Neues Lese-Verhalten
Author D.Selzer-McKenzie
Video: http://youtu.be/o3enbw7rEug
Ob Bildschirme und Displays bald Bücher ersetzen werden, ist
umstritten. Doch das Lese-verhalten wird sich durch die digitalen Möglichkeiten
auf jeden Fall stark verändern.
lektronische Lesegeräte wie E-Book-Reader und
Tablet-Computer sind d
bei deutschen Lesern nicht beson-
ders beliebt. Die meisten geben an, Texte lieber auf Papier
als auf Displays zu lesen. Diese Vorbehalte beschäftigen vor allem Hersteller
von E-Readern, die nach wie vor mit einem Akzeptanzproblem zu kämpfen haben: 15
Jahre nach Einführung der ersten Geräte beträgt der Marktanteil von E-Books in
Deutschland nur zwei Prozent. In den USA ist er zehn Mal so hoch.
Lesen wir leichter auf Papier? Darauf gibt die Wissenschaft
kontroverse Antworten: Manche Studien ergaben, dass sich Menschen beim Lesen am
Bildschirm schlechter konzentrieren können — andere Untersuchungen fanden
Pluspunkte für das Display. So ergab eine Lesestudie von Forschern der
Universität Mainz um Franziska Kretzschmar und Dominique Pleimling, dass
älteren Menschen das Lesen an Tablet-PCs leichter fällt als auf Papier, weil
sie die Schrift vergrößern können. Eine Studie der Universität Harvard belegte
zudem, dass es vielen Kindern mit Leseschwäche besser gelingt, Texte am
Tablet-PC zu entziffern als auf Papier. Auch in ihrer Freizeit bevorzugen viele
Menschen ein gedrucktes Buch, wie eine Studie eines Forscherteams um Tom
Rod-den, Professor an der School of Computer Science and IT der Universität
Nottingham ergab, an der auch Wissenschaftler des Forschungszentrums von
Microsoft in Cambridge beteiligt waren: Die Probanden nutzten gedruckte Bücher,
wenn ihnen der Lesestoff wichtig war, zu digitalen Büchern dagegen griffen sie,
wenn ihnen die Inhalte weniger wertvoll erschienen —zumal das E-Book das Gefühl
vermittelt, es nicht wirklich zu besitzen.
Am liebsten gedruckte Bücher
Zu gedruckten Bücher lässt sich eher eine emotionale Bindung
aufbauen. Dazu kommen praktische Probleme: Ein E-Book kann und darf man nicht
verleihen, und es lassen sich nicht alle Formate auf allen Geräten öffnen. Das
nährt die Sorge, in einigen Jahren keinen Zugriff zu den Texten mehr zu haben.
Einen verblüffenden Effekt fanden Forscher um Monique Jan-
neck von der Fachhochschule Lübeck: Sie entdeckten, dass
Menschen zwar auf einigen elektronischen Geräten effizienter als auf Papier
lesen, diesen Vorzug aber nies erkennen. Nach einer Woche Schmökern mit
Büchern, E-Readern oder Tablet-Computern erklärte die Mehrheit der
Testpersonen, am liebsten gedruckte Bücher zu lesen und Inhalte daraus auch
schneller aufzunehmen. Doch damit lagen sie falsch: „Unabhängig vom
persönlichen Lesetempo lasen alle Testpersonen auf dem E-Reader am
schnellsten", stellten die Forscher fest. Das gedruckte Buch bildete das
Schlusslicht.
Auffällig war auch, dass sich die Pro-banden fast doppelt so
lange ihren elek-tronischen Geräten widmeten wie die Kontrollgruppe ihren
Büchern. Dennoch verbanden die meisten Leser mit gedruckten Büchern das Gefühl
von Gemütlichkeit, bewerteten die Haptik und den Geruch von Papier als positiv
und störten sich am vermeintlich zu hohen Preis der E-Books. Die Lübecker
Forscher gehen deshalb davon aus, „dass ein Siegeszugdes E-Books über das
gedruckte Buch kaum zu erwarten ist".
Wieso hat Haptik für den Leser einen so zentralen Wert? Weil
es Menschen offenbar leichter fällt, Dinge zu „begreifen", wenn sie sie
anfassen können. Das hat Eva Hornecker, Professorin für
Mensch-Computer-Interaktion an der Bauhaus-Universität Weimar, beobachtet: Sie
er-forscht, wie man reale Modelle zum An-fassen mit Simulationsprogrammen im
Computer verknüpfen kann, um Menschen das Begreifen und Lernen eines neuen
Stoffs zu erleichtern. „Haptik ist wichtig für das Verstehen", sagt sie.
