, Ruß und Pflanzenstoffe. Die Inuit, die
Ureinwohner der Arktis, ziehen noch heute rußige Fäden mit einer Art Nähnadel
unter der Haut durch, um Linien zu zeichnen. Die Samoaner schlagen mit
kammähnlichen Hacken, die einst oft aus Menschenknochen bestanden, auf die Haut
ein, um Muster zu kreieren, die Maori schneiden sich mit meißelartigen
g •
Holzinstrumenten Farbe ins Gesicht.
• Der Sinn und
Zweck dieser Torturen erschöpft sich mitnichten in Auszeich-
§ nung, Heilung
und Schmuck. Tattoos
.2' erfüllten noch ganz andere Funktionen, = ▪ etwa in
Zusammenhang mit Fruchtbar-
sä- keit und Geburt. Bei den Frauen im Alten
• Ägypten
standen Tätowierungen hoch im Kurs — von der einfachen Dame bis hin
• zur Gattin
des Pharaos. Die Mumie der :2> Hathor-Priesterin Amunet, deren
Grabfranzösische Archäologen 1891 in Deir el-Bahari in Theben-West fanden,
weist Striche, Punkte und geometrische For-men am ganzen Körper auf. Besonders
auffällig an der etwa 4000 Jahre alten Mumie: eine elliptische Form aus
Punktreihen über dem Bauch.
Die gleichen Zeichnungen wurden bei zwei weiteren weiblichen
Mumien gefunden, die man nahe Amunets Grab bestattet hatte. Ihre Titel zu
Lebzeiten waren „Hathorische Tänzerinnen am Hof von König Mentuhotep".
Geoffrey John Tassie, Ägyptologe an der Freien Universität Berlin, stellt fest:
„Diese Tattoos wurden sicher noch auffälliger, wenn die betreffende Frau
schwanger war — die Muster dehnten sich aus und bildeten eine Art symbolisches
Netz." Dieses Netz, das quasi den sich wölbenden Bauch hält, sollte auf
rituelle Weise eine sichere Geburt garantieren.
Göttlichen Beistand sichern
Tattoos galten den Ägyptern ganz all-gemein als magischer
Schutz vor Krankheiten und allerlei Bösem. Sie waren eine Art Amulett, wie die
britische Archäologin Joann Fletcher von der Universität York meint — eines,
das man stets mit sich trug. So auch bei einer Mumie aus der Zeit um 700 n.Chr.
Sie kam 2005 bei Grabungen im Sudan zutage, heute befindet sie sich im British
Museum. In griechischen Buchstaben steht auf ihrem rechten Oberschenkel ein
Monogramm, das den Namen „Michael" symbolisiert. Da die Frau in einer
christlichen Gemeinde am Nil wohnte, glauben die Archäologen am British Museum,
dass der Erzengel Michael gemeint ist. Als mächtigster aller Erzengel, der die
himmlische Armee gegen Satan und die gefallenen Engel anführte, sollte sein
Emblem wohl vor allen Übeln bewahren.
Den Kelten ging es bei ihren Tätowie-rungen dagegen weniger
um einen Schutzeffekt als darum, Angst und Schrecken zu verbreiten. Sie waren
berüchtigt dafür.
ihren Gegnern splitterfasernackt uni von oben bis unten
tätowiert gegenüberzutreten. Auch bei den Urvölkern Polynesiens waren Tattoos
eine Art permanente Kriegsbemalung. Die Krie-
ger der Marquesas-Inseln in Ostpolyne-sien trugen auf den
Innenarmen Tattoos von großen, starr blickenden Augen. Überhaupt war es weit
verbreitet, Tä-towierungen als Initiationsritus in die Haut zu stechen. Und
manchmal waren sie auch einfach praktisch: Einige Indianerstämme Kaliforniens
ritzten den Jungen einen Maßstab für Muschelgeld-schnüre in den Arm - als
Zeichen, dass sie nun erwachsen waren, aber auch, um ihnen das Handeln zu
erleichtern. Muschelschnüre dienten vielen indigenen Völkern als Währung. Die
Ketten wurden nach der Länge bewertet.
So erfüllten Tattoos in vielen Kulturen diverse Zwecke.
Bisweilen machte erst die Tätowierung jemanden zum vollwertigen Mitglied der
Gesellschaft. „Wenn ein Sa-moaner nicht tätowiert war, wurde er nicht beerdigt,
sondern seine Leiche einfach irgendwo im Dschungel abgelegt", erklären die
österreichischen Museums-pädagogen Petra Pinkl und Manfred Hainzl, die sich vor
einigen Jahren für e• ine Ausstellung eingehend mit Tattoos
I, beschäftigten. Auch für die Mohave-In-dianer sei es unmöglich gewesen, ohne
I G• esichtstätowierung ins Land der Toten
M einzugehen. Sie waren dazu verdammt, in der Hölle zu
schmoren.
Und doch: In Europa geriet die Täto-wierung im Laufe der
Jahrhunderte in g Verruf. Schon Griechen und Römer sahen sie als Zeichen von
Barbarei an. Viele
• ihrer Feinde
- Skythen, Thraker, Kelten,
Nubier - waren tätowiert. Die Römer da-
gegen verwendeten Tattoos allenfalls als 7 • Stigma: Sklaven
wurden auf diese Weise
• markiert,
ebenso wie Söldner der römi-
schen Armee - als Zeichen der Truppen-zugehörigkeit, aber
vor allem, damit sie nicht desertierten.
Im Zeichen des Glaubens
Unter Christen galt die Tätowierung lange Zeit als
Gotteslästerung, schließlich verunstaltete man damit die Krone der Schöpfung.
Nur solche Tattoos waren ak-zeptiert, mit denen man sich zum Glauben bekannte -
die Initialen Christi, ein Kreuz oder ein Lamm. Die Kreuzritter ließen sich
tätowieren, um auf den Kreuzzügen eindeutig als Christen erkennbar zu sein.
Viele Kopten tragen heute noch ein Kreuz an der Innenseite des Handgelenks. Die
christliche Minderheit in Ägypten will sich so vom Islam distanzieren, der
Tätowierungen strikt ablehnt.
Ebenfalls als Erkennungszeichen, je-doch nicht aus frommen
Gründen, nutz-ten Verbrecherbanden Tattoos. Auch des-wegen überwog in Europa
die Ablehnung. Sich tätowieren zu lassen, galt als Zeichen von Rebellion.
Kaiserin Sissi war ja gern rebellisch - und damit stand sie nicht allein. Viele
Angehörige europäischer Fürstenhäuser haben sich im 19. und Anfang des 20.
Jahrhundert mehr oder weniger heimlich tätowieren lassen: König George V. und
König Edward VII. von Großbritannien, der russische Zar Nikolaus II., Prinz
Albert von Sachsen-Coburg, ja selbst die Mutter von Winston Churchill. „Die
Gründe für diesen Hype sind nicht geklärt", sagt Kulturanthro-
pologe Igor Eberhard. „Aber wahrschein-lich war es einfach
der Reiz des Verbote-nen, die Lust an der Provokation und dem Exotischen."
Historischen Schätzungen zufolge wa-ren damals - trotz der
öffentlichen Miss-billigung - 20 Prozent aller Menschen in den industrialisierten
Ländern tätowiert, vor allem in der Ober- und Unterschicht, weniger in der
Mittelschicht. In Deutsch-land gaben 2014 neun Prozent der Bevölkerung an, ein
Tattoo zu tragen. Insofern ist der heutige Trend zur Tätowierung
doch recht harmlos.
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