Die Messung des Proton
Author D.Selzer-McKenzie
Video: http://youtu.be/rjZxDCeL7XA
Die Messung des Protonenradius ergab einen Wert, der
deutlich vom Standardwert ab-weicht. Entweder ist etwas grundlegend falsch im
Verständnis des Protons —oder die Forscher sind einer neuen Physik auf der
Spur.
Am Ende seines wissenschaftlichen Kolloquiums an der
Universität Heidelberg entfährt es dem Physiker Randolf Pohl: „Ich hoffe
natürlich, dass es kein Messfehler ist!" Dabei ist es schon gut vier Jahre
her, dass Wissen-schaftler vom Max-Planck-Institut für Quantenoptik zusammen
mit einem internationalen Forscherteam eine ungewöhnliche Entdeckung
verkündeten: Das Proton ist kleiner als gedacht!
Gut eine Dekade lang versuchte die CREMA Collaboration
(Charge Radius Experiment with Muonic Atoms) etwas Simples: den sogenannten
Ladungsradius des Protons nachzumessen. Natürlich ist dieser Wert seit Langem
bekannt. Er wird sogar alle vier Jahre aufs Neue bestimmt und im
CODATA-Verzeichnis physikalischer Konstanten publiziert, einer Liste des
„Committee an Data for Science and Technology". Was in diese Datenbank
aufgenommen wird, gilt unter Physikern fast schon als gesichertes Wissen.
Allen-falls wird der Datenkanon noch durch eine größere Präzision ergänzt, also
mit weiteren Stellen hinter dem Komma.
Die CREMA Collaboration, zu der neben Pohl unter anderem der
Physik-Nobelpreisträger Theodor W. Hänsch vom Max-Planck-Institut für
Quantenoptik, Aldo Antognini und Franz Kottmann von der ETH Zürich sowie Pohls
ehemaliger Doktorand Tobias Nebel gehören, widersprach. Am 8. Juli 2010
verkündeten Randolf Pohl und seine Kollegen in dem renommierten Fachjournal
Nature, dass das Proton einen Ladungsradius von 0,84184 plus/minus 0,00067
Femtometer habe, im deutlichen Wider-spruch zum CODATA-Standardwert des Jahres
2010 von 0,8775 plus/minus 0,0051 Femtometer (ein Femtometer entspricht 10-15
Meter). Der neue Wert liegt rund vier Prozent unter dem alten. Das mag einem
zwar wenig vorkommen, aber in der Welt der physikalischen Präzisionsmessungen
schlug diese Meldung wie eine Bombe ein.
„Was wir entdeckt haben", erinnert sich Randolf Pohl,
„war eine totale Überraschung. Aber niemand bezweifelt unse
re Messungen." Dafür spricht auch die zehnmal so hohe
Präzision der neuen Messung, die bei der großen Diskrepanz allenfalls noch Raum
für verborgene systematische Fehler lässt. Aber wie im wirklichen Leben
verlangen starke Behauptungen nach starken Begründungen.
Um die Physikkollegen davon zu überzeugen, dass das
Kernteilchen tatsächlich so deutlich geschrumpft war, legten Experimentatoren
und Theoretiker alles auf den Prüfstand. Neben der akribischen Überprüfung der
Daten begann eine intensive Suche nach Erklärungen. Doch bis heute ist das
Rätsel ungelöst.
