Mittwoch, 16. September 2015

Milieu in deutschen Städten


Milieu in deutschen Städten

Author D.Selzer-McKenzie

Video: https://youtu.be/k-FWFtSOvKk

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Wie kann in Deutschlands Städten mit ihren zersplitterten Milieus noch Politik gelingen? Das Beispiel Mannheim.

Die Sommerhitze lässt vom Asphalt der Mannheimer Garten-feldstraße nicht die besten Gerüche aufsteigen. Die Straßen¬kneipe „Helga's Zapfhahn" hat noch geschlossen. Arbeitslose führen ihre Hunde aus und beseitigen den Dreck nur widerwillig. Ein paar offenbar arabischstämmige Halbstarke spielen auf Parkbänken, die im Schatten liegen, mit ihren Smartphones. Die Gartenfeldstraße und die nicht weit entfernte Paul-Gerhardt-Kirche liegen im Mannhei¬mer Stadtteil Neckarstadt West. Ein Quartier, das gern Problembezirk genannt wird und in dem sich viele Schwierigkeiten zeigen, die mittel-große Städte in Deutschland und Europa heute haben — eine Migrati-onsquote von gut sechzig Prozent, eine hohe Einwohnerdichte. In der Neckarstadt West leben 21 000 Menschen auf gerade mal 1,1 Quadrat¬kilometern. Hohe Arbeitslosigkeit. Öffentliche Verwahrlosung. Auflö¬sung herkömmlicher lokaler Gemeinschaften. Aufsplitterung in viele kleine Milieus — die Transformation eines ehemaligen Arbeiterquar¬tiers in ein multiethnisches Einwandererquartier hat viel sozialen Zu-sammenhalt zerstört. Ihn neu zu schaffen ist eine Sisyphusarbeit für Quartiermanager und Sozialarbeiter.

Gabriel Höfle ist eigentlich Wirtschaftsingenieur, 2007 wurde er Quartiermanager in der Neckarstadt West. Er lebt in diesem Stadtteil, sein Büro ist im Alten Volksbad, in dem auch ein paar Unternehmen der Kreativbranche angesiedelt wurden. Wenn Höfle durch sein Quar¬tier geht, erkennt er schnell, wo Neues entsteht und wo sich Probleme auftürmen. In einigen Straßen haben sich ein paar Hipster-Modeläden angesiedelt, sie sind noch Solitäre in ziemlich trostlosen Straßenzügen. „Der Solidargedanke lag hier lange brach, die Anonymität im öffentli-

 

chen Raum ist auch heute noch ausgeprägt", sagt Höfle. „Wir braucl hier keine Else Kling, aber Identifikation mit dem Quartier."

Die Sozial- und Vereinsstruktur der Neckarstadt West ist heute e: komplett andere als vor zwanzig Jahren. Der Bürgerverein organisi erstmals seit Jahren kein Stadtteilfest mehr, der Gewerbeverein 1 sich sogar aufgelöst. Alteingesessene Geschäfte sind von Döner-Rest rants oder von Läden mit türkischen Haushaltswaren verdrängt w den. Die Fluktuation ist sehr hoch, bei etwa 21 000 Einwohnern w dem jedes Jahr etwa 4500 ab und kommen ähnlich viele neue hin Der Anteil ausländischer Einwohner in der Neckarstadt West ist 2006 noch einmal um zwanzig Prozent gestiegen. Seit 2013 hat die wanderung von Armutsflüchtlingen aus Rumänien und Bulgarien Lage zeitweise so verschärft, dass sich sogar der Bundespräsident r die Ausländerbeauftragte aus dem Kanzleramt einfliegen ließen.

