Liegt der Westen heute im Osten?
Author D.Selzer-McKenzie
Video: https://youtu.be/AI_FWg9rj2o
Wegschauen oder eingreifen? In der Ukraine entscheidet sich
viel mehr als das Schicksal eines einzigen Landes.
An der Strandpromenade der ukrainischen Stadt Mariupol am
Asowschen Meer ist es an einem Abend im August während ei¬nes
Artillerieüberfalls auf die Vororte zu einem Zwischenfall gekommen. Im
"Garten", einem der letzten Terrassenlokale, die noch bis in die
Nacht öffnen, seit Krieg ist und die Urlauber nicht mehr kom¬men, gab Galina Odnorog,
Mitglied einer Bürgerinitiative, die den Wi-derstand der Stadt gegen die
russischen Truppen draußen vor den östli¬chen Vierteln organisiert, ein
Interview. Es war zehn Uhr, und gerade hatte sich ein Kämpfer des ukrainischen
Freiwilligenbataillons „Don-bass", das von Odnorog und ihren Freunden mit
Schutzwesten, Schu¬hen sowie selbstgefrästen Schalldämpfern für Sturmgewehre
versorgt wird, zu einem Plausch dazugesetzt. Der Seewind brachte Kühlung nach
der Hitze eines ukrainischen Sommertages, und auf der Tanzflä¬che hatten die
ersten Paare begonnen, sich zu russischen Romanzen zu wiegen.
Der Zwischenfall ereignete sich, als von jenseits der Bucht,
wo hin-ter den Stahlwerken das Separatistengebiet beginnt, die ersten Salven
über das Wasser rollten. Sogleich klingelten an allen Tischen die Telefo¬ne.
Angespannte Gesichter im Licht der Bildschirme, gedämpfte Rufe rechts und
links. Dann, von allen Seiten, die gleichen Worte: „152 Milli¬meter",
„Haubitze", „Uragan" — die Kaliber und Waffentypen dieses Krieges;
zuletzt dann aber nur noch dieses eine Wort: „Sartana" — der Name eines
Vororts an der „Kontaktlinie". Bald wussten es alle: Wie¬der einmal hatten
die prorussischen Kämpfer einen Vorort Mariupols angegriffen — jener Stadt,
durch deren Besitz die Ukraine den strate¬gisch unersetzlichen „Korridor"
zwischen Russland und der 2014 an¬nektierten Halbinsel Krim kontrolliert. In
Sartana hatten sie ein Wohn¬
gebiet getroffen, zwei waren tot, sechs verletzt. Einem
Mädchen werde man wohl ein Bein abnehmen müssen.
All dies wussten alle nach wenigen Minuten — und dennoch
zerfiel die Abendgesellschaft sogleich in zwei Gruppen. Die einen horchten noch
einmal über die Bucht, wie um sich zu vergewissern, dass tatsäch¬lich nur auf
Sartana der Tod regnete, dann kehrten sie zur Tanzfläche zurück, wo die Musik
immer noch spielte. Die anderen kehrten nicht zurück. Die Freiwilligen vom
Bataillon liefen zu ihren Autos, nachdem auch bei ihnen das Telefon geschrillt
hatte. Galina Odnorog, die als eine der Ersten verstanden hatte, was vorging,
war zu diesem Zeit¬punkt schon wie ein Dämon auf den Geschäftsführer
zugeschossen und verlangte nun, Musik und Tanz sofort einzustellen. „Die machen
einfach weiter!", schrie sie in den schon abnehmenden Geschützdon¬ner, als
keiner reagierte. „Machen weiter und haben schon alles verges¬sen! Tanzen auf
den Knochen der Leute!" Der Manager schwieg, die Paare wiegten sich. Noch
einige Minuten versuchte Odnorog, ihnen im¬mer noch schreiend zu bedeuten, dass
niemand auf der ganzen Welt je zu ihnen halten werde, zu den Menschen von
Mariupol, wenn sie selbst jetzt nicht zu den Menschen von Sartana hielten,
ihren Mitbürgern. Als niemand reagierte und der Manager murmelnd zu bedenken
gab, da könne er ja gleich dichtmachen, wenn er bei jedem Schuss die Musik
abstellte, stieg Galina Odnorog in ihren mit Splitterschutzwesten,
Flug¬blättern und Rettungsdecken vollgestopften Mitsubishi und brauste zum
Krankenhaus, um nach den Verletzten zu sehen.