Das einfachste Atom
Seit vor knapp einem Jahrhundert Ernest Rutherford das
Proton entdeckte, war es Gegenstand intensiver Forschung. Die seinerzeit noch
junge Quantenphysik fand im Wasserstoff-Atom — ein Elektron umkreist ein Proton
— das ideale „Experimen-tallabor". Theoretiker und Experimental-physiker
konnten es, gerade wegen seiner Einfachheit, präziser analysieren als jedes
andere Gebilde. Demnach bewegt sich das Elektron ausschließlich auf
ausgewählten Bahnen bestimmter Energie. Springt das elektrische Teilchen
zwischen diesen Energieebenen, sendet es Licht ganz bestimmter Frequenzen aus,
die Forscher als Spek-trallinien beobachten (siehe „Gut zu wissen: Das Proton Simpel,
messbar, berechenbar: Das einfachste aller Atome spielte eine zentrale Rolle
bei der Entwicklung der modernen Physik. So entdeckten 1947 die US-Physiker
Willis Lamb und Robert Retherford eine Unstimmigkeit in zwei Energieniveaus des
Wasserstoffs, genannt 2S und 2P. Nach der Quantentheorie sollten beide
eigentlich die gleiche Energie haben. Doch die Forscher beobachteten im
Experiment eine Energiedifferenz.
Die Entdeckung dieser seitdem so ge-nannten
Lamb-Verschiebung (englisch „Lamb shift", benannt nach Willis Lamb)
beflügelte eine neue physikalische Theorie, die Quantenelektrodynamik, QED. Mit
ihr ließ sich der Effekt durch die Wechselwirkung des Elektrons mit dem Vakuum
gut erklären. Auch bemerkten Physiker damals, dass das Proton keineswegs ein
punktförmiges Partikel war.
Heute weiß man, dass das Proton ein komplexes Innenleben
hat. Von außen betrachtet tritt der Wasserstoff-Kern da-gegen als einfaches Gebilde
auf: ein „verwaschener Ball positiver Ladung" (Pohl), den ein
punktförmiges Elektron in vergleichsweise großer Entfernung umkreist.
Dieses Bild belegten die Streuexperimente, bei denen mit
Elektronen auf Protonen geschossen wurde. Auch die Vermessung der
Spektrallinien und ihrer Lamb-Ver-schiebung lieferten ähnliche Werte. Damit war
die Welt der Physik der einfachen Atome noch in Ordnung.
Verwundern könnte es einen schon, dass die Lamb-Verschiebung
von einer endlichen Ausdehnung des Protons be-einflusst wird. Den Grund dafür
liefern die Quantenphysiker, indem sie zeigen, dass die Metapher vom Atom als
einem Planetensystem en miniature nicht immer passt. Kreist ein Elektron etwa
in den einfachsten „Umlaufbahnen", den sogenannten S-Niveaus, dann ist sein
Aufenthalt in Wahrheit auf das Volumen einer kugelförmigen Wolke verteilt, die
das zentrale Proton einschließt. Mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit saust
das Elektron immer wieder mitten durch das Proton hindurch — kein
Planetensystem würde das aushalten, denn die Sonne ist un-durchdringbar.
In dieser Phase der Durchdringung spürt das
Elementarteilchen vom Atom-kern nur die reduzierte elektrische La
dung. „Das schwächt die Bindung zwi-schen Elektron und
Proton", erklärt Ran-dolf Pohl. Je mehr Zeit das Elektron im Inneren des
Protons verbringt, umso geringer sind die S-Orbitale an das Proton gebunden.
„Der. Effekt wächst also mit der Größe des Ladungsradius." Klassisch wäre
dies unmöglich, die Quantenphysik zeigt sich hier von ihrer bizarren Seite.
Trick mit Myonen
Messungen mit Elektronen-Streuung engten den Radiuswert auf
0,90 plus/minus 0,02 Femtometer ein, produzierten aber immer noch einen
Messfehler von zwei Prozent — zu ungenau für Tests der QED, die nach höherer
Präzision verlangen. Das war Anlass für einige Physiker, unter an-derem vom
Paul Scherrer Institut (PSI) in Villigen bei Zürich, 1997 ein neues Experiment
vorzuschlagen, das versprach, die Genauigkeit um Größenordnungen zu verbessern.
