Die Zukunft des Sex
Author D.Selzer-McKenzie
Video: http://youtu.be/DIWpWqd_M5o
Wir schreiben das Jahr 1965. In Deutschland t es immer noch
als an-rüchig, sich an ein Ehean-bahnungsinstitut zu wenden. Auf die Annoncen
(„Gut situierter Unternehmer im Ruhestand, 73, passio-nierter Segler, sucht
Frau von Niveau") ist auch nicht immer Verlass. Und wer traut sich schon
zum Ball der einsamen Herzen, wo der Kontakt per Tischtele-fon aufgenommen
wird?
Auf der anderen Seite des Atlantiks hat der Harvard-Student
Jeff Tarr eine bessere Idee. Er will das Thema Partnersuche nicht mehr dem
Zufall oder hauptberuflichen Kupplern überlassen. Tarr entwickelt
Persönlichkeitsfragebögen, mit denen er Kommilitonen nach ihren Vorlieben
befragt, und verteilt sie an Bostoner Universitäten. Die Zahl der Rückmeldungen
überrascht ihn selbst. Er mietet kurzerhand einen IBM-Computer, wertet die
erhaltenen Daten nach potentiell erfolgreichen Paarungen aus und nennt diese
erste computerbasierte Partnerbörse paramilitärisch „Operation Match".
Schon nach zwölf Monaten hat er neunzigtausend registrierte Nutzer zusammen und
erwirtschaftet Einnahmen von 270 000 Dollar. Doch bis daraus ein allgemeines
Geschäftsmodell wird, gehen noch einige Jahrzehnte ins Land.
Heute wird der Markt für Singlebör-sen allein in Europa auf
mehr als achthundert Millionen Euro geschätzt. Deutschland bildet, nach
Großbritannien, den zweitgrößten Markt mit einem Umsatz von gut zweihundert
Millionen Euro.
Richtig in Schwung kam die Sache um die Jahrtausendwende,
als Zeitschriften und Stadtmagazine dazu übergingen, ihre Kleinanzeigen auch
ins Internet zu stellen. Der Computer half jetzt mit, weil die Kontaktwilligen
über eine Volltextsuche, wenn auch vergleichsweise. mühevoll, die Spreu vom
Weizen trennen konnten. Wenige Jahre später folgten die ersten kommerziell
erfolgreichen Online-Singlebörsen, die ihre Dienstleistung unabhängig von
Verlagsinhalten anboten. Die Auswahlmöglichkeiten waren schon deutlich
differenzierter; so konnte man gezielt nach geeigneten Kandidaten in der
näheren Umgebung suchen, auch nach Übereinstim: mungen bei Hobbys, sexuellen
Vorlie-ben oder Alter und Statur.
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Scoutzi. Holding mit Sitz in München, die mit diversen
Online-Marktplätzen wie immobilienscoutz4 oder autoscoutzl. für so ziemlich
jeden Topf einen Deckel sucht. friendscoutzg. ist nach eigenen Angaben mit
z}Millionen registrierten Profilen das mitgliederstärktste Partnerportal in
Deutschland. Doch während bei einem Auto an Fakten wie Hersteller, Modell,
Farbe oder Tachostand schlecht zu rütteln ist, gestaltet sich die Suche nach
einem Lebensgefährten deutlich komplexer. Es gehört schließlich zu den
Binsenweisheiten, dass ein Mann sich in eine schwarzhaarige Fiau verlieben
kann, auch wenn er eigentlich Blondinen bevorzugt. Eine Frau kann durchaus an
einem Weltumsegler Gefallen finden, auch wenn sie ursprünglich nach einem
erzkonservativen Angestellten aus dem gehobenen Verwaltungsdienst gesucht hat.
Gemeinsamkeiten allein machen nicht per se ein gutes „Match", wie die
Paar-psychologen es nennen.
Hier kommt die Grundidee von Jeff Tarr wieder ins Spiel.
Inzwischen setzt eine ganze Reihe von Partnerbörsen auf Matching-Algorithmen,
die durch aktive Computerunterstützung nach erfolgver-sprechenden Paarungen
suchen, also nicht nur durch eine vom Nutzer initiierte Einmalabfrage
gespeicherter Daten. Allen diesen Partnerbörsen gemein ist, dass ihre
Mitglieder vorher einen ausführlichen, von Psychologen entwickelten Fragebogen
ausfüllen. Der Fokus liegt dabei weniger auf singulären Eigenschaften wie
Hobbys, Einkommen oder Beruf. Interessanter für die MatchingAl-gorithmen sind
Metathemen: Ist der Kandidat belastbar und von positiver Grundeinstellung? Wie
geht er mit Krisen um? Ist er eher dominant oder anpassungsfähig? Ist er in-
oder extrovertiert?
