Donnerstag, 3. September 2015

Bergwandern im Tessin


Bergwandern im Tessin

Author D.Selzer-McKenzie

Video: http://youtu.be/YGlJEkmGGQY

Einsame Begegnungen im Tessin

 

Große Gemälde mit Bergmotiven zieren die hölzerne Wand. Ringsum stehen mächtige Tische, die Stühle or¬dentlich darauf gestellt, die Küche mit Holz- und Gas¬ofen blitzt geradezu vor Sauberkeit. Es ist kühl im Rifugio Baro¬ne, und die Abwesenheit von Menschen deutlich spürbar. Wie wird es sein, womöglich als Einzige hier zu übernachten? Ich fühle mich etwas verloren, an das „Alleine-Unterwegssein" muss ich mich erst noch gewöhnen. Weitere fünf Tage von Selbstversorgerhütte zu Selbstversorgerhütte liegen vor mir, ab dem dritten Tag auf der offiziellen Via Alta Vallemaggia - das gemischte Gefühl aus überschwänglichem Freiheitsempfinden, einer Art Stolz, stellenweiser Einsamkeit und einem gewissen

 

Unbehagen als stetem Begleiter.

Später kommen doch noch zwei junge Männer und eine Frau, und am Abend wird es richtig gemütlich. Ich beginne gerade zu essen, als plötzlich noch ein Wanderer hereinpoltert. Er schaut sich mehrmals um und versucht merklich die Situation einzu¬ordnen - das Dreiergespann an einem, ich an einem anderen Tisch - und setzt sich schließlich zu mir. Es dauert nicht lange, und wir unterhalten uns angeregt. Erst als die anderen längst im Bett sind, drängen sich auch bei uns die nur noch wenigen übriggebliebenen Stunden Schlaf in unser Gewissen, und wir schleichen vorsichtig über die knarzenden Holzstufen hinauf ins Lager.

Nach dem Frühstück steigen wir mit leichtem Gepäck vorbei am dunkelblauen, herzförmigen Lago di Barone hinauf zum Hüttengipfel Pizzo Barone (2864 m) und kehren anschließend zurück zum Rifugio, das inzwischen von einer fröhlichen Tessi¬ner Seniorengruppe zum sonntäglichen Pasta-Kochen in Be¬schlag genommen worden ist. Auch wir genießen einen Kaffee auf der sonnigen Terrasse und beschließen, den Tag noch ge-meinsam weiterzuwandern.

Auf raues Blockgelände folgen steile Schrofenhänge und vom Regen aufgeweichte Wiesen. Schließlich führt eine Brücke hin¬über zur Capanna Soveltra, die malerisch zwischen dem Ausläufer eines Hangs und dem Fluss liegt. Am Ende des Tals baut sich der höchste Tessiner Berg, der Pizzo Campo Tencia (3072 m) auf. Wir erfrischen uns in den nahegelegenen glas¬klaren Gumpen und lassen den Nachmittag auf den noch an¬genehm warmen Felsen ausklingen.

Mit einer Verabredung für München zwei Wochen später tren¬nen sich frühmorgens unsere Wege. Die Wiesen sind noch nass, die Berge strahlen in der Morgensonne. Die blau-weiße Markierung leitet schnell über große Steinblöcke bergauf bis zum Passo di Redorta, wo am gegenüberliegenden Bergkamm Wolken wie aus einer Dampfmaschine in die Höhe steigen. Ich

Zu hören sind nur ein paar brummende

Insekten und zwitschernde Vögel

mache eine kurze Pause und spähe in die Tiefe: Nebelfetzen drängen herauf und verhindern eine klare Sicht. Plötzlich taucht ein einzelner Wanderer auf, der sich den steilen Pfad heraufmüht - tatsächlich wird er der einzige Mensch bleiben, der mir drei Tage lang außerhalb der Hütten begegnet.

Später verharre ich in einem riesigen Kessel für einen kurzen Moment, schließe meine Augen und konzentriere mich darauf, was ich höre: Ein paar Insekten brummen um mich herum, hin und wieder zwitschert ein Vogel und ... nichts! Ein wunderbar seltener Moment, trotzdem drängen sich unweigerlich die Ge¬danken dazu: Und wenn dir hier nun in diesem Funkloch etwas passiert? Ich versuche mich wieder mehr auf die Markierungen

