Bergwandern im Tessin
Author D.Selzer-McKenzie
Video: http://youtu.be/YGlJEkmGGQY
Einsame Begegnungen im Tessin
Große Gemälde mit Bergmotiven zieren die hölzerne Wand.
Ringsum stehen mächtige Tische, die Stühle or¬dentlich darauf gestellt, die
Küche mit Holz- und Gas¬ofen blitzt geradezu vor Sauberkeit. Es ist kühl im
Rifugio Baro¬ne, und die Abwesenheit von Menschen deutlich spürbar. Wie wird es
sein, womöglich als Einzige hier zu übernachten? Ich fühle mich etwas verloren,
an das „Alleine-Unterwegssein" muss ich mich erst noch gewöhnen. Weitere
fünf Tage von Selbstversorgerhütte zu Selbstversorgerhütte liegen vor mir, ab
dem dritten Tag auf der offiziellen Via Alta Vallemaggia - das gemischte Gefühl
aus überschwänglichem Freiheitsempfinden, einer Art Stolz, stellenweiser Einsamkeit
und einem gewissen
Unbehagen als stetem Begleiter.
Später kommen doch noch zwei junge Männer und eine Frau, und
am Abend wird es richtig gemütlich. Ich beginne gerade zu essen, als plötzlich
noch ein Wanderer hereinpoltert. Er schaut sich mehrmals um und versucht
merklich die Situation einzu¬ordnen - das Dreiergespann an einem, ich an einem
anderen Tisch - und setzt sich schließlich zu mir. Es dauert nicht lange, und
wir unterhalten uns angeregt. Erst als die anderen längst im Bett sind, drängen
sich auch bei uns die nur noch wenigen übriggebliebenen Stunden Schlaf in unser
Gewissen, und wir schleichen vorsichtig über die knarzenden Holzstufen hinauf
ins Lager.
Nach dem Frühstück steigen wir mit leichtem Gepäck vorbei am
dunkelblauen, herzförmigen Lago di Barone hinauf zum Hüttengipfel Pizzo Barone
(2864 m) und kehren anschließend zurück zum Rifugio, das inzwischen von einer
fröhlichen Tessi¬ner Seniorengruppe zum sonntäglichen Pasta-Kochen in Be¬schlag
genommen worden ist. Auch wir genießen einen Kaffee auf der sonnigen Terrasse
und beschließen, den Tag noch ge-meinsam weiterzuwandern.
Auf raues Blockgelände folgen steile Schrofenhänge und vom
Regen aufgeweichte Wiesen. Schließlich führt eine Brücke hin¬über zur Capanna
Soveltra, die malerisch zwischen dem Ausläufer eines Hangs und dem Fluss liegt.
Am Ende des Tals baut sich der höchste Tessiner Berg, der Pizzo Campo Tencia
(3072 m) auf. Wir erfrischen uns in den nahegelegenen glas¬klaren Gumpen und
lassen den Nachmittag auf den noch an¬genehm warmen Felsen ausklingen.
Mit einer Verabredung für München zwei Wochen später
tren¬nen sich frühmorgens unsere Wege. Die Wiesen sind noch nass, die Berge
strahlen in der Morgensonne. Die blau-weiße Markierung leitet schnell über
große Steinblöcke bergauf bis zum Passo di Redorta, wo am gegenüberliegenden
Bergkamm Wolken wie aus einer Dampfmaschine in die Höhe steigen. Ich
Zu hören sind nur ein paar brummende
Insekten und zwitschernde Vögel
mache eine kurze Pause und spähe in die Tiefe: Nebelfetzen
drängen herauf und verhindern eine klare Sicht. Plötzlich taucht ein einzelner
Wanderer auf, der sich den steilen Pfad heraufmüht - tatsächlich wird er der
einzige Mensch bleiben, der mir drei Tage lang außerhalb der Hütten begegnet.
Später verharre ich in einem riesigen Kessel für einen
kurzen Moment, schließe meine Augen und konzentriere mich darauf, was ich höre:
Ein paar Insekten brummen um mich herum, hin und wieder zwitschert ein Vogel
und ... nichts! Ein wunderbar seltener Moment, trotzdem drängen sich unweigerlich
die Ge¬danken dazu: Und wenn dir hier nun in diesem Funkloch etwas passiert?