Beim Ausfüllen dieses Fragebogens entsteht eine
Persönlichkeitsmatrix, die - ähnlich wie bei modernen Kundenbin-dungssystemen -
Kandidaten in verschie-dene Typen mit verschiedenen Abstufungen einteilt. Und
für jeden dieser Typen gibt es wiederum eine gewisse Anzahl von potentiell
passenden anderen Typen. Zwar spielen bei den Matching-Algorith-men durchaus
auch Hobbys oder die Höhe des Einkommens eine Rolle, doch diese werden
wesentlich niedriger gewertet sind somit eher das I-Tüpfelchen zur Feinkalibrierung
der Übereinstimmungsprognose. Worin sich die Partnerbörsen zum Teil massiv
unterscheiden, ist die genaue Gestaltung der Algorithmen. Die 'gaben eine
ähnliche Geheimhal-tunerimie wie das vielzitierte Coca-Caki-literzept oder der
Suchalgorithmus
Goatin Bei der vor allem im englishen.
Dieser „Gamification' genannte Ansatz gestattet es, die
Datenim-sis zu verfeinern und den Kunden na-gleich am Vermittlungserfolg
teilhaben zu lassen.
Was die Partnerbörsen der dritten Generation von ihren
Vorgängern unterscheidet, ist, dass sämtliche erfassten Daten pausenlos
miteinander abgeglichen werden und bei jeder Neuanmeldung eines Kandidaten
überprüft wird, inwieweit er zu den bereits existierenden pass--Jedes Mitglied
einer solchen Partnerbörse erhält in regelmäßigen Abständen häufig täglich,
neue Vorschläge. Die
ren eine Rückkehr zum „Cocooning beobachtet, zur
Häuslichkeit in einem gemeinsamen Raum. Es gibt aber auch Fragen, die obsolet
geworden sind. Beispielsweise wie jemand reagiert, wenn ein anderer Gast im
Restaurant anfängt zu rauchen. Stattdessen fragen wir nun, wie Menschen es
finden, wenn andere im Restaurant ihr Mobiltelefon nutzen.
Führen Sie oft neue Fragen ein?
Meist in großen Abständen im Rahmen einer Testrevision.
Sonst haben Sie Abermillionen von Datensätzen existierender Kunden, die diese
Frage eben noch nicht beantwortet haben.. Unser Matchmaking basiert auch
we-niger auf einzelnen Fragen, die Daten werden vielmehr zu
Merkmalskornlilie-xen zusammengefasst.
Wie viele Merkmale erfassen Sie:
Insgesamt 32 Merkmale, in bis .7_ Abstufungen, deren
Auspräg-an: - nem Kontinuum sogenannter
dardwerte ausgedrückt wird. -
lich beschreiben wir die Ergel-_-n_ meist in etwa fünf
Abstufungen
Werten Sie das Konversationsweini-ten aus? Zum Beispiel die
Zahl der schriftlichen Kontakte, um be-aiL.,--zufinden, ob ein vorgeschleenr
Match erfolgreich ist?
Das würde nichts bringen. Fr.= ne
entscheidend, ob ein Paar haben uns gefunden. De= ran=re
Übereinstimmungsquote wirr! in Punkten oder Prozentzahlen
angegeben.
Die vierte und derzeit letzte Generation der Suchbörsen
setzt auf zwei Trends: die Hinwendung zu mobilen Endgeräten -rad zu sozialen
Netzwerken. Mobile Gerate erlauben standortbasierte Vermittlung. Apps wie
Tinder oder das Berliner Start-up Lovoo setzen hier einen klaren Schwerpunkt:
Räumliche Nähe ist wichtiger als charakterliche Übereinstimmung. Der Nutzer
sieht diejenigen Kandidaten.
Einkommens oder die Art seiner sexuellen Vorlieben verrät er
nur höchst ungern. Umso mehr interessiert er sich für die intimen Details der
jeweils anderen. Aus diesem Zwiespalt heraus lässt sich fast schon die gesamte
Verfassung der Menschheit ableiten. In Schopenhauers Worten: „Wozu der Lärm?
Wozu das Drängen, Toben und die Not? Es handelt sich ja bloß darum, dass jeder
Hans seine Grete findet."
So war es bislang. Aber so wird es nicht bleiben. Auf
Facebook werden mittlerweile sechzig Möglichkeiten angeboten, sein Geschlecht
zu beschreiben, wobei die Unterscheidung zwischen „androgyn",
„bigender" und „transgender" schon zeigt, wie subtil die Grenzen
verlaufen. Diese semantische Diversifikation, über die sich billige Glossen
schreiben lassen, spiegelt wieder, dass es nicht mehr allein um Hans und Grete
geht. Und bei denen auch nicht mehr vorrangig darum, Nachwuchs zu zeugen.
Fortpflanzung ohne Sex ist heute ohne weiteres möglich, Verhütung seit der
Erfindung der Pille kein Lotteriespiel mehr.
Am stärksten aber wandelt sich die Sexualität unter dem
Einfluss der neuen Medien. Unsere Urgroß-eltern haben allenfalls mal ins
nächste Dorf eingeheiratet, wir selbst können in den einschlägigen Suchbörsen
unter Millionen mögli-cher Partner wählen. Gleichzeitig führt uns das Internet
jede denkba-re - und für frühere Jahrgänge kaum vorstellbare - Spielart der
menschlichen Sexualität vor. Wie sich all dies auf die Phantasie und die Praxis
künftiger Generationen auswirkt, können wir allenfalls ah-nen. In diesem
Wissenschaftsspezi-al, das Auftakt zu einer kleinen Serie ist, riskieren wir
trotzdem einen
Blick.
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