Herzpflaster für den Herzinfarkt
Author D.Selzer-McKenzie
Video: http://youtu.be/Kn1sURocfFc
Ein Herzpflaster soll die Verletzungen nach einem Infarkt
heilen. Mediziner in Hannover sind hier international führend.
Muskulös, beweglich, ausdauernd — das Herz schläft nie,
macht keine Pause. Etwa drei Milliarden Mal schlägt der 300 Gramm schwere
Muskel in 70 Lebensjahren. Insgesamt pumpt das Herz vier SupertankerFüllungen
Blut durch das 100 000 Kilometer lange Adergeflecht unseres Körpers bis hin zu
jeder einzelnen Zelle.
Doch selbst das stärkste Herz wird schwach, wenn sich die
Gefäße verschließen, die es mit Nährstoffen und Sauerstoff versorgen. Dann
kommt es zu einem Infarkt, den in Deutschland jährlich über 280 000 Menschen
erleiden. Dank des medizinischen Fortschritts überleben ihn heute die meisten.
Das Herz aber ist von dem Ereignis für immer gezeichnet.
Einfache Reparaturzellen treten an die Stelle
hochspezialisierter Herzmuskelzellen. Sie bilden Narbengewebe, das das Herz
zwar stabilisiert, seine Kontraktionskraft aber vermindert. Das Herz versucht
trotzdem, seine Pflicht zu tun. Manchmal verausgabt es sich dabei, wird schwach
und schwächer, bis es zu versagen droht. Dann hilft oft nur die Transplantation
eines Spenderherzens. Daran
aber besteht hierzulande ein eklatanter Mangel.
Wie schön wäre es doch, ließe sich der desaströse
Gewebeschaden, den der Infarkt zurückgelassen hat, einfach rückgängig machen —
mit einem „Herzpflaster" beispielsweise. Das klingt fantastisch. Doch die
Wissenschaftler der Leibniz Forschungslaboratorien für Biotechnologie und
künstliche Organe an der Medizinischen Hochschule Hannover verfolgen genau
dieses Ziel. „In fünf Jahren", hofft Ulrich Martin, der Leiter der
Forschungsstätte, „könnten wir mitersten therapeutischen Prüfungen in der
Klinik sein."
Unter dem Mikroskop sieht das, was die Forscher zu so großer
Hoffnung veranlasst, wenig .spektakulär aus. Braune Gewebeklümpchen schwimmen
in der trüben Brühe einer Kulturschale. „Warten Sie einen Moment", rät Ina
Gruh, Leiterin der Arbeitsgruppe „Myokardiales Tissue Engineering". Und
tatsächlich — der zweite, geduldigere Blick lässt staunen. Die braunen
Kügelchen zucken, erst eins, dann ein anderes. Der Rhythmus ist vertraut: Es ist,
als schlage ein Herz.
Ina Gruh nennt die unscheinbaren braunen Klümpchen „Cardiac
Bodies".
Jedes Einzelne dieser Herzkörperchen, erklärt die
Biochemikerin, besteht aus 1000 bis 2000 spontan kontrahierenden
Herzmuskelzellen, die im Labor erschaffen wurden. Die Zellen aus der Retorte
sollen das Gleiche leisten wie ihre natürlichen Vorbilder — und das ist nicht
wenig.
Kräftige Schläge aus der Retorte
Herzmuskelzellen gehören zu den Topspezialisten unter den
200 Zelltypen unseres Körpers. Alle diese Zellen haben sich aus derselben
befruchteten Eizelle entwickelt und besitzen das gleiche Erbgut. Dass sie
dennoch so verschieden sind,
liegt daran, dass in ihnen jeweils andere genetische
Vorgaben verwirklicht sind: Winzige Markierungen auf der Erbsubstanz
entscheiden darüber, welche Gene in Proteine übersetzt werden und welche nicht.
Deshalb kann eine Nervenzelle Botschaften weiterleiten, eine Leberzelle Zucker
speichern und eine Hautzelle den Farbstoff Melanin produzieren.
Herzmuskelzellen sind darauf spezialisiert, mit großer
Ausdauer mechanische Arbeit zu leisten. Dafür hat die Natur sie mit
kontraktionsfähigen Elementen, den sogenannten Filamenten, ausgestattet. Sie
sehen aus wie ordentlich aufeinander gestapelte, quergestreifte Päckchen. Auf
einen elektrischen oder hormonellen Reiz hin sorgen die Filamente dafür, dass
sich die Zelle anspannt und anschließend wieder entspannt. Eine einzelne
Herzmuskelzelle kann nur wenig bewirken — in Gesellschaft mit ihresgleichen
aber entwickelt sich eine enorme Power. Für ihr kraftvolles Miteinander
verbinden sich die Zellen durch Kanäle, die „Gap Junctions". Über sie kann
eine Erregung sehr schnell weitergegeben werden, sodass alle Zellen gemeinsam
kontrahieren.
