Irre und kreativ
Author D.Selzer-McKenzie
Video: http://youtu.be/hIx7JPihdk0
Genie und Wahnsinn bilden sprichwörtlich eine Einheit. Doch
die Wirklichkeit sieht anders aus, sagen Forscher.
Die Geschichte vom abgeschnittenen Ohr kennt man. Doch
Vin-cent van Gogh hatte noch mehr bizarre Anwandlungen: Im Streit stellte er
seinem Malerfreund Paul Gauguin mit einem gezücktem Rasiermesser nach. Und: Er
aß gelegentlich Ölfarben.
Mozart fiel durch verbale Obszönitäten auf — möglicherweise
weil er am Tou-rette-Syndrom litt. Hölderlin kam mit 36 Jahren in die
Psychiatrie, weil er, wie Experten heute vermuten, eine Psychose hatte. Der
Mathematiker und Nobelpreisträger John Nash fühlte sich von imaginären
Geheimagenten verfolgt — er war an paranoider Schizophrenie erkrankt. Einstein
und Newton wird von manchen das Asperger-Syndrom nachgesagt, eine milde Form
des Autismus.
Auch spektakuläre Selbstmorde de-pressiver Künstler wie
Ernest Hemingway und Virginia Woolf legen den Schluss nahe: Die geniale Psyche
funktioniert nur am Abgrund, auf einem schmalen Grat zwischen kreativer
Hochbegabung und seelischer Schieflage.
Hinweise auf diese tragische Verqui-ckung. haben
Wissenschaftler mehrfach dokumentiert. Zum Beispiel Shelley Car-son,
Psychologie-Professorin an der Harvard University, die seit einigen Jahren die
sogenannte latente Inhibition erforscht: 2 Diese Reizhemmung schränkt bei
gesun-I' den Menschen die Wahrnehmung ein und schützt so das Gehirn vor einer
Reizüber-
flutung. „Ist dieser Schutz zu schwach
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21 ausgeprägt, ist man für Informationen
und neue Eindrücke offener und findet
bessere Lösungen für Aufgaben", erklärt Carson. Nur:
Diese psychische Besonderheit schafft auch ein Problem. Die Betroffenen können
die auf sie einstürzende Informationsflut schlecht filtern. „Hochkreative Menschen
haben ein höheres Risiko für psychische Erkrankungen als andere", stellt
Carson fest. Das kann in Depressionen oder Alkoholismus mün-den und bis zu
Symptomen ähnlich einer Schizophrenie führen.
Welche Rolle spielen die Gene?
Kreative Menschen können ihre psychische Sonderstellung zwar
in Arbeit umsetzen, laufen jedoch Gefahr, aus der Spur zu geraten. Laut einer
1999 veröffentlichten Studie des isländischen Gen-Forschers Jon Karlsson vom
Institut für Genetik in Reykjavik finden sich in den Familien begabter
Mathematiker überdurchschnittlich viele Psychotiker. Er hatte geprüft, wie
viele der Top-Mathematik-Absolventen einer Generation und deren Geschwister,
insgesamt 620 Personen, wegen einer Psychose behandelt werden mussten. Es waren
etwa dreimal so viele wie im Bevölkerungsdurchschnitt.
Und der ungarische Neuroforscher Szabolcs Keri von der
Universität Budapest entdeckte, dass Studenten mit einer bestimmten Variante
des Gens Neure-gulin 1 zwar kreativere Lösungen für Probleme finden als
Kommilitonen, die andere Varianten des Gens tragen. Dieser Erbfaktor birgt aber
auch ein höheres Risiko, an einer Psychose zu erkrankenDas Gen regelt unter
anderem die Hirn-entwicklung und die Kommunikation der Neuronen untereinander.
Muss also jeder kreative Kopf fürch-ten, in geistiger
Umnachtung zu enden? Mitnichten! So faszinierend das Duo In-fernale von Genie
und Wahnsinn sein mag — es gibt viel mehr kreative Menschen mit intakter
geistiger Gesundheit, wie Forscher beobachtet haben. Thomas Mann, Karl
Lagerfeld, Steven Spielberg, Alice Munro und viele andere Künstler und
Nobelpreisträger belegen, dass kreative Hochleistungen bis ins hohe Alter bei
klarem Verstand möglich sind. Auch hinter
Lady Gaga verbirgt sich eine rationale, geschäftstüchtige
und hochintelligente, so gar nicht wahnsinnige Persönlichkeit.
Warum aber prägen die Verschrobenen unser Bild vom Genie?
Sie scheinen besonders attraktiv zu sein. Wir erliegen dem doppelten Faszinosum
aus seelischer Schieflage und genialem Werk. Geniale psychisch Kranke und Koryphäen
ragen aus der Masse heraus. Die Auffälligen nimmt man stärker wahr, erinnert
sich besser an sie. Hagop Akiskal, Psychiatrie-Professor an der University of
California in San Diego, gibt zu bedenken, dass zwar 8 Prozent der
Manisch-Depressiven
Künstler seien, aber 92 Prozent eben nicht. Die Mehrheit
dieser Patienten er-bringt keinerlei kreative Ausnahmeleis-tung. Die
menschliche Wahrnehmung hält sich jedoch ungern mit Statistik auf und lässt
sich leicht davon überzeugen, dass beides zusammengehört — verstärkt durch
Hollywood-Filme wie „Pi" oder „A Beau-tiful Mind".
Eine schwach ausgeprägte bipolare Störung (manische
Depression) kann zwar künstlerische Leistungen fördern, „denn die depressive
Phase ermöglicht tiefe Einsichten in das menschliche Dasein", betont
Akiskal, „während eine gemäßigt manische Phase die Umsetzung beim Komponieren,
Malen oder Schreiben erlaubt". Doch die meisten Menschen mit dieser
Störung seien in extrem manischen Phasen nicht zu nennenswerten kreativen
Leistungen fähig, weil sie sich nicht genügend konzentrieren können. Besonders
starke Manien und Psychosen sind zudem mit komplexer kreativer Arbeit über
viele Jahre hinweg nicht vereinbar. „Das entkräftet die romantische
Idealisierung des Wahnsinns als zentralen Faktor für Kreativität", stellt
der Psychiater trocken fest.
Wichtig: Talent und Fleiß
Auch Peter Brugger, Neurowissen-schaftler am
Universitätsspital in Zü-rich, untersucht seit Jahren die Ver-bindung von
Kreativität und Wahn. Was die mit Schizophrenie assoziierten Gene betrifft, die
manche Kreati-vitätsforscher unter die Lupe nehmen, argumentiert er ähnlich wie
Akiskal: „Nicht jeder Gen-Träger erkrankt. Und wer nicht erkrankt, ist
womöglich in mancher Hinsicht kreativer als der Durchschnitt." Ebenso
räumt Harvard-Psychologin Shelley Carson ein, dass trotz des höheren Risikos
für seelische Schief-lagen die meisten kreativen Menschen psychisch gesund
sind. Nicht Wahnsinn, sondern Talent, Fleiß und Übung führen in der Regel zum
Erfolg. Und eine hohe Intelligenz sowie ein gutes Arbeitsgedächtnis schützen
laut ihren Studien davor, dass die
Psyche
Schaden nimm
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