Wie die Abendgäste von Mariupol, so teilt sich die ganze
Ukraine in zwei Gruppen, seit Russland als Revanche für die proeuropäische
Revo¬lution am Kiewer „Majdan" das Land mit Krieg überzieht, seit die Krim
annektiert ist und im Industrierevier Donbass russische Truppen aggres¬sive
Separatistenregimes am Leben erhalten. Die einen geben sich gleichgültig,
blicken zu Boden, und wenn die prowestliche Führung in Kiew Reservisten
einzieht, tauchen sie ab, um nur ja nicht den Einberu¬fungsbefehl zugestellt zu
bekommen. Das sind nicht wenige. Während der letzten Welle der partiellen
Mobilmachung haben die Wehrämter nur 60 Prozent des Solls erfüllen können.
Andere dagegen haben die Gegenwehr gewählt. Als Russland im
April 2014 versuchte, das „Modell Krim" — Inszenierung eines
prorussi-schen „Volksaufstands" mit anschließender Annexion — auf dem
Fest¬land zu wiederholen, trafen die gesteuerten „Rebellen" plötzlich auf
Hindernisse. Zwar gelang es ihnen in den russophonen Regionalmetro¬polen Donezk
und Luhansk, bescheidene prorussische Demonstratio¬nen auf die Beine zu stellen;
aber zugleich entstanden aus dem Nichts
die ersten ukrainischen Freiwilligenbataillone als eine Art
bewaffnete Bürgerinitiative — allen voran das Bataillon „Donbass", dessen
Wur-zeln in den Ordnergruppen der prowestlichen Demonstrationen lagen, welche
es vor der russischen Intervention auch in der Ostukraine gege¬ben hatte. Nicht
alle dieser Bürgermilizen sind über alle Zweifel erha¬ben: Einige Bataillone
galten eine Zeitlang als Privatarmeen von Olig¬archen. Andere weigern sich, die
Befehlsgewalt des Staates anzuerken¬nen. Es gab Bataillone, die aufgelöst
werden mussten, weil sie eher Räuberbanden glichen als Bürgerwehren, und
zumindest eine Einheit — das Bataillon „Asow" — ist dafür berüchtigt, dass
es Rechtsradikale mit Nazi-Tattoos aus aller Welt anzieht.
Diese Phänomene sind aber Ausnahmen geblieben, Nebeneffekte
ei¬ner Selbstmobilisierung. Was allerdings durchgängig gilt, ist, dass diese
Freiwilligenverbände in der ersten Phase des Krieges, als die reguläre Armee
kaum aus den Kasernen kam, die Hauptlast des Widerstands ge¬gen Russland
getragen und einen großen Teil des ukrainischen Blut¬zolls entrichtet haben.
Mittlerweile sind fast alle in die Armee oder in die Nationalgarde integriert,
und wer die erprobteste dieser Einheiten besucht, eben das Bataillon „Donbass"
bei Mariupol, wird nicht die ge¬ringsten Zeichen von Extremismus oder Rassismus
vorfinden. Ukrai¬nisch und Russisch wird locker durcheinandergesprochen, die
Soldaten debattieren auf den Mannschaftsstuben ebenso kontrovers wie
kame¬radschaftlich über divergierende Ansichten, und von völkischen Sym¬bolen,
Fahnen oder Tätowierungen fehlt jede Spur.
Wie die Ukraine schwankt auch der Westen zwischen
gegensätzli-chen Impulsen. Europa und Amerika helfen und schauen zugleich weg.