Fast sechzig Prozent der Neckarstadt-West-Bewohner werden Milieutheoretikern als Hedonisten beschrieben. „Es gibt hier auf?. dem Benachteiligte, Experimentalisten und viele in religiösen Milii verwurzelte Bürger", erläutert Höfle. „Das ist eine bunte Mischu aber alle haben eines gemeinsam: Sie sind für die klassische Poli schwer zu erreichen." Parteien, Vereine, Bezirksbeiräte spielen im Pi zip keine Rolle mehr außer für die Vorsitzenden und Amtsinha selbst. Früher waren achtzig Prozent der Jugendlichen in einem Vert heute sind es bestenfalls vierzig Prozent. Es fehlt in der Neckarst West immer noch ein Gymnasium. Neu entstehen nur kleine Verei die zumeist Partikularinteressen durchsetzen wollen: von Zugezo nen, die ihr Gemüse beim Biobauern aus dem Umland kaufen woll oder Vereine von Einwanderern zur Pflege ihrer importierten Kuhl.

In der Nachkriegszeit wurde Mannheim über Jahrzehnte vorv gend sozialdemokratisch regiert. Ein Oberbürgermeister hatte scf viel gewonnen, wenn er eine Gewerkschaftsversammlung bei den t toren Werken Mannheim absolvierte, die in der Neckarstadt West 1 her ihren Firmensitz hatten. Wenn er dann noch bei einer Wohltä keitsveranstaltung der Caritas vorbeischaute, hatte er die wichtigs Multiplikatoren für Arbeiterschaft und Bürgertum erreicht. Damit es heute nicht getan. Wie zäh Politikvermittlung in multiethniscl und multireligiösen Stadtteilen sein kann, zeigte sich erst im Juli der Oberbürgermeisterwahl. In den Innenstadtvierteln Jungbusch Neckarstadt West — beide haben einen hohen Anteil an Einwander und Studenten — lag die Wahlbeteiligung bei 18,1 beziehungswE 14,1 Prozent. Viele Bürger wussten noch nicht einmal, dass es eh zweiten Wahlgang gab.

Mannheim hat fast 181 000 Einwohner ohne Migrationshintergrund (58 Prozent) und 131 000 Bürger mit Migrationshintergrund (42 Pro-zent). Von Letzteren hat fast die Hälfte die deutsche Staatsangehörig¬keit; trotzdem gibt es augenscheinlich keine deutsche Mehrheitsgesell¬schaft mehr. Auf die Prägekraft einer deutschen Oberschicht kann sich hier kein Politiker mehr verlassen, gemeinsame Werte müssen erst wie¬der gefunden und zusammen mit Vertretern aus unterschiedlichen Ein-wanderermilieus formuliert werden. Das ist ein mühsames Geschäft in einer Stadt, in der es schon mal zu Schlägereien oder Schießereien tür¬kischer Gangs kommt. Zur Entwicklung einer Stadtidentität soll der „Mannheimer Aktionsplan für Toleranz und Demokratie" beitragen. Doch ein Papier mit Absichtserklärungen schafft noch kein neues Stadt-bewusstsein.

Der Sozialdemokrat Peter Kurz (SPD) ist im Juli zum zweiten Mal für acht Jahre zum Oberbürgermeister gewählt worden. Nach einem an¬strengenden Wahlkampf sitzt er erschöpft in seinem Amtszimmer im Rathaus. Als er ins Amt kam, verordnete er der Stadt einen Transforma-tionsprozess. Aber die Stadtgesellschaft stellte sich als widerborstiger heraus, als Kurz erwartet hatte. Der Gemeinderat ist politisch unüber¬sichtlicher geworden, die NPD und die AM sind auch vertreten. Wenn Kurz heute von Mannheim redet, spricht er gern von „disruptiven Kräf¬ten". Er meint damit, dass es immer schwieriger wird, in wichtigen poli¬tischen Fragen einen Konsens herzustellen, dass es oft Jahre braucht, bis Bürger von einem Projekt oder Vorhaben überzeugt sind, dass auch Bürgerentscheide politischen Streit manchmal nicht mehr befrieden können. Dass sie sogar eher Streit perpetuieren. Die Parteien sind kei¬ne Konsensmaschinen mehr, Kurz hat es am Beispiel der Bundesgar¬tenschau erlebt: Eine kleine Gruppe aus Kleingärtnern und Umwelt¬schützern will die Bundesgartenschau 2023 unbedingt verhindern. Auf Initiative des Gemeinderates gab es 2013 einen Bürgerentscheid über das Projekt. Eine knappe Mehrheit stimmte dafür, genau 50,7 Prozent. Aber die Bürgerinitiative akzeptierte das Ergebnis nicht, sie klagte da¬gegen und macht weiter Stimmung, mittlerweile gibt es nach neueren Meinungsumfragen keine Mehrheit mehr für das Projekt. „Was heute nicht existiert", sagt Kurz, „ist ein für die Stadt gemeinsamer und reprä¬sentativer Kommunikationsraum. Die Idee des Marktplatzes, auf dem jeder alles mitbekommt, funktioniert nicht mehr."