2012 ist es den Wissenschaftlern aus Hannover gelungen, im
Labor aus menschlichen Stammzellen einen dreidimensionalen Zellverband zu
züchten, der wie ein Herzmuskel aussieht und auch genauso funktioniert. Derzeit
prüfen die Forscher bei Tieren, wie sich die künstlich hergestellten Zellen
verhalten, wenn sie in ein Herz übertragen werden, das in einem Organismus
schlägt. „Was wir dort sehen, ist sehr vielversprechend", sagt Martin
Ulrich. Zurzeit testen die Wissenschaftler ihre Zellen an Schweinen, deren Herz
dem Menschenherz sehr ähnlich ist Embryonale Stammzellen überflüssig
Lange gab es nur eine einzige Quelle für alle Versuche,
zelluläre Spezialisten im Labor heranreifen zu lassen: embryonale Stammzellen,
mit all ihren ethischen Problemen. Um sie zu isolieren, müssen menschliche
Embryonen zerstört werden. Doch 2006 präsentierten japanische und amerikanische
Forscher der staunenden Welt ein Laborrezept, das 2012 mit dem Nobelpreis
bedacht wurde und „Reprogrammierung" genannt wird (bild der wissenschaft
6/2010, „Der irrwitzige Wettkampf der Forscher").
Damit lassen sich ausgereifte Zellen er ,:hsener Menschen —
etwa Zellen der Haut — in embryonale Ursprungszellen zurückverwandeln. Den auf
„Neustart" gestellten Zellen stehen fast alle Entwicklungswege offen, sie
sind „pluripotent". Forscher sprechen von „induzierten pluripotenten
Stammzellen" (iPSZellen).
Die iPSZellen haben einen wesentlichen Vorteil: Anders als
embryonale Stammzellen lassen sie sich von dem Menschen gewinnen, der sie
später als Transplantat erhalten soll. Gegen fremde Zellen gerichtete
Abwehrkämpfe des Immunsystems sind daher nicht zu befürchten. Um
Herzmuskelgewebe aber handelt es sich bei den im Labor reprogrammierten Zellen
noch lange nicht. Dafür bedarf es zwei bis drei Monate Zeit — und einiger
spezieller Zugaben aus dem aktuellen Repertoire zellbiologischer und
labortechnischer Kunst.
Die Forscher in Hannover gönnen ihren iPSZellen
beispielsweise die Gesellschaft von Bindegewebszellen. Und sie verwöhnen sie
mit Ascorbat, besser bekannt als Vitamin C. Beide Zugaben unterstützen den
Aufbau der extrazellulären Matrix, das wasser und kollagenreiche Grundgerüst,
in das Körperzellen eingebettet sind. „In der Matrix können die
Herzmuskelzellen miteinander in Kontakt treten und sich zu einem einheitlichen
Gewebe zusammenschließen", erklärt Ina Gruh.
Ihre Kollegin, die Biologin Monica Jara Avaca, ist gerade
dabei, die Entwicklungsschritte ihrer iPSZellen auf dem Weg zum
Herzmuskelgewebe zu kontrollieren. Konzentriert schaut sie auf den
Computerbildschirm. Er zeigt die mechanische Aktivität der Zellaggregate. Der
Laie erkennt auf dem Monitor nichts anderes als bunte Linien, die zackig nach
oben und unten ausschlagen. Monica Jara Avaca aber kann die Aufzeichnungen mit einem
einzigen Blick interpretieren. Nachdenklich wiegt sie den Kopf hin und her.
Heute ist sie mit ihren Zellen nicht ganz so zufrieden wie sonst: Sie schlagen
ihr nicht regelmäßig genug. „Es sieht so aus, als kontrahieren einige Zellen im
Verband sehr kraftvoll, andere aber nicht", erklärt die Wissenschaftlerin.
„Dann müssen wir sie wohl noch ein bisschen besser
trainieren", meint Ina Gruh. Sie öffnet die Tür zu einem Schrank, dessen
Leuchtdioden die Wohlfühltemperatur von exakt 37 Grad anzeigen, und holt dann
eine kleine Apparatur heraus: ein BodybuildingStudio für Zellen.
Die MiniFitnessgeräte, sogenannte Bioreaktoren, sind eine
Eigenkonstruk tion der Hannoveraner Forscher. Für das Krafttraining werden die
Zellen in die Apparatur eingespannt. Ein kleiner Motor dehnt sie von zwei
Seiten, zusätzlich werden sie elektrisch stimuliert. So lässt sich die Belastung
nachahmen, der Zellen im heranreifenden Herzen aufgrund der ständigen
Pumpbewegung ausgesetzt sind. Gleichzeitig können die Forscher mit ihrer
Apparatur die Kraft messen, mit der die Zellen kontrahieren. Die
wissenschaftliche Auswertung des zellulären Fitnessprogramms hat ergeben, dass
ein sich langsam steigerndes Training für Herzmuskelzellen am besten ist.
