Der Kampf im Kopf
Author D.Selzer-McKenzie
Video: http://youtu.be/vvBUikD6JV4
Tichy ist der Held des ScienceFictionRomans /
„Frieden auf Erden" von Stanislaw Lem, erschienen
1987. Oder ist er zwei Helden? Auf einer Mondmission wurden
die beiden Hälften seines Gehirns mit einem Ultraschallskalpell getrennt.
Seitdem sind sich Tichy links und Tichy rechts nicht immer einig. „Es gibt
Momente, wo mein unglückseliger Leib in zwei feindliche Lager zerfällt",
berichtet Tichy. Wenn seine rechte Hand schreiben will, muss sie die linke
fesseln. Wenn die Linke sich mit der Rechten verständigen will, muss sie ihr
„Zeichen machen, wie sie zur Sprache der Taubstummen gehören" — und
bekommt obszöne Gesten als Antwort. Das klingt wie eine abseitige Idee aus der
Fantasie eines Schriftstellers. Aber Lem war auch forschender Mediziner. Das
Schicksal seines Helden Tichy hat einen realen Hintergrund.
Von den 1940ern bis in die 1970erJahre behandelte man
schwere Epilepsie mit der sogenannten Callosotomie. Die Kappung der
Nervenfasern des Corpus callosum, des 2
'ä Nervenbündels, das die Gehirnhälften verbindet, befreite
die Patienten von Anfällen. Und zunächst bemerkten weder sie noch die Ärzte
irgendwelche negativen Folgen.
Die linke Gehirnhälfte ist überkreuz mit der rechten
Körperseite und der rechten Hälfte des Gesichtsfelds verbunden, die rechte
Gehirnhälfte mit der linken. Die Forscher konnten also gezielt eine
Gehirnhälfte visuellen Reizen aussetzen oder sie motorisch arbeiten lassen.
Dabei stellten sie deutliche Unterschiede fest: Die linke Hemisphäre ist die
sprachbegabtere. Dafür ist die rechte versierter im Erkennen von Formen und
Bildern.
Vernunft und Gefühl — jeweils in einer Hälfte zu Hause?
Diese und verwandte Befunde erregten großes öffentliches
Aufsehen. Die Zweiteilung unseres Denkorgans wurde zu einem Modethema der
Hirnforschung — das wie viele Moden im Rückblick etwas peinlich wirkt. Es
entstand ein popularisiertes Bild der Gehirnhälften, das sich später als
komplett falsch erwies: Die linke Hälfte sei die Logikerin, sie erledige alles,
was mit Sprache, Analyse und Kalkulation zu tun hat. Die rechte Hälfte sei die
Künstlerin, zuständig für Ästhetik und Gefühle. Der Autokonzern Volvo pries in
einer Anzeige ein „Auto für die rechte Hirnhälfte" an. Andere verstiegen
sich zu der esoterisch anmutenden Behauptung, in der Teilung des Gehirns
spiegele sich die Dualität der ganzen Welt: Vernunft und Gefühl, männlich und
weiblich, Yin und Yang. Es passte perfekt in die Ära der Hippies.
Heutig wissen Neurophysiologen, dass ihre damaligen
Fachkollegen sich die Sache zu einfach vorgestellt haben. Es stimmt nicht, dass
die linke Gehirnhälfte für das Rationale zuständig ist, die rechte für die
Emotionen. Beide sind wesentlich an beidem beteiligt. Weder sitzt un
ser Sprachvermögen ganz in der linken Hälfte noch unser
Vorstellungsvermögen ganz in der rechten. Wenn eine Gehirnhälfte ausfällt, etwa
durch einen Schlaganfall oder eine schwere Schädelverletzung, dann bleibt die
andere weder unvernünftig noch gefühllos zurück. Aber warum haben wir dann zwei
Hälften?
Zwar ist das Gehirn nicht unser einziges Doppelorgan. Auch
andere Organe sind zweifach angelegt, zum Beispiel Niere, Lunge und
Schilddrüse. Doch beim Gehirn ist die Zweiteilung erstaunlich. Denn eigentlich
gehört zum Bauprinzip unseres Denkorgans die Fähigkeit, möglichst alles mit
allem zu verbinden. Die beiden Hirnhälften sind aber auffällig schlecht
verbunden. Die Brücke zwischen ihnen ist im Zuge der menschlichen Entwicklung
sogar immer dünner geworden: Das Corpus callosum ist —relativ zum Hirnvolumen
—im Lauf der Evolutionsgeschichte nicht gewachsen, sondern geschrumpft. Und
noch seltsamer: Neurophysiologen wissen seit Langem, dass die Hirnhälften sich
über das Corpus callosum nicht gegenseitig anregen, sondern hemmen. Ist die
eine Hälfte aktiv, bringt sie die andere zum Schweigen (siehe „Die Teilung des
Gehirns ist biologisch notwendig" ab S.18). Es scheint, als hätten sich
die beiden Hemisphären auseinandergelebt, etwa wie ein altes Ehepaar, das sich
nicht mehr allzu viel zu sagen hat.