Einerseits haben viele, vor allem in den neuen EU-Ländern, die vor kurzem noch
von der Sowjetunion besetzt waren, längst verstanden, dass Russlands Angriff
auf die Ukraine ein Angriff auf ihre eigene Si¬cherheit ist. Polen, Estland,
Lettland, Litauen fürchten, dass sie die nächsten Opfer wären, wenn Moskau ein
neues Kiewer Protektorat schüfe. Es ist deshalb viel geschehen, um dieses Land
zu unterstützen, das für seine westliche Wahl einen so hohen Preis an Gütern
und Men¬schenleben zahlt. Amerika liefert Geländewagen, Feldhospitäler und
Anti-Artillerie-Radars, Frankreich verzichtet darauf, Russland milliar¬denteure
Hubschrauberträger zu verkaufen, die Bundeskanzlerin hat sich an die Spitze des
stets prekären Friedensprozesses von Minsk ge¬setzt. Der Internationale
Währungsfonds hat zusammen mit den Verei¬nigten Staaten und Europa ein
Kreditpaket von 40 Milliarden Dollar ge¬schnürt, und Großbritannien will in
diesem Jahr 2000 ukrainische Sol¬daten ausbilden. Vor allem aber haben Amerika
und die EU gegen Mos¬
kau ein Paket von Sanktionen verhängt, das der russischen
Wirtschaft spürbare Schmerzen bereitet.
Dennoch ist das Bild nicht einheitlich. Weder Amerika noch
die Län¬der der EU leisten der Ukraine mit letzter Entschlossenheit
militäri¬sche Hilfe. Panzerfäuste, Flugabwehrwaffen bleiben unter Verschluss,
und nach Auskunft amerikanischer Diplomaten in Kiew besitzen die
Anti-Artillerie-Radars, welche die Ukraine erhalten hat, nur eine unge¬naue
Ortungselektronik — präzise genug, um ein ungefähres Bild von den Standorten
der russischen Geschütze zu geben und dann die eige¬nen Soldaten in Sicherheit
zu bringen, aber eben nicht hinreichend ak¬kurat, um den Gegner punktgenau zu
bekämpfen. Der russische Präsi¬dent Wladimir Putin soll nicht sagen können,
russisches Blut sei durch westliche Waffen vergossen worden.
Der Westen weiß nicht so recht, welche historische Warnung
er ernster nehmen solle - die von 1914 oder die von 1938.
Manchmal sieht es so aus, als wüsste der Westen nicht so
recht, wel-che historische Warnung er ernster nehmen solle — die von 1914 oder
die von 1938. 1914, beim Ausbruch des Ersten Weltkrieges, marschier¬te die Welt
„schlafwandelnd" in die Katastrophe, weil ihre Führer der schwarzen Logik
der Eskalation keine moderierende Vernunft entge¬gensetzten. 1938 wiederum, als
der Westen im „Münchener Abkom¬men" Hitlers erste Aggressionen duldete, um
„peace for our time" zu sichern, führte nicht kopflose Überreaktion in die
Katastrophe, son¬dern fahrlässiges Nichtstun. Ermutigt von der Passivität der
europäi¬schen Mächte, stellte Nazi-Deutschland seine Kriegspolitik nicht etwa
ein, sondern entfesselte durch den Überfall auf Polen den Zweiten Weltkrieg.
Seither ist das „Appeasement" von München zum Synonym für das Lostreten
einer Katastrophe durch Zurückweichen geworden.
Seit Russland durch die Invasion in der Ukraine, durch seine
Bomber¬flüge über Ost- und Nordsee, seine ständigen Großmanöver ein neues
Gesicht zeigt, schwankt der Westen zwischen den Warnungen von „1914" und
„1938". Vor einer Katastrophe durch Feigheit warnen vor al¬lem die
Osteuropäer, welche die russische Okkupation noch in den Kno¬chen spüren.
Warschau steht hier in vorderster Linie. Dass ihr Land das nächste Ziel
Moskauer Begehrlichkeit sein könnte, wenn die Ukraine erst einmal kassiert sein
sollte, ist den Eliten an der Weichsel ebenso klar wie denen im Baltikum, und
deshalb dringen sie auf Faustpfänder westlicher Bündnistreue: Amerikanische
Abwehrraketen, Stützpunkte, Infrastruktur — alles muss her, was den Westen an
seine östlichen Part¬ner bindet. Nüchtern betrachtet, so sagt der neue
polnische Präsident Andrzej Duda, ist der Nato-Vertrag ein Stück Papier. Die
reale Schutzga¬rantie des Bündnisses ende dort, wo dessen Stützpunkte aufhörten
— an der deutsch-polnischen Grenze. Weil Polen aber nicht nur „Pufferzone"
sein wolle, werde sein Land beim Nato-Gipfel 2016 auf eine permanen¬te Präsenz
der Allianz auf seinem Territorium dringen.