Der Trick: Anstatt mit normalem Wasserstoff wollten sie es mit „myo-nisiertem
Wasserstoff" versuchen, wobei im Atom das umlaufende Elektron durch ein
Myon ersetzt wird. Myonen sind die schweren Geschwister" des Elektrons:
ebenso punktförmig und mit derselben elektrischen Ladung, allerdings mit einer
200 Mal so großen Masse.
Auf die Lamb-Verschiebung hat dies eine enorme Auswirkung.
Das Myon „kreist" zwar ähnlich wie das Elektron um das Proton, nur im
Mittel in einem 200 Mal so kleinen Abstand. Entspre-chend hält es sich länger
im Innern des Protons auf: mit einer Wahrscheinlich-keit, die um den Faktor
200' — also mehrere Millionen Mal — so groß ist wie beim Elektron im normalen
Wasserstoff. Myo-nischer Wasserstoff ist für die Radiusmes-sung daher eine
wesentlich empfindlichere Sonde. Wie Berechnungen zeigten, trägt der
Protonenradius in diesem Fall mit zwei Prozent zur Lamb-Verschiebung bei. Beim
normalen Wasserstoff ist es lediglich ein Zehntausendstel Prozent.
Geplant hatten die Forscher das Experiment am Paul Scherrer
Institut. Dort steht eine Myonenquelle der Spitzenklasse.
Was aber 1999 nach der Bewilligung des Experiments durch das
PSI eher nach einem anspruchsvollen Routineexperiment aussah, sollte sich zu
einer hindernisreichen Marathonstrecke entwickeln. Ein Jahrzehnt lang kämpften
die Wissen-schaftler um diese Messung, die bis heute als großes Rätsel der
Physik gilt.
Raffiniertes Wasserstoff-Experiment
Zuerst verlief alles nach Plan. Im PSI-Beschleuniger wurden
zunächst Pionen erzeugt, die sogleich in die begehrten Myonen zerfallen. Nun
ist Eile geboten, den diese Partikel „leben" im Schnitt nur 2,2
Mikrosekunden lang. Danach ist be-reits ein Drittel wieder zerfallen. Einige
Hundert Myonen schießen schließlich pro Sekunde in eine 20 Zentimeter große
Kammer. Sie ist mit Wasserstoff-Gas gefüllt — bei einem Druck von einem
Milli-bar. Jetzt ist bereits eine Mikrosekunde verstrichen, die Zeit wird also
knapp.
Bei ihren Kollisionen in der Kammer schaffen es ein Prozent
dieser Myonen, die Elektronen im Wasserstoff-Atom wegzustoßen, sich an ihre
Stelle zu setzen und im metastabilen 2S-Energieniveau um das Proton zu kreisen.
Zugleich feuert ein Laser 40 Mal pro Sekunde seitlich in die Messkammer. Der
Laserstrahl wird an Spiegeln reflektiert und vielfach durch das Gas gelenkt, um
möglichst alle Myonen zu erwischen — damit sie auf das höhere 2P-Energieniveau
gehoben werden. Das klappt allerdings nur, wenn der Laser die Myonen mit Wellen
der exakt richtigen Frequenz des winzigen Energieunterschieds der 2S- und
2P-Niveaus trifft. Von diesem Level stürzen die Myonen aber sogleich wieder auf
das niedrigste 1S-Niveau ab. Das liefert das Erfolgssignal: Beim Übergang von 2P
nach 1S entstehen Röntgenphotonen — natürlich nur, wenn die vorherige Anregung
geklappt hat und die Laserfrequenz auf den richtigen Wert eingestellt war. Im
Erfolgsfall messen die Physiker eine „Resonanz". Aus den ge-wählten
Einstellungen und dem Resonanzsignal berechnen die Forscher schließlich den
Protonenradius.