Das sieht man zum Beispiel bei kleinen Kindern, die wieder
und wieder Gegen-stände fallen lassen, um die Schwerkraft zu begreifen.
Vielleicht liegt darin der -§ Schlüssel für die Tatsache, dass elektroni-sche
Texte vielen Menschen zu wenig fass-bar sind. In Büchern können sie Seiten
knicken oder Stellen mit dem Stift markie-ren. Viele erinnern sich sogar daran,
ob sie
etwas auf einer rechten oder einer linken Seite gelesen
haben und finden die Stelle beim Durchblättern schnell wieder. Das alles geht
mit E-Books nicht.
Umständliches Umblättern
Folgt daraus, dass Forscher noch mehr versuchen sollten, das
E-Book an das ge-druckte Buch anzulehnen, es quasi zu imi-tieren? Nein, meint
Kai Kunze, Assistenz-professor am Institut für Computerwissen-schaften der
japanischen Universität Osaka. „Man baut damit nur Probleme ein", sagt er.
Umständlich sei es etwa, wenn das Umblättern auf elektronischen Geräten dem
eines Buches gleicht. Man muss warten, bis die Seite geladen ist, bevor man
weiterlesen kann. Beim Scrollen dagegen wird der Lesefluss kaum unterbrochen.
Doch für Menschen, die gerade vom gedruckten aufs
elektronische Buch umsteigen, ist das Umblättern womöglich wichtig.
Gewohnheiten ändern sich lang
sam. Auch Kunze druckt wissenschaftliche Texte aus, um
bestimmte Stellen am Blattrand zu markieren oder zu kommentieren. „Das wäre mir
digital zu umständlich", gesteht er. Dennoch sollten die Forscher vor
allem ergründen, welche Vorteile künftige Entwicklungen bringen und wie sie die
Lesegewohnheiten verändern. Denn elektronische Geräte können mehr als Bücher zu
imitieren.
Tilman Dingler vom Institut für Visua-lisierung der
Universität Stuttgart beschäftigt sich mit der Frage, wie E-Books die Effizienz
des Lesens steigern können. Denn da könnten sich auch Erwachsene noch
verbessern: "Man lernt Lesen in den ersten Schuljahren, danach bekommt man
im ganzen Leben keine weiteren Techniken an die Hand."
Hinter seinen Forschungen steht die Idee des Speed-Reading —
einer Methode, für die sich immer mehr Menschen interessieren: Indem sie die
Zeilen mit dem Finger oder einem Stift in konstantem Tempo überfliegen, lesen
sie schneller. Eine andere Technik ist, nicht mehr einzelne Wörter zu erfassen,
sondern mit einem Blick, einer sogenannten Fixation, mehrere Wörter
gleichzeitig aufzunehmen.
Diese Techniken will Dingler mittels digitaler Hilfen
verbessern. Er entwickelt eine App für Smartphones, die den Text mit
individuell einstellbarem Tempo markiert oder unterstreicht — ähnlich wie beim
Speed-Reading der Stift. Auch Vorschläge für zu fixierende Stellen könnte man
leicht hervorheben. Gerade für das Speed-Reading eignen sich aus Dinglers Sicht
gedruckte Texte nicht so gut: Da es verschieden große Schriftarten gibt, ändert
sich die Zahl der nötigen Fixationen pro Zeile. Beim elektronischen Lesen kann
der Nutzer die Schriftgröße selbst und einheitlich wählen und so seine Lese-
fähigkeit individuell verbessern. Das verspricht mehr
Effizienz und mehr Spaß beim Lesen, meint Dingler: „Das Auge ist beim Lesen oft
zu langsam fürs Gehirn, sodass man anfängt, an etwas anderes zu denken, und
abschweift." Wer schneller . liest, bleibt eher bei der Sache. Mit seiner
App will Dingler prüfen, wie viel, wie oft und wie schnell Nutzer damit lesen —
und ob sie dadurch besser werden.
Für künftige Anwendungen hat der Stuttgarter Forscher zudem
die Kamera g-der Tablet-Computer im Auge. Darin ließe sich ein Eye-Tracker
integrieren: eine win- r zige Kamera, die Augenbewegungen ver-2 folgt und
aufzeichnet. Ein Algorithmus
könnte anhand dieser Bewegungen erken-re nen, wo der Leser
hängen bleibt, wann er
sich nicht mehr konzentriert oder ob die F,
Lesegeschwindigkeit stimmt — und auto-2matisch Anpassungen vornehmen. „Das
Gerät könnte etwa eine passende Grafik einblenden, wenn der Leser abgelenkt
ist." Denn ein Wechseln des Mediums kann den Leser zurückholen und ihm
bewusst machen, dass er gerade abgeschweift ist.