Tatsächlich kann dabei ein Gewebe entstehen, das ebenso gut arbeitet wie das
Herz eines Neugeborenen.
Auch angeborene Missbildungen wie Löcher in der
Herzscheidewand von Kindern könnten mit körperidentischen Gewebeflicken
gestopft werden, erklärt Axel Haverich, Leiter der Klinik für Thorax, Herz und
Gefäßchirurgie der Medizinischen Hochschule Hannover. Doch bis es so weit ist,
müssen noch etliche Probleme gelöst werden.
So muss es zunächst einmal gelingen, die künstlichen Zellen
in ausreichender Zahl herzustellen. Denn um den Verlust von rund einer
Milliarde Zellen ausgleichen zu können, die bei einem Infarkt zugrunde gehen,
reichen auch Hunderttausend Zellen aus der Petrischale nicht aus. In Hannover
ist die Arbeitsgruppe von Robert Zweigerdt dafür zuständig, dieses Problem zu
lösen. „Derzeit sind wir im 100MilliliterBereich und können 40 bis SO Millionen
Herzmuskelzellen produzieren", erklärt der Biologe. Um aber auf die für
medizinische Zwecke benötigte Zellzahl zu kommen, ist ein Ein bis
ZweiLiterProduktionsmaßstab nötig. Zweigerdt zeigt auf die Laborbank hinter
sich: Dort steht die Produktionsstätte bereit, in der die Zellen milliardenfach
hergestellt werden sollen.
Die Zellfabrik sieht aus wie ein mit vielen Kabeln, Zu und
Abläufen präpanertes Einweckglas. Im Innern des Glases ichwimmen unzählige
kleine braune Kügelchen in einer Flüssigkeit — die Aggregate von
Herzmuskelzellen. „Unser Zellkultursystem ermöglicht es, Herz=uskelzellen im
therapeutisch notwendizen Maßstab bereitzustellen", sagt Zwei
gerdt und verrät augenzwinkernd ein Geheimnis: „Die
Flüssigkeit muss dazu gerührt werden — nicht geschüttelt."
Einer zweiten Herausforderung hat sich die Forschergruppe
„Polymer Design" der Universität Hannover gestellt. Die Wissenschaftler um
den Chemiker Gerald Dräger entwickelten für die künstlichen Zellen ein Gel, das
menschliches Kollagen und chemisch veränderte Hyaluronsäure enthält, ein
Bestandteil von Bindegewebe. Darin werden die Herzmuskelzellen eingebettet —
und lassen sich dann zu einem handhabbaren einheitlichen Gewebe formen.
Sicherheit geht vor
Das dritte, womöglich größte Kunststück wird es sein, das
künstliche Gewebe mit Blutgefäßen auszustatten. Denn um zu gewährleisten, dass
die Implantate ausreichend mit Sauerstoff und Nährstoffen versorgt werden,
müssen sie mit dem Blutkreislauf des Patienten verbunden sein. „Das könnte mit
kleinen Gefäßen geschehen, die sich von selbst mit dem Blutgefäßsystem des
Körpers verbinden", überlegt Ina Gruh. Zusätzlich sollten es wohl aber
auch große Gefäße sein, die chirurgisch angeschlossen werden müssen. „Wie das
genau aussehen soll, wissen wir derzeit noch nicht", gesteht sie.
Die alles entscheidende Herausforderung aber ist es, die
Sicherheit des Patienten zu gewährleisten. „Es muss restlos ausgeschlossen
sein", betont Ulrich Martin, „dass die. übertragenen Zellen und Gewebe dem
Patienten in irgendeiner
Weise schaden." Denn die Zellen, die heilen sollen,
bergen eine ernste Gefahr: Für die Reprogrammierung werden in die
Empfängerzellen bestimmte Gene eingeschleust, die sich nach dem Zufallsprinzip
in das zelluläre Erbgut integrieren. Damit aber besteht das Risiko, dass die
Zellen aus ihrem Teilungsgleichgewicht geraten und zu Krebszellen entarten.
Neue Methoden der GenÜbertragung, die auf die herkömmlichen Viren verzichten,
könnten dieses Problem lösen.
Technische Fortschritte und Erfahrung mit den Zellen ist die
Kombination, aus der sich die Hoffnungen der regenerativen Medizin speisen.
Könnte er also doch eines Tages wahr werden, der alte Traum vom künstlichen
Herzen, für Patienten maßgeschneidert in den Designshops der Gewebeingenieure?
„Da gibt es durchaus Ideen", sagt Ulrich Martin. „Aber ein Organ wie das
Herz? Nein, das wird noch
lange Zukunftsfantasie sein."
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen
Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.