Ich versuche mich wieder mehr auf die Markierungen
zwischen den Felsblöcken zu konzentrieren. Bis zum nächsten
Pass folgt Stein auf Stein, und auch der kleine Gipfel-Abste¬cher verlangt eine
eher hüpfende Fortbewegung. Oben ist be¬reits der See, an dem mein nächstes
Nachtlager liegt, zu sehen: Er wirkt fast schwarz von den dunklen Wolken
darüber - ich beeile mich hinunterzukommen. Auf einer großen Almfläche mit
verfallenen Häuschen irre ich aufgrund der spärlichen Markierungen ein wenig
herum und komme so doch noch in den Regen. Unmittelbar mutieren Felsplatten und
Gras in Kombination mit dem schweren Rucksack zu gefährlichen Rutschbahnen, und
ich bin froh, den hellen Neubau des Rifu-gio Tomeo heil zu erreichen. Später
sitze ich als einziger Gast mit der Allgäuer Hüttenbetreuerin gemütlich beim
Kartenspie¬len zusammen, während der Regen von draußen unaufhörlich an die
Fensterscheiben prasselt.
Am Morgen haben sich die Wolken dann verzogen, doch das Tal
liegt noch völlig im Schatten. Der Steig führt entlang des Sees und schließlich
wieder über Blockgelände bergauf Vorbei an noch tropfenden Bäumen und
Sträuchern quere ich längere Zeit den Hang, bis es erst abwärts und schließlich
durch eine steile Geröll-Rinne wieder auf einen kurzen Grat hinaufgeht. Es ist
alpinistisch der interessanteste Abschnitt der Via Alta, doch ich fühle mich
heute nicht ganz fit und empfinde das Hö¬henmeter-Auf-und-Ab eher als mühsam.
Meine Konzentration lässt nach, und prompt rutsche ich an einem Stein ab und
hole mir einige blutige Kratzer am Bein. Doch dann dauert es nicht mehr lange,
und ich stehe plötzlich am Ende einer Hochebene vor einer Reihe am Hang
erbauter kleiner Steinhäuschen. Trotz der obligatorischen Schweizer Fahne
brauche ich einen Moment, bis ich mir sicher bin, dass es sich bei der
Ansammlung um die Capanna Alpe Spluga handelt: Es gibt tatsäch¬lich ein eigenes
Häuschen für die Küche, eins für Dusche und Toilette und eins zum Schlafen! Trotz
der vielen Räumlichkeiten wird es später eng: Neben drei Paaren kommt noch eine
ganze Gruppe von Schweizern nach und nach triefnass eingetrudelt - ein
sympathischer Trupp, der mich beim Abendessen schnell in seine heitere Runde
integriert. Noch am nächsten Tag freue ich mich über diese nette Zusammenkunft
und überhaupt über die so abwechslungsreich verlaufenden Abende mit den
unterschiedlichsten Men¬schen. So setze ich gut gelaunt bei sonnigem Wetter
meinen Weg in südlicher Richtung fort, vorbei an tiefblauen Seen und hinauf auf
Gipfel mit phänomenaler Aussicht über die steilen und schroffen, dann wieder
grünen und sanften Tessiner Berge. Von mensch-
Von Menschen ist wiederholt
weit und breit keine Spur
lichen Wesen ist erneut weit und breit keine Spur, ich
treffe lediglich auf eine bunte Zie¬genherde, die sich nicht besonders für mich
interessiert. Auch mein letztes Nachtlager auf der Via Alta, das Rifugio Alpe
Masnee, ist bei meiner Ankunft verlassen. Es setzt sich erneut aus einzelnen
Schlaf-, Küchen- und Waschraumhäuschen zusammen - wunder¬schön auf einem
Plateau gelegen und der perfekte Platz, um das gewitterträchtige Wetter mit
seinen prächtigen Farb- und Wolkenspielen zu beobachten. Erst am frühen Abend
tauchen zwei Männer auf Wieder macht sich bei mir das nun schon wohlbekannte
Un¬behagen bemerkbar, allein unterwegs zu sein. Letztendlich ist aber auch
dieser Abend geprägt von sehr netten Unterhaltungen, und um meine Privatsphäre
zu bewahren, le¬gen sich die beiden sogar in ein anderes Schlafhaus.
Mein letzter Tag führt über Grate und Gipfel mit einer
tollen Fernsicht bis hin zum schneebedeckten Monte Rosa sowie Tiefblicken ins
grüne Valle Maggia und auf das Ziel: den tiefblauen, in der Sonne glitzernden
Lago Maggiore. Und kaum habe ich den Madone überschritten, ist es vorbei mit
der Tessiner Einsamkeit: Die nun nicht mehr weit entfernte Cimetta mit bequemem
Seilbahnzugang sorgt für erheblichen Zuwachs an Wanderern. Ich genieße noch
einmal die Aussicht und versuche innerlich einen Abschluss für diese für mich
so besondere Tour zu finden. Es gelingt mir nicht ganz, und die ersten Stunden
im heißen und sehr quirligen Locarno gleichen einem leichten Kulturschock ...
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