Der große Frust
2003 suchten die Physiker erstmals nach dieser Resonanzlinie
— natürlich an der Stelle, die dem bekannten Standardwert entsprechen sollte —,
jedoch ohne Erfolg. In ihrer Not testeten die Forscher auch geringfügig größere
Radiuswerte, denn in diese Richtung hatten Streuexperimente gewiesen. Doch auch
dort tat sich nichts. „Als wir nichts fanden, obwohl alles gut funktionierte,
war ich sehr enttäuscht", erinnert sich Randolf Pohl. „Heute wissen wir,
dass wir schlicht an der falschen Stelle gesucht hatten."
Aber damals, 2003, hatten die Physi-ker das Lasersystem als
Fehlerquelle in Verdacht. Es kostete sie mehrere Jahre, um in Zusammenarbeit
mit dem Institut für Strahlwerkzeuge in Stuttgart einen neuen Laser zu bauen,
diesmal auf Fest-körperbasis, mit — wie sich später erwies —100 Prozent
Verfügbarkeit. Alles sollte besser sein und war es auch: Das neue Lasersystem
konnte dauerhaft bis zu 500 Mal pro Sekunde feuern.
Die Spiegel wurden ausgetauscht, denn die alten
Beschichtungen hatten Alpha-teilchen ausgestoßen und die Sensoren beschädigt.
Auch die Analysesoftware wurde neu geschrieben, und weitere mögliche
Fehlerquellen wurden ausgemerzt. Pro Sekunde schossen vom Beschleuniger 600 Myonen
in die Wasserstoffkammer, 400 konnten die Sensoren detektieren, 230 Lichtpulse
feuerte der Laser jede Sekunde ab. Von den Myonen erreichten die besonders
langlebigen ihre Wasserstoffziele, die Ereignisrate stieg auf das Fünffache.
j-1 Doch am PSI
wuchsen gleichzeitig die
4.; Zweifel, ob das Team es jemals schaffen . könnte.
„Damals waren wir das hässliche
Entlein", erinnert sich Randolf Pohl.
„Zum Glück bekam 2005 mein Max-Planck-Chef, Theodor W.
Hänsch, den Nobelpreis in Physik. Da ließ man uns weitermachen."
Die Forscher schöpften Hoffnung. Doch als die Messungen 2007
wieder aufnahmen, scheiterten sie abermals. Dann, 2009, erhielt das Team noch
einmal Experimentierzeit am Beschleuniger, „unsere letzte Chance". Am 21.
Juni 2009 begann die neue Messreihe am P51, womöglich die letzte.
Doch nach einer Woche hektischer Messungen zeigte sich
abermals keine Resonanz Allmählich sahen sich die Physiker gezwungen, auch bei
anderen Werten zu suchen. Nach einer vergeblichen Woche hielten sie eine
Krisensitzung: „Wir müssen bei größeren Protonenradien messen",
beschlossen sie. Die Forscher schoben Tag- und Nachtschichten. Teammit-glied
Aldo Antognini schlief tagsüber und tauchte erst abends im Labor auf. Der
Schweizer Physiker protestierte, kurz bevor die Kollegen die Laserfrequenz
wechseln wollten, um nach größeren Protonenradien zu suchen: Sie wären besser
beraten, bei kleineren Radien zu messen.
„Wir hatten nur noch Stunden bis zum nächsten Shutdown des
Beschleunigers",
erinnert sich Pohl. Doch erst einmal war die Anlage für vier
Tage stillgelegt, Zeit für letzte Reparaturen und Software-Up-dates der
Datenerfassung. Dann kam der 4. Juli 2009. „Da haben wir um unser Leben
geforscht. Eine 16-Stunden-Schicht, dann 6 Stunden geschlafen, dann eine
30-Stunden-Schicht — man sieht das am Logbuch III, Seite 65", berichtet
der Max-Planck-Forscher. Logbuch-Auszug aus der heißen Phase:
„Um 18:39 Uhr beginnt Messung, auf Kanal Nr. 812, 1 Stunde
interrupt
Um 21 Uhr wird der Laser zu längerer Wellenlänge umgestellt
3:08 Uhr Beam shitty, Laser OK, 28 Minuten wackeliger
Myonenstrahl
5:46 Uhr Another horrible interrupt
6:08 Uhr We have it"
Das war der Augenblick, in dem die Forscher sicher waren,
die Resonanz gefunden zu haben. Auf der Logbuch-Seite vom 5. Juli klebt ein
Foto — von einer Flasche Moet & Chandon. Die jahrelange mühsame Suche war
zu Ende.