Aber man sollte alte Ehepaare nicht unterschätzen. Sie
harmonieren oft auch ohne viele Worte, weil sie sich gut ergänzen. So ähnlich
sieht Iain McGilchrist auch das Verhältnis der beiden Hälften des Gehirns: ein
Bund fürs Leben, nicht ohne Spannungen, aber insgesamt gedeihlich für die
Beteiligten. „Man kann jeder Hirnhälfte eigene Ansichten, Absichten, Ziele,
Werte und Neigungen zuschreiben", sagt er. Kein Wunder, dass man da auch mal
mit sich selbst uneins ist. Bei gesunden Menschen spielt sich dieser Konflikt
eher innen ab. So wie in Goethes „Faust", der auf seinem Osterspaziergang
klagt: „Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust, die eine will sich von der
andern trennen: die eine hält in derber Liebeslust sich an die Welt mit
klammernden Organen; die andre hebt gewaltsam sich vom Dust zu den Gefilden
hoher Ahnen."
Wenn den Hemisphären durch Callosotomie die Möglichkeit zur
Verständigung genommen wird, tritt der Konflikt zutage — dann ringt eine Hand
mit der anderen. Am Maudsley Hospital in London, wo McGilchrist lange
praktizierte, hat er Menschen kennengelernt, bei denen ein Tumor oder ein
Schlaganfall die rechte Hirnhemisphäre lahmgelegt hatte — und die daraufhin
ihre linke Körperhälfte nicht mehr wahrnahmen, nur die rechte Seite ihres
Gesichts schminkten und beim Kämmen oder Bekleiden die linke Seite komplett
vernachlässigten.
Seither treibt Iain McGilchrist die Frage nach der
Doppelnatur unseres Denkorgans um. Warum besteht es überhaupt aus zwei Hälften?
McGilchrists Lösung sieht so aus, unser Gehirn als ein Team zweier
individueller Charaktere zu verstehen, die im besten Fall zusammenarbeiten,
mitunter aber auch unterschiedliche Absichten verfolgen. Für gewöhnlich merkt
man davon nichts. Die verschiedenen Persönlichkeiten zeigen sich erst, wenn man
eine Hirnhälfte experimentell isoliert.
Das Gehirn verschleiert das innere Chaos
Das ist nicht ganz einfach. Selbst die SplitBrainPatienten
erleben sich im Alltag nicht als Doppelbewusstsein. Das Gehirn ist sehr
geschickt darin, das Durcheinander, das es beherbergt, zu einem einheitlichen
Bewusstsein zusammenzufügen. Nur in speziellen Situationen tritt die Trennung
offen zutage — zum Beispiel bei der Patientin P.O.V. vor dem Kleiderschrank und
in Experimenten, bei denen Forscher die Wirkungsweise der einzelnen Hirnhälften
separat untersuchen, indem sie beispielsweise Gegenstände oder Wörter nur einer
Gehirnhälfte zeigen (siehe Grafik „Geteiltes Gehirn" unten auf dieser
Seite).
Am Beispiel eines Vogels, der ein Nest baut, erklärt
McGilchrist, warum die Arbeitsteilung zwischen den Hemisphären sinnvoll ist.
Der Vogel steht vor zwei widersprüchlichen Herausforderungen: Einerseits muss
er wie ein Ingenieur konzentriert und methodisch Zweige ineinander flechten.
Gleichzeitig muss er wie ein Kundschafter offen bleiben für unerwartete
Eindrücke — etwa einen plötzlich auftauchenden Feind. Um beide
Herausforderungen meistern zu können, habe die Natur Vögel und andere Tiere mit
zwei Hirnhemisphären versehen, meint McGilchrist. "Sie benutzen ihre linke
Hirnhälfte für eng fokussierte Aufmerksamkeit auf bereits bekannte Dinge",
sagt er, „während sie ihre rechte Hirnhälfte wachsam halten für alles, was da
kommen mag."
Ähnlich bei Menschen: „Für uns gibt es zwei gegensätzliche
Wirklichkeiten, zwei unterschiedliche Weisen der Erfahrung", sagt
McGilchrist. „Die linke Hemisphäre neigt dazu, sich mit isolierten
Informationen zu beschäftigen, die rechte Hemisphäre mit dem großen Ganzen, der
sogenannten Gestalt." Das sei keine scharfe Arbeitsteilung, sondern eher
ein Unterschied im Charakter. Auch die rechte Hemisphäre kann sich
konzentrieren, auch die linke kann ihren Fokus weiten — nur eben nicht so gut.
Besonders deutlich lässt sich dieser Unterschied an pathologischen
Fällen studieren, bei denen die eine Hemisphäre ausgefallen oder das
Zusammenspiel beider Hirnhälften gestört ist. Bei einem Test ließ McGilchrist
seine Patienten am Maudsley Hospital einen Baum zeichnen. Gesunde zeichnen den
Baum in seinem ganzen Formenreichtum, von der groben Silhouette bis hin zum
kleinsten Ast. Patienten hingegen, bei denen nach einem Schlaganfall nur noch
die linke Hirnhälfte richtig funktioniert, zeichnen meist eine schematisch
verzweigte Struktur, die einem Baum nur entfernt ähnelt. SchlaganfallPatienten
mit gesunder rechter Hirnhälfte wiederum konnten zwar
= den Gesamteindruck eines Baums zu Papier bringen,
schlampten aber bei den Details.
