Milieu in deutschen Städten
Author D.Selzer-McKenzie
Video: https://youtu.be/k-FWFtSOvKk
WOHNT HIER
NICHT MEHR
Wie kann in Deutschlands Städten mit ihren zersplitterten
Milieus noch Politik gelingen? Das Beispiel Mannheim.
Die Sommerhitze lässt vom Asphalt der Mannheimer Garten-feldstraße
nicht die besten Gerüche aufsteigen. Die Straßen¬kneipe „Helga's Zapfhahn"
hat noch geschlossen. Arbeitslose führen ihre Hunde aus und beseitigen den
Dreck nur widerwillig. Ein paar offenbar arabischstämmige Halbstarke spielen
auf Parkbänken, die im Schatten liegen, mit ihren Smartphones. Die
Gartenfeldstraße und die nicht weit entfernte Paul-Gerhardt-Kirche liegen im
Mannhei¬mer Stadtteil Neckarstadt West. Ein Quartier, das gern Problembezirk
genannt wird und in dem sich viele Schwierigkeiten zeigen, die mittel-große
Städte in Deutschland und Europa heute haben — eine Migrati-onsquote von gut
sechzig Prozent, eine hohe Einwohnerdichte. In der Neckarstadt West leben 21
000 Menschen auf gerade mal 1,1 Quadrat¬kilometern. Hohe Arbeitslosigkeit. Öffentliche
Verwahrlosung. Auflö¬sung herkömmlicher lokaler Gemeinschaften. Aufsplitterung
in viele kleine Milieus — die Transformation eines ehemaligen
Arbeiterquar¬tiers in ein multiethnisches Einwandererquartier hat viel sozialen
Zu-sammenhalt zerstört. Ihn neu zu schaffen ist eine Sisyphusarbeit für
Quartiermanager und Sozialarbeiter.
Gabriel Höfle ist eigentlich Wirtschaftsingenieur, 2007
wurde er Quartiermanager in der Neckarstadt West. Er lebt in diesem Stadtteil,
sein Büro ist im Alten Volksbad, in dem auch ein paar Unternehmen der
Kreativbranche angesiedelt wurden. Wenn Höfle durch sein Quar¬tier geht,
erkennt er schnell, wo Neues entsteht und wo sich Probleme auftürmen. In
einigen Straßen haben sich ein paar Hipster-Modeläden angesiedelt, sie sind noch
Solitäre in ziemlich trostlosen Straßenzügen. „Der Solidargedanke lag hier
lange brach, die Anonymität im öffentli-
chen Raum ist auch heute noch ausgeprägt", sagt Höfle.
„Wir braucl hier keine Else Kling, aber Identifikation mit dem Quartier."
Die Sozial- und Vereinsstruktur der Neckarstadt West ist
heute e: komplett andere als vor zwanzig Jahren. Der Bürgerverein organisi
erstmals seit Jahren kein Stadtteilfest mehr, der Gewerbeverein 1 sich sogar
aufgelöst. Alteingesessene Geschäfte sind von Döner-Rest rants oder von Läden
mit türkischen Haushaltswaren verdrängt w den. Die Fluktuation ist sehr hoch,
bei etwa 21 000 Einwohnern w dem jedes Jahr etwa 4500 ab und kommen ähnlich
viele neue hin Der Anteil ausländischer Einwohner in der Neckarstadt West ist 2006
noch einmal um zwanzig Prozent gestiegen. Seit 2013 hat die wanderung von
Armutsflüchtlingen aus Rumänien und Bulgarien Lage zeitweise so verschärft,
dass sich sogar der Bundespräsident r die Ausländerbeauftragte aus dem
Kanzleramt einfliegen ließen.
Fast sechzig Prozent der Neckarstadt-West-Bewohner werden
Milieutheoretikern als Hedonisten beschrieben. „Es gibt hier auf?. dem
Benachteiligte, Experimentalisten und viele in religiösen Milii verwurzelte
Bürger", erläutert Höfle. „Das ist eine bunte Mischu aber alle haben eines
gemeinsam: Sie sind für die klassische Poli schwer zu erreichen."