Die Physiker hatten ein deutliches Signal entdeckt — an
einer völlig unerwarteten Stelle. Wenn das die Antwort der Natur auf die simple
Frage „Wie groß ist
das Proton?" war, die alle schon geklärt wähnten, dann
bescherte sie der Grundlagenforschung mehr Probleme, als sie löste. Wo war der
Fehler? Lag es am Experiment? Hatten sich die Theoretiker geirrt, hatten sie
vielleicht einen wichtigen Effekt übersehen?
Experimente mit Deuterium
Doch zunächst konnten sie im Sommer 2009 ihre Experimente
fortsetzen — mit myonischem schwerem Wasserstoff: im Atomkern nun Deuterium,
das schwere Wasserstoff-Isotop mit einem Proton und einem Neutron. Hieraus
ermittelten die Forscher den Ladungsradius des Deute-rons. Inzwischen haben sie
die Analyse der Rohdaten zwar abgeschlossen, doch die Daten sind noch nicht
publiziert. Auch überarbeiten die Theoretiker derzeit noch ihre Berechnungen
des myonischen Deuteriums. Es bleibt also spannend.
Im Juli 2010, nach gut zehn Jahren Arbeit, erschienen die
revolutionären Resultate in Nature. Zusammen mit einer zweiten Messung im
myonischen Wasserstoff, die Pohls Gruppe im Januar 2013 in Science -;„9'
publizierte, steht der Wert des Protonenradius nun bei 0,84087 plus/minus
0,00039 Femtometer. Der Messwert ist zehnmal so genau wie der entsprechende
Radiuswert beim gewöhnlichen Wasserstoff von 0,877 plus/minus 0,007 Femtometer.
Eine internationale Jagd nach Fehler-quellen setzte ein.
Theoretiker machten sich ans Werk und überprüften ihre komplexen
QED-Berechnungen, mit denen der Radiuswert aus der konkreten Fre-quenzmessung
der Lamb-Verschiebung hergeleitet wurde:
• Einfachste
Option: Der offizielle Wert, wie er in der CODATA-Datenbank steht, ist falsch.
Er wurde am normalen Wasserstoff mit beiden Verfahren gemessen
—Elektron-Streuung am Proton sowie Lamb-Verschiebung. Aber: diese beiden Werte
stimmen gut überein. Falls es ein Fehler sein sollte, könnte nur eine
systematische Verschiebung in beiden Arten von Experimenten das Dilemma
auflösen.
• Ladungsverteilung:
Vielleicht ist die elektrische Teilladung im Proton etwas
anders verteilt — beschränkt auf einen kleineren Kern, aber
umgeben von einem ausgedehnteren Halo, einer Art dünner Hülle. Allerdings
widersprechen dieser Hypothese Versuche aus dem Jahr 2011, bei denen der Halo
direkt in Streuexperimenten am Elektronenbeschleuniger „Mainzer Mikrotron"
gemessen wurde.
• Verschiedene
Radien: Vielleicht messen die Streuexperimente einen anderen Protonenradius als
die Spektroskopie mit der Lamb-Verschiebung. Doch die Forscher schließen das
eigentlich aus.
• Polarisierbarkeit:
Wenn das Myon mitten durch das Proton saust, könnte es wie eine Hummel im
Bienenschwarm das Proton „virtuell" stärker anregen als bislang gedacht
und dabei seine elektrischen Teil-ladungen drastischer verschieben. „Das ist
eine der letzten umkämpften Bastionen", kommentiert Randolf Pohl.