Die Kamera der Tablets will auch Kai Kunze nutzen. Seine
Studien haben ergeben, dass sich schon durch eine einfache Auswertung der
Augenbewegungen neben der Zahl gelesener Wörter auch die Art des Dokuments
erkennen lässt: „Auf diese Weise lassen sich etwa ein japanisches Manga-Comic
von einem wissenschaftlichen Papier und von einem Zeitungsartikel
unterscheiden." Ähnlich wie bei einem Schrittzähler könnten Leser mit einem
solchen „Wordometer" messen, wie viele Wörter und welche Art von Text sie
am Tag gelesen haben. „Unter Freun-
den und Kollegen könnte ein Wettstreit entstehen",
meint Kunze. Das wäre durchaus sinnvoll für die Bildung: Studien belegen, dass
das Allgemeinwissen mit der Menge des Gelesenen wächst — und zwar unabhängig
von Genre und Gattung.
Frisch gelesen, schon auf Facebook
Diese Daten könnten die Nutzer über soziale Netzwerke mit
Freunden teilen und sich so über Gelesenes austauschen. Auch E-Book-Anbieter
interessieren sich dafür: Wo ist ein Leser ausgestiegen? Welche Passagen hat er
gelesen, ohne abzusetzen? Welchen Autor favorisiert er? Amazon sammelt über
seinen E-Reader „Kindle" bereits solche Daten, wertet sie aber kaum aus
und stellt sie der Forschung nicht zur Verfügung. Das Sammeln geschehe nur, um
die Angebote zu verbessern, erklärte eine Sprecherin auf Anfrage von
Computer-Bild. So hat der E-Book-Anbieter Bar-nes & Noble registriert, dass
viele Nutzer Sachbücher nicht zu Ende lesen und daher eine neue Reihe
eingeführt, die Sachthemen knapper behandelt.
„Eine solche Auswertung könnte auch für Autoren interessant
sein", mutmaßt Kunze. Sie könnten Stellen umschreiben, die den Lesern
offenbar nicht gefallen. Und sie könnten sehen, ob ihr Spannungsbogen
funktioniert. Die Kommentare anderer Leser können Kindle-Nutzer schon heute
sehen. Das könnte eine neue Art von Literatur hervorbringen. Ein Problem sieht
Kunze im Datenschutz: „Amazon und Google wissen sowieso schon viel über mich.
Ich will nicht, dass sie auch noch mein Leseverhalten im Detail kennen."
Aber wenn eine gesellschaftliche Konvention oder ein Gesetz das Datensammeln
unterbinden würde, fände er die Möglichkeiten dieser neuen Form der
Leserbeteiligung reizvoll.
Intelligente Geräte könnten zudem Texte auf einen Leser
zuschneiden, indem sie Infos ausblenden, die er aus einem anderen Buch schon
kennt. Und sie könnten Definitionen einblenden, wenn sie mer
ken, dass der Leser an einem Wort hängen bleibt, das er
offenbar nicht versteht. „Für Fachliteratur oder personalisiertes Lernen finde
ich das interessant", sagt Kunze. Anhand der Augenbewegungen könnte ein
Algorithmus bestimmen, zu welcher Tageszeit der Leser besonders aufmerksam ist
— und ihm einen persönlichen Lernplan vorschlagen. „Das ist natürlich nichts
für Belletristik, bei der nicht die Effizienz im Vordergrund steht", sagt
Kun-ze. Aber auch bei Romanen und Krimis schafft der Austausch von Anmerkungen
über das Netz neue Optionen: Er kann Leute zusammenbringen, die ähnliche Bücher
lesen und dieselben Passagen markiert haben.
Informatiker Tilman Dingler findet auch einen Austausch über
Generationen hinweg reizvoll: „Was hat meinen Großvater bei diesem Buch bewegt?
Welche Gedanken hatte mein Vater bei jener Passage? Ähnlich wie bei gedruckten
Büchern: Wt. ein altes Buch seiner Großeltern
blättert, versucht sicher, deren --
kungen zu entziffern. Lesen werden Menschen wohl immer. Aber
wie
sie lesen, wird sich ändern
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