Gaudi auf dem Oktoberfest
Author D.Selzer-McKenzie
Video: https://youtu.be/vTWjZ20U7JA
Die Liegen im Überwachungs¬raum sind niedrig. Mit nur ei¬nem
halben Meter Höhe viel niedriger als in Sanitätsstatio-nen und Krankenhäusern
üblich. Das hat seinen Grund. Wenn Betrunkene sich er¬brechen müssen, ist der
Weg bis zum Bo¬den kürzer. Der Strahl fächert nicht so sehr, es spritzt
weniger, erklärt ein Sanitä¬ter des Bayerischen Roten Kreuzes, der sich hier um
die Bierleichen des Oktober¬festes kümmert. Außerdem können die Pa¬tienten dann
auch nicht so tief fallen. Die zwölf Liegen, immer zwei davon durch ei¬nen
Sichtschutz abgetrennt, sind mit Mess-geräten für Blutdruck,
Sauerstoffsättigung und EKG sowie Decken und Heizgeblä¬sen ausgestattet. Der
Boden ist mit grü¬nem Linoleum ausgelegt, an der Decke hängen
Leuchtstoffröhren, die Fenster sind aus Milchglas. Am Ende des Raumes werden in
einem Metallschrank Elektrolyt-lösungen warm gehalten. Alles hier erin¬nert an
ein Krankenhaus und nichts an eine fröhliche Wiesn.
Die Sanitätsstation befindet sich im ein¬zigen Festbau der
Theresienwiese. Neben dem Überwachungsraum hat sie eine eige¬ne kleine
Leitstelle, welche die Wiesn-Notrufe und die von der Leitstelle der Feuerwehr
weitergeleiteten iu-Notrufe an¬nimmt. Auf der anderen Seite des Flures befmdet
sich ein Behandlungsraum. Hier schauen Ärzte nach gestürzten Patienten mit
Kopfwunden, Schnittverletzungen und anderen medizinischen Problemen.
Komplettiert wird die Station durch einen Ruheraum, in den gerade ein älterer
Herr geschoben wird, der in einem Bierzelt ei¬nen Kreislaufkollaps erlitten
hat.
Das ist ein Klassiker auf dem Oktober¬fest. Bei langem
Stehen und Erweiterung der Blutgefäße durch die Hitze versackt das Blut in den
Beinen. Für einen Mo¬ment fehlt es dann im Gehirn, man wird bewusstlos und
bricht zusammen. Weil Al¬kohol entwässert, verstärkt er den Effekt. Gerade
ältere Menschen und Herzkranke sind gefährdet. In der anderen Richtung verlässt
ein Patient gerade die Station. Sein Herz stolpert etwas, worum man sich hier
nicht kümmern kann. Hinter dem Haus wird er in einen Krankenwagen ver¬laden,
der die Wiesn über eine Zufahrt-straße gen Krankenhaus verlässt.
Dort stehen in der Mittagssonne auch die Sanitäterteams. An
diesem ersten Wiesn-Montag schlägt bisher nur gele-gentlich der Gong. Er
signalisiert, dass eine Trage ausrücken muss, um einen Pa¬tienten vom Gelände
zu holen. Philipp Janello nippt an seiner Apfelschorle. Er trägt eine
orangefarbene Hose und ein weißes Polohemd, in dessen Kragen eine große
Sonnenbrille steckt. Für den 28-jäh¬rigen Maschinenbauer, der bei BMW ar¬
beitet, ist das Oktoberfest ein echtes High¬light. Seit
mittlerweile zwölf Jahren, seit dem Schulsanitätsdienst, engagiert er sich beim
Roten Kreuz. „Es ist doch phantas¬tisch: Zweitausend Ehrenamtliche jedes Jahr,
und das, obwohl wir dieses Jahr alle Hände mit der Versorgung der Flüchtlin¬ge
zu tun haben", schwärmt er. Janello kommt mit einem Freund, den er schon
aus Schulzeiten kennt. „Entweder hasst man die Arbeit hier, oder man liebt sie.
Ich liebe sie", sagt er. Jedes Jahr nimmt er sich für den Sanitätsdienst
auf dem Okto¬berfest mindestens einen Tag Urlaub, ge¬nau wie die anderen
Helfer.
Beim nächsten Gong ist Janellos Team an der Reihe. Zu viert
rücken die Sanitä¬ter aus. Ihre Trage, auch WiesnlFaid ge¬nannt, hat eine
grellgelbe Plastikhaube aus einem Material, das an eine Öljacke er¬innert. Sie
soll vor der Witterung schüt¬zen