Parteien, Vereine, Bezirksbeiräte spielen im Pi zip keine Rolle mehr außer für
die Vorsitzenden und Amtsinha selbst. Früher waren achtzig Prozent der
Jugendlichen in einem Vert heute sind es bestenfalls vierzig Prozent. Es fehlt
in der Neckarst West immer noch ein Gymnasium. Neu entstehen nur kleine Verei
die zumeist Partikularinteressen durchsetzen wollen: von Zugezo nen, die ihr
Gemüse beim Biobauern aus dem Umland kaufen woll oder Vereine von Einwanderern
zur Pflege ihrer importierten Kuhl.
In der Nachkriegszeit wurde Mannheim über Jahrzehnte vorv
gend sozialdemokratisch regiert. Ein Oberbürgermeister hatte scf viel gewonnen,
wenn er eine Gewerkschaftsversammlung bei den t toren Werken Mannheim
absolvierte, die in der Neckarstadt West 1 her ihren Firmensitz hatten. Wenn er
dann noch bei einer Wohltä keitsveranstaltung der Caritas vorbeischaute, hatte
er die wichtigs Multiplikatoren für Arbeiterschaft und Bürgertum erreicht.
Damit es heute nicht getan. Wie zäh Politikvermittlung in multiethniscl und
multireligiösen Stadtteilen sein kann, zeigte sich erst im Juli der
Oberbürgermeisterwahl. In den Innenstadtvierteln Jungbusch Neckarstadt West —
beide haben einen hohen Anteil an Einwander und Studenten — lag die
Wahlbeteiligung bei 18,1 beziehungswE 14,1 Prozent. Viele Bürger wussten noch
nicht einmal, dass es eh zweiten Wahlgang gab.
Mannheim hat fast 181 000 Einwohner ohne
Migrationshintergrund (58 Prozent) und 131 000 Bürger mit Migrationshintergrund
(42 Pro-zent). Von Letzteren hat fast die Hälfte die deutsche
Staatsangehörig¬keit; trotzdem gibt es augenscheinlich keine deutsche
Mehrheitsgesell¬schaft mehr. Auf die Prägekraft einer deutschen Oberschicht
kann sich hier kein Politiker mehr verlassen, gemeinsame Werte müssen erst
wie¬der gefunden und zusammen mit Vertretern aus unterschiedlichen
Ein-wanderermilieus formuliert werden. Das ist ein mühsames Geschäft in einer
Stadt, in der es schon mal zu Schlägereien oder Schießereien tür¬kischer Gangs
kommt. Zur Entwicklung einer Stadtidentität soll der „Mannheimer Aktionsplan
für Toleranz und Demokratie" beitragen. Doch ein Papier mit
Absichtserklärungen schafft noch kein neues Stadt-bewusstsein.
Der Sozialdemokrat Peter Kurz (SPD) ist im Juli zum zweiten
Mal für acht Jahre zum Oberbürgermeister gewählt worden. Nach einem
an¬strengenden Wahlkampf sitzt er erschöpft in seinem Amtszimmer im Rathaus.
Als er ins Amt kam, verordnete er der Stadt einen Transforma-tionsprozess. Aber
die Stadtgesellschaft stellte sich als widerborstiger heraus, als Kurz erwartet
hatte. Der Gemeinderat ist politisch unüber¬sichtlicher geworden, die NPD und
die AM sind auch vertreten. Wenn Kurz heute von Mannheim redet, spricht er gern
von „disruptiven Kräf¬ten". Er meint damit, dass es immer schwieriger
wird, in wichtigen poli¬tischen Fragen einen Konsens herzustellen, dass es oft
Jahre braucht, bis Bürger von einem Projekt oder Vorhaben überzeugt sind, dass
auch Bürgerentscheide politischen Streit manchmal nicht mehr befrieden können.