Einen Steinwurf vom Rathaus entfernt ist das Büro der Konversions-Geschäftsstelle. Seit 2011 versucht Konrad Hummel, aus ehemaligen Panzerunterständen und Soldatenwohnungen der amerikanischen Streitkräfte neue, urbane Stadtteile zu entwickeln. Insgesamt misst die

Fläche 500 Hektar. Die „Turley Barracks" sollen eine Art Mannheime Soho werden. Zu den Problemen mittlerer Großstädte fällt ihm auf An hieb ein klarer Satz ein: „Der Sozialstaat arbeitet wie ein Hamster. E gibt immer mehr Geld für immer mehr Gruppen aus, aber das Gefüh von Zusammenhalt nimmt trotzdem 'immer weiter ab."

Hummel hat das mitbekommen, weil er für die Gestaltung der ehe maligen Militärflächen viele Bürgerversammlungen und Anhörunger besuchen musste. Er hat dabei erfahren, dass sich junge Menschen stär ker für die Wale in Neuseeland interessieren als für die Zukunft ihre: Quartiers. Die soziale Kohäsion werde unterspült, die sozialen Um gangsformen unterlägen keiner öffentlichen Kontrolle mehr, mein. Hummel. Natürlich existierten auch „Parallelgesellschaften", aber da: sei kein Weltuntergang, man müsse nur begreifen, dass Politik mehr als früher eine „ständige Verhandlungsarbeit" sei. „Als Politiker", sagt Hummel, „kann ich mich nicht darauf konzentrieren, nur die Bürger mehr abstimmen zu lassen. Damit stärke ich die Neurotiker. Es ist nicht jede Bürgerinitiative gut, es gibt nicht automatisch den guten Bürget und den bösen Staat."

„Hello Neckarstadt" steht auf einer Schiefertafel am Neumarkt. Bis vor einem Jahr war auch dieser zentrale Platz in der Neckarstadt West im Besitz der Obdachlosen und der Hunde. Eine unappetitliche und un¬wirtliche No-go-Area. Dann hatten Julian Bender, Ricarda Rausch und Ali Badakshan Rad die Idee, aus dem verwanzten Kiosk einen Kultur¬kiosk zu machen. Sie hatten schon in anderen Stadtteilen leerstehende Räume mit ihrem Verein „Zwischenraum" wieder zu einer sinnvollen Nutzung geführt. Sie bauten mit Hilfe des Quartiermanagers einen öf¬fentlichen Bücherschrank auf, begannen mit Open-Air-Lesungen und kleinen Konzerten. Sogar eine Shakespeare-Inszenierung gab es kürz¬lich auf dem Neumarkt. Jetzt trinken viele Neckarstädter im Kioskgar-ten eine italienische „Limonata" oder ein Craft Beer. Demnächst soll hier zur Stärkung des Quartiers auch das Stadtarchiv angesiedelt wer¬den. „Emotionale und soziale Stabilisierung" nennt das der OB. Bis so etwas wie eine Gentrifizierung einsetzt, wird es aber wohl noch Jahre dauern. Wie beschwerlich und äußerst komplex es ist, bis in anonymi-sierten, multiethnischen und multireligiösen Vierteln wieder selbstbe¬wusste Stadtgesellschaften erwachsen, wird häufig vergessen, wenn über Einwanderung diskutiert wird. Der Kiosk ist ein sehr kleiner Schritt auf einem langen Weg zu einer neuen Stadtgesellschaft




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