Die gegenläufige Warnung, die vor dem kopflosen Schlittern
in ei-nen neuen Eskalationszyklus mit dem Risiko eines nuklearen Infernos, wird
dagegen vor allem im „alten Westen" formuliert. Das „European Leadership
Network" zum Beispiel, eine Gruppe prominenter Sicher¬heitspolitiker mit
Sitz in London, hat im August beschrieben, wie aus der Aufeinanderfolge von
russischer „Zündelei", unangekündigten Großmanövern und provozierenden
Luftraumverletzungen sowie der jeweiligen Reaktion des Westens — Abfangjäger,
Manöver, Truppendis-lozierungen — ein „Aktions-Reaktions-Zyklus" entstehen
kann, der in ein geradezu klassisches „Sicherheitsdilemma" hineinführe:
Während die eine Seite ihre Maßnahmen als Verteidigung begreife, verstehe die
andere sie als Aggression. Mittlerweile habe es 66 militärische
Bei¬nahe-Zwischenfälle zwischen Russland, der Nato und ihren Partnern gegeben.
Die Situation habe „das Potentiel für gefährliche Fehlkalkula¬tionen oder einen
Zwischenfall, der ... eine direkte militärische Kon¬frontation nach sich ziehen
könnte."
Viele Nato-Staaten, unter anderem Deutschland und Amerika,
wi-dersetzen sich deshalb den Wünschen ihrer osteuropäischen Partner nach neuen
Stützpunkten. Zur Begründung wird dabei auf die Nato-Russland-Grundakte von
1997 verwiesen, welche das Versprechen der Nato enthält, im „vorhersehbaren
Sicherheitsumfeld" auf die „zusätzli¬che" Stationierung „substantieller
Kampftruppen" zu verzichten.
Autoritäre Herrschaft, begrenzte Eroberungen, ein Kultus des
männlichen Oberkörpers - ist Putin ein neuer Mussolini?
Ist solche Zurückhaltung vernünftige Kompromissbereitschaft
oder haltloses Appeasement? Die Antwort hängt stets davon ab, wie das
Ge¬genüber — diesmal Russland und Präsident Putin — einzuschätzen ist. Wenn der
Partner bereit ist, Kompromisse zu honorieren, weil es ihm tatsächlich nur um
begrenzte und berechtigte Interessen geht (hier etwa die Rechte Russisch sprechender
Bürger der Ukraine), kann Nach¬geben Klugheit sein. Wenn die Gegenseite aber
jedes Einlenken nur
dazu nutzt, danach noch viel weiter reichende Forderungen zu
stellen, dann ist Zurückhaltung ein Brandbeschleuniger. Überspitzt gesagt: Wenn
Putin, so wie es die litauische Präsidentin Dalia Grybauskaite formuliert hat,
ein Wiedergänger Stalins oder gar Hitlers sein sollte, dann würde er jede
Zurückhaltung des Westens bei der Bewaffnung der Ukraine oder bei der
Stationierung von Nato-Truppen in Ostmittel¬europa nur dazu nutzen, noch tiefer
in das Vakuum hineinzustoßen, das der Westen nicht ausfüllt.
In der überfallenen Ukraine ist der Hitler-Vergleich eine
Selbstver-ständlichkeit. „Putler"-Graffiti (Putin mit Schnauzbart und
Seitenschei¬tel) prangen an jedem Gartenzaun. Diese Analogie ist allerdings
(noch) nicht berechtigt. Es gibt keinen russischen Holocaust, und die
Donbass-Intervention ist kein dritter Weltkrieg. Möglicherweise liegt deshalb
eher der polnische Publizist Adam Michnik richtig, der Putin mit Benito
Mussolini verglichen hat — autoritäre Herrschaft, begrenzte Eroberungskriege
und nicht zuletzt ein überhöhter Kultus des männli¬chen Oberkörpers verbinden
die beiden.