Berechnungen billigten diesem Effekt bislang allerdings nur ein Zwanzigstel der
Größe zu, die es bräuchte, um die Proton-schrumpfung zu erklären.
• Eine Physik
jenseits des Standard-modells der Teilchenphysik: Da könnte es um neue Kräfte
mit neuen Austauschteilchen gehen, die die Bindung zwischen Proton und Myon
verändern würden. Allerdings war die Suche nach passenden Teil-chen bislang
erfolglos. Das gilt auch für die Suche nach zusätzlichen räumlichen
Dimensionen, wie sie die Stringtheorie prognostiziert (bdw 5/ 2012, „Stringtheo-rie
einfach erklärt"). Wären einige davon groß, könnte das im Prinzip den
Protonenradius ebenfalls ändern.
Neue Experimente nötig
Wenn Theoretiker sich an einem Problem die Zähne ausbeißen,
dann können nur neue Experimente weiterhelfen. Im Dezember 2013 versuchten Pohl
und seine Kollegen, die Lamb-Verschiebung am myo-nischen Helium zu messen.
Diesmal dauerte das Experiment nicht zehn Jahre, sondern gelang im ersten
Anlauf.
Aus der Messung lässt sich der La-dungsradius des
Helium-4-Atomkerns, also des Alphateilchens, bestimmen —auch wieder zehnmal so
genau wie der bisherige Wert, der aus der Elektronen-Streuung stammt. Wovon die
CREMA-Forscher träumen, ist eine komplette Liste von Myonen-Experimenten quer
durch die Galerie der leichten Atomkerne: Proton (liegt vor), Deuteron (liegt
vor), Tri-tium (offen), Helium-3 (offen), Helium-4 (liegt vor). Bei all diesen
Atomkernen fehlen jedoch Streuexperimente mit Myonen.
Die Hoffnungen der Physiker ruhen derzeit auf MUSE. Das ist
keine grie-chische Göttin, sondern das Muon Proton Scattering Experiment, das
die Streuung
von Myonen an Protonen untersucht. Die internationale
MUSE-Gruppe umfasst mehrere Dutzend Forscher. In ihrem Projektpapier äußern sie
Skepsis an den bisherigen Versuchen, das Protonrätsel zu lösen: „Fast alle
werden von der überwältigenden Mehrheit der Forscher für falsch gehalten. Die
übrigen sind bestenfalls noch nicht ausgeschlossen, werden aber höchstens von
einer Minderheit unterstützt." Also müssen neue Messungen her.
2016 soll MUSE am Paul Scherrer In-stitut in der Schweiz in
Betrieb gehen. Im Beschleuniger dort soll diesmal der ge-samte Partikelmix des
Teilchenstrahls die Wasserstoff-Atome simultan bombardieren. Das bietet den
Vorteil, dass der Wasserstoff zugleich mit Elektronen, Positronen sowie Myonen
und Antimyonen beschossen und die Resultate direkt verglichen werden könnten.
Das Experiment ist so konstruiert, dass die mysteriösen syste-matischen Fehler,
vor denen die Experi-mentalphysiker immer Angst haben, stark reduziert werden:
Im direkten Vergleich von Elektronen- und Myonen-Streuung in derselben
Messapparatur heben sich die systematischen Fehler größtenteils gegenseitig
auf.
Falls sich die heutigen Diskrepanzen bestätigen, dann könnte
sich ein Graben öffnen zwischen der Physik mit Elektro-nen und derjenigen mit
den schwereren Myonen. Unterschiede zwischen Experi-menten mit Myonen und
Elektronen würden, notiert die MUSE-Gruppe, „einen starken Hinweis liefern für
eine Physik jenseits des Standardmodells". Das würde die Forscher zwingen,
die Quantenelektrodynamik zu überdenken — und somit die Grundlagen einer der am
genauesten überprüften physikalischen Theorien
überhaupt.
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