Dass sie sogar eher Streit perpetuieren. Die Parteien sind kei¬ne
Konsensmaschinen mehr, Kurz hat es am Beispiel der Bundesgar¬tenschau erlebt:
Eine kleine Gruppe aus Kleingärtnern und Umwelt¬schützern will die Bundesgartenschau
2023 unbedingt verhindern. Auf Initiative des Gemeinderates gab es 2013 einen
Bürgerentscheid über das Projekt. Eine knappe Mehrheit stimmte dafür, genau
50,7 Prozent. Aber die Bürgerinitiative akzeptierte das Ergebnis nicht, sie
klagte da¬gegen und macht weiter Stimmung, mittlerweile gibt es nach neueren
Meinungsumfragen keine Mehrheit mehr für das Projekt. „Was heute nicht
existiert", sagt Kurz, „ist ein für die Stadt gemeinsamer und
reprä¬sentativer Kommunikationsraum. Die Idee des Marktplatzes, auf dem jeder
alles mitbekommt, funktioniert nicht mehr."
Einen Steinwurf vom Rathaus entfernt ist das Büro der
Konversions-Geschäftsstelle. Seit 2011 versucht Konrad Hummel, aus ehemaligen
Panzerunterständen und Soldatenwohnungen der amerikanischen Streitkräfte neue,
urbane Stadtteile zu entwickeln. Insgesamt misst die
Fläche 500 Hektar. Die „Turley Barracks" sollen eine
Art Mannheime Soho werden. Zu den Problemen mittlerer Großstädte fällt ihm auf
An hieb ein klarer Satz ein: „Der Sozialstaat arbeitet wie ein Hamster. E gibt
immer mehr Geld für immer mehr Gruppen aus, aber das Gefüh von Zusammenhalt
nimmt trotzdem 'immer weiter ab."
Hummel hat das mitbekommen, weil er für die Gestaltung der
ehe maligen Militärflächen viele Bürgerversammlungen und Anhörunger besuchen
musste. Er hat dabei erfahren, dass sich junge Menschen stär ker für die Wale
in Neuseeland interessieren als für die Zukunft ihre: Quartiers. Die soziale
Kohäsion werde unterspült, die sozialen Um gangsformen unterlägen keiner
öffentlichen Kontrolle mehr, mein. Hummel. Natürlich existierten auch
„Parallelgesellschaften", aber da: sei kein Weltuntergang, man müsse nur
begreifen, dass Politik mehr als früher eine „ständige Verhandlungsarbeit"
sei. „Als Politiker", sagt Hummel, „kann ich mich nicht darauf
konzentrieren, nur die Bürger mehr abstimmen zu lassen. Damit stärke ich die
Neurotiker. Es ist nicht jede Bürgerinitiative gut, es gibt nicht automatisch
den guten Bürget und den bösen Staat."
„Hello Neckarstadt" steht auf einer Schiefertafel am
Neumarkt. Bis vor einem Jahr war auch dieser zentrale Platz in der Neckarstadt
West im Besitz der Obdachlosen und der Hunde. Eine unappetitliche und
un¬wirtliche No-go-Area. Dann hatten Julian Bender, Ricarda Rausch und Ali
Badakshan Rad die Idee, aus dem verwanzten Kiosk einen Kultur¬kiosk zu machen.
Sie hatten schon in anderen Stadtteilen leerstehende Räume mit ihrem Verein
„Zwischenraum" wieder zu einer sinnvollen Nutzung geführt. Sie bauten mit
Hilfe des Quartiermanagers einen öf¬fentlichen Bücherschrank auf, begannen mit
Open-Air-Lesungen und kleinen Konzerten. Sogar eine Shakespeare-Inszenierung
gab es kürz¬lich auf dem Neumarkt. Jetzt trinken viele Neckarstädter im
Kioskgar-ten eine italienische „Limonata" oder ein Craft Beer. Demnächst
soll hier zur Stärkung des Quartiers auch das Stadtarchiv angesiedelt wer¬den.
„Emotionale und soziale Stabilisierung" nennt das der OB. Bis so etwas wie
eine Gentrifizierung einsetzt, wird es aber wohl noch Jahre dauern. Wie
beschwerlich und äußerst komplex es ist, bis in anonymi-sierten,
multiethnischen und multireligiösen Vierteln wieder selbstbe¬wusste
Stadtgesellschaften erwachsen, wird häufig vergessen, wenn über Einwanderung
diskutiert wird. Der Kiosk ist ein sehr kleiner Schritt auf einem langen Weg zu
einer neuen Stadtgesellschaft
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