Für die Frage, ob Zurückhaltung kluge Kompromissbereitschaft
wäre oder fahrlässiges Appeasement, ist das allerdings schon genug. Mit seinen
militärischen Abenteuern hat Putin bewiesen, dass interna¬tionale Abmachungen,
etwa das „Budapester Memorandum", in dem Russland, Amerika und
Großbritannien 1994 die Unverletzlichkeit der Ukraine garantiert haben, für ihn
nur deshalb von Wert sind, weil er durch ihre Verletzung friedliche Nachbarn
überrumpeln kann. Mit die¬ser aggressiven Unberechenbarkeit setzt Putin nicht
nur die Ukraine unter Druck, sondern auch die östlichen Mitglieder der Nato.
Seine Kampfflugzeuge verletzen den Luftraum Finnlands und Estlands, Großmanöver
im Grenzgebiet zum Baltikum werden gegen alle Abma¬chungen ohne Ankündigung
gehalten, um (nach Einschätzung des ELN) „Szenarien der militärischen
Erpressung gegen bestimmte Mit¬glieder oder Partner der Nato" vorzuführen.
Am drastischsten konnte Russlands Wille zur eskalierenden Vertragsverletzung
zuletzt am Um¬gang mit den Beobachtertrupps der OSZE in der Ostukraine
abgelesen werden: In den letzten Wochen haben sich die Übergriffe prorussischer
Kämpfer gehäuft. Es gab Anschläge und Todesdrohungen, die Mission spricht von
einer „galoppierenden" Verschlechterung ihrer Sicherheit.
In der Ukraine hat man die Konsequenz längst gezogen. Trotz
aller Probleme bei der Mobilmachung sind viele bereit, zu kämpfen. Als die
F.A.Z. im August das Bataillon „Donbass" besuchte, war der
stellver¬tretende Kommandeur, ein Kiewer Geschäftsmann mit dem Kampf¬namen
„Sedoj" (der Graue), gerade im Begriff, zwei Mariupoler Jungsvon 17 und 18
Jahren, die sich freiwillig gemeldet hatten, zu registrie-ren — dem jüngeren
sagte er zugleich, dass er zwar in die Ausbildung dürfe, aber noch nicht hinaus
an die Feldposten. Zwei seiner Sanitäte¬rinnen, so erzählte „Sedoj",
hätten gerade ebenfalls verlangt, zur kämp¬fenden Truppe versetzt zu werden —
im Lazarett hätten sie so viel von den „Folgen" des Krieges gesehen, dass
sich jetzt „den Ursachen" stel¬len wollten.
Der Westen aber wankt, als nähmen die dröhnenden Warnungen
vor "1914" und „1938" ihm die Besinnung. Einerseits unterstützt
er die Ukraine. Sanktionen gegen Russland sind in Kraft, es gibt Geld und
Ma¬terial, Russland ist aus der G8 ausgeschlossen worden. Weit auffälliger aber
sind die Versäumnisse. Angela Merkel und Barack Obama haben schon 2014 so eilig
und so klar versichert, dass es auf Russlands Aggres¬sion keine militärische
Antwort geben werde, dass Moskau das nur als Ermutigung verstehen konnte.
Folgerichtig hat die bislang wichtigste russische Militäroperation, die
Schlacht von Ilowajsk im August 2014, nur Stunden nach einem Besuch Merkels in
Kiew begonnen, auf dem sie ein weiteres Mal ihr Mantra wiederholt hatte, es
gebe „keine .militä¬rische Lösung".
Auch die Finanzhilfe für die Ukraine ist vergleichsweise
gering. Al-lein die jüngste Kredittranche für Griechenland ist doppelt so hoch
wie das gesamte vom IWF, von Amerika und Europa versprochene Hilfspa¬ket für
die Ukraine. Gleichzeitig ist Europa durch seine Gas- und Ölim¬porte aus
Russland de facto der Hauptfinancier der russischen Erobe¬rungspolitik. Die
Folgerung ist klar: Der Westen wiederholt heute nicht die Fehler von 1914,
sondern die von 1938.