Die Psychiatrie war nur eine von McGilchrists Stationen auf
dem langen Weg, die menschliche Natur zu enträtsein. Er begann Ende der
1970erJahre als Literaturwissenschaftler am angesehenen All Souls College der
University of Oxford. Damals interessierte McGilchrist sich dafür,
wie Menschen das Konkrete, Körperliche, Unverwechselbare in
Kunstwerken wahrnehmen. In einem Vortrag des SchizophrenieExperten John Cutting
hörte er erstmals von den Fähigkeiten der rechten Hirnhälfte: „Cutting sagte,
die rechte Hirnhälfte sei viel besser darin, all die Dinge zu verstehen, die
ich im analytischen Denken vermisst hatte: das Implizite, Metaphern,
Körpersprache, Humor, Tonfall, das Einzigartige, das Partikulare. " Mit 28
Jahren beschloss der Geisteswissenschaftler McGilchrist, ein Medizinstudium zu
beginnen. Für zwei Jahrzehnte vertiefte er sich in das Rätsel der Hirnhälften,
dann, im Jahr 2009, legte er sein Buch „The Master and His Emissary" vor
(Der Herr und sein Gesandter). Der Titel spielt auf eine alte Geschichte von
einem Fürsten an, der seinem Gesandten die Verwaltung seines Reichs überlässt.
Der Gesandte schaltet und waltet — und vergisst schließlich, dass er nur im
Auftrag seines Herrn regiert. Er hält sich selbst für den Herrn. McGilchrist
sieht die linke Hemisphäre als ursprünglichen Gesandten der rechten. Der
rechtmäßige Herr in unserem Oberstübchen, die rechte Hemisphäre, habe die
Herrschaft mittlerweile an ihren Gesandten verloren.
McGilchrist glaubt sogar, dass der Kampf zwischen den
Gehirnhälften den Gang der Geschichte mitbestimmt hat. „In der klassischen
Antike und in der europäischen Renaissance und Aufklärung waren die Hemisphären
im Gleichgewicht", sagt er. Nach diesen Blütezeiten unserer Zivilisation
jedoch habe jedes Mal die linke Gehirnhälfte die Oberhand gewonnen. Die
Gesellschaft wurde immer starrer und machtorientierter und verlor an geistiger
Reg heit. Dafür hat McGilchrist eine Unmenge von Hinweisen aus der Kultur und
Sozialgeschichte zusammengetragen —auch aus unvermuteten Quellen wie der
Entwicklung der Porträtmalerei: „In den großen humanistischen Epochen kam
plötzlich Leben in die Gemälde", sagt er. „Die Gesichter starren nicht
mehr ins Leere, sondern blicken direkt auf den Betrachter oder auf dessen linke
Seite, also die Seite der rechten Hemisphäre." Sowohl in der antiken Blüte
als auch in der europäischen Kunst des 15. und 16. Jahrhunderts haben
Kunsthistoriker diese Belebung verzeichnet —und jedes Mal erstarren die Gesichter
nach einer Weile wieder.
Beim ersten Mal habe die linke Gehirnhälfte die Menschheit
in die Dekadenz und schließlich ins Dunkel des Mittelalters geführt. Beim
zweiten Mal in die Finanzkrise. „Früher ging es in der Finanzwelt darum, wem
man vertrauen kann, heute geht es nur noch darum, wie man andere
austrickst", sagt McGilchrist. „Der Kollaps der Märkte war ein perfektes
Beispiel für das blinde Befolgen von Algorithmen, die im Abstrakten tauglich
schienen, die aber völlig entkoppelt waren von der wirklichen Welt."
Beifall und BuhRufe. Und Metaphern haben nun mal eine begrenzte Tragweite.
„Faszinierend" findet indes der Neuropsychologe Peter Brugger McGilchrists
Sicht. „Es gibt gute Daten dafür, dass die Hemisphären mit unterschiedlichen
Persönlichkeitseigenschaften korreliert sind", sagt er. In eigenen
Versuchen hat er festgestellt, dass Menschen, deren Hemisphärenbalance
Schlagseite nach rechts hat, eine besondere Neigung zu magischem Denken haben.
Auch der Hirnforscher Georg Northoff stimmt McGilchrist in Teilen
zu: „Beide Hemisphären haben die Fähigkeit für Bewusstsein, und es gibt viele
empirische Belege dafür, dass ihre Beiträge unterschiedlich sind. " Aber
wenn jeder Mensch aus zwei selbstständig bewusstseinsbegabten Einheiten
besteht, bleibt eine Frage, die auch Descartes gestellt hätte: Warum bemerken
wir es im Alltag nicht? Das ist ein Rätsel, an dem Neurowissenschaftler noch
eine
Weile knabbern werden.
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