 

zwischen den Felsblöcken zu konzentrieren. Bis zum nächsten Pass folgt Stein auf Stein, und auch der kleine Gipfel-Abste¬cher verlangt eine eher hüpfende Fortbewegung. Oben ist be¬reits der See, an dem mein nächstes Nachtlager liegt, zu sehen: Er wirkt fast schwarz von den dunklen Wolken darüber - ich beeile mich hinunterzukommen. Auf einer großen Almfläche mit verfallenen Häuschen irre ich aufgrund der spärlichen Markierungen ein wenig herum und komme so doch noch in den Regen. Unmittelbar mutieren Felsplatten und Gras in Kombination mit dem schweren Rucksack zu gefährlichen Rutschbahnen, und ich bin froh, den hellen Neubau des Rifu-gio Tomeo heil zu erreichen. Später sitze ich als einziger Gast mit der Allgäuer Hüttenbetreuerin gemütlich beim Kartenspie¬len zusammen, während der Regen von draußen unaufhörlich an die Fensterscheiben prasselt.

Am Morgen haben sich die Wolken dann verzogen, doch das Tal liegt noch völlig im Schatten. Der Steig führt entlang des Sees und schließlich wieder über Blockgelände bergauf Vorbei an noch tropfenden Bäumen und Sträuchern quere ich längere Zeit den Hang, bis es erst abwärts und schließlich durch eine steile Geröll-Rinne wieder auf einen kurzen Grat hinaufgeht. Es ist alpinistisch der interessanteste Abschnitt der Via Alta, doch ich fühle mich heute nicht ganz fit und empfinde das Hö¬henmeter-Auf-und-Ab eher als mühsam. Meine Konzentration lässt nach, und prompt rutsche ich an einem Stein ab und hole mir einige blutige Kratzer am Bein. Doch dann dauert es nicht mehr lange, und ich stehe plötzlich am Ende einer Hochebene vor einer Reihe am Hang erbauter kleiner Steinhäuschen. Trotz der obligatorischen Schweizer Fahne brauche ich einen Moment, bis ich mir sicher bin, dass es sich bei der Ansammlung um die Capanna Alpe Spluga handelt: Es gibt tatsäch¬lich ein eigenes Häuschen für die Küche, eins für Dusche und Toilette und eins zum Schlafen! Trotz der vielen Räumlichkeiten wird es später eng: Neben drei Paaren kommt noch eine ganze Gruppe von Schweizern nach und nach triefnass eingetrudelt - ein sympathischer Trupp, der mich beim Abendessen schnell in seine heitere Runde integriert. Noch am nächsten Tag freue ich mich über diese nette Zusammenkunft und überhaupt über die so abwechslungsreich verlaufenden Abende mit den unterschiedlichsten Men¬schen. So setze ich gut gelaunt bei sonnigem Wetter meinen Weg in südlicher Richtung fort, vorbei an tiefblauen Seen und hinauf auf Gipfel mit phänomenaler Aussicht über die steilen und schroffen, dann wieder grünen und sanften Tessiner Berge. Von mensch-

Von Menschen ist wiederholt

weit und breit keine Spur

lichen Wesen ist erneut weit und breit keine Spur, ich treffe lediglich auf eine bunte Zie¬genherde, die sich nicht besonders für mich interessiert. Auch mein letztes Nachtlager auf der Via Alta, das Rifugio Alpe Masnee, ist bei meiner Ankunft verlassen. Es setzt sich erneut aus einzelnen Schlaf-, Küchen- und Waschraumhäuschen zusammen - wunder¬schön auf einem Plateau gelegen und der perfekte Platz, um das gewitterträchtige Wetter mit seinen prächtigen Farb- und Wolkenspielen zu beobachten. Erst am frühen Abend tauchen zwei Männer auf Wieder macht sich bei mir das nun schon wohlbekannte Un¬behagen bemerkbar, allein unterwegs zu sein. Letztendlich ist aber auch dieser Abend geprägt von sehr netten Unterhaltungen, und um meine Privatsphäre zu bewahren, le¬gen sich die beiden sogar in ein anderes Schlafhaus.

Mein letzter Tag führt über Grate und Gipfel mit einer tollen Fernsicht bis hin zum schneebedeckten Monte Rosa sowie Tiefblicken ins grüne Valle Maggia und auf das Ziel: den tiefblauen, in der Sonne glitzernden Lago Maggiore. Und kaum habe ich den Madone überschritten, ist es vorbei mit der Tessiner Einsamkeit: Die nun nicht mehr weit entfernte Cimetta mit bequemem Seilbahnzugang sorgt für erheblichen Zuwachs an Wanderern. Ich genieße noch einmal die Aussicht und versuche innerlich einen Abschluss für diese für mich so besondere Tour zu finden. Es gelingt mir nicht ganz, und die ersten Stunden im heißen und sehr quirligen Locarno gleichen einem leichten Kulturschock ...










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