Die Kosten werden enorm sein. Weil die Unverletzlichkeit der
Ukrai¬ne nach ihrem Verzicht auf ihre von der Sowjetunion geerbten Atom¬waffen
im „Budapester Memorandum" auch von Amerika garantiert worden ist,
beschädigt die Vormacht des Westens durch ihre halbherzi¬ge Reaktion auf den
russischen Überfall ihre Glaubwürdigkeit als Bünd¬nispartner. Zugleich ergeht
das Signal, dass es unvernünftig ist, in ei¬ner Welt ohne verlässliche
Bündnisse auf Kernwaffen zu verzichten. Hätte die Ukraine seinerzeit ihr
Arsenal behalten, hätte Russland sie jetzt kaum so sorglos überfallen.
Falls Russland sein Ziel erreicht, die Ukraine zu
destabilisieren, kön¬nen neue Flüchtlingsströme die Folge sein. Heute schon
spielt sich hier eines der größten Flüchtlingsdramen Europas ab. 1,4 Millionen
Bin¬nenflüchtlinge hat das Land derzeit zu verkraften. Wenn die Ukraine
scheitert, werden sie die Grenzen der EU bedrängen. Zur heutigen Mit¬telmeertragödie
könnte dann die Katastrophe des Ostens kommen.
Zudem ist ungewiss, ob sich Moskau nach einem Sieg über die
Ukrai¬ne nicht gleich neue Opfer suchen würde. Die Wiederherstellung der
Hegemonie im alten „Kleinrussland" würde imperiale Tendenzen stär¬ken. In
Moskau ist nicht vergessen, dass manche Nato-Staaten (Est¬land, Lettland,
Litauen, Polen) in ihrer Geschichte schon generationen-lang Provinzen des
Zarenreiches waren.
Was tun? — Zuallererst sollte der Westen aufhören, sich von
russi-schen Schnulzen einlullen zu lassen, während jenseits der Bucht die
Haubitzen donnern. Galina Odnorog, die in Mariupol dazwischenfuhr, hat recht:
Wer hier weiter in der Nachtluft tanzt, tanzt buchstäblich „auf den Knochen der
Menschen". Spätestens seit den neuesten Über¬griffen prorussischer Kämpfer
auf die OSZE ist klar, dass Russland nie beabsichtigt hat, Abmachungen zu
honorieren — die von Minsk ebenso wenig wie die von Genf oder anderswo.
Deshalb muss mehr getan werden, um die Ukraine zu schützen.
Das Land büßt heute für nichts anderes als dafür, dass es sich in der
Majdan-Revolution von 2014 für Europa entschieden hat anstatt für Pu-tins
Machtvertikale. Seine Freiwilligen im Kriegsgebiet bringen für westliche Werte
heute größere Opfer als sonst jemand auf dem europäi¬schen Kontinent. Deshalb
ist es unabweislich, der Ukraine weit mehr zu helfen als bisher — auch aus
nüchterner Interessenabwägung. Das Erste muss dabei ökonomische Hilfe sein.
Erst in zweiter Linie kommt es darauf an, auch Waffen zu liefern. Panzerfäuste
und Flugabwehrra-keten sind wichtig, aber die Wirtschaft ist wichtiger. Wer
Geld hat, kann 'sich das Nötige kaufen.
Außerdem muss Putin klargemacht werden, dass der Preis
seiner Ag¬gression deutlich steigen könnte. Der Westen sollte ihn nicht durch
ein neues „München" in Versuchung bringen. Russland muss wissen, dass es
ganz nahe an der roten Linie steht. Es ist zwar nicht ausgeschlossen, dass die
neuesten Versuche, den Waffenstillstand von Minsk zu retten, wider Erwarten
erfolgreich sind. Bis Anfang September zum Beispiel hat er überraschend über
längere Zeit gehalten. Wenn die Abmachung aber durch russische Sabotage
scheitert, ohne dass jemand reagiert, steht Merkel als Mitautorin vor den
Ruinen ihrer Glaubwürdigkeit.
Der Westen liegt heute im Osten. Hier sind seine Werte
bedroht, hier muss er verteidigt werden. Das kostet viel. Es wird aber noch
mehr kosten, nur weiter zu russischen Romanzen zu tanzen, wenn die Salven übers
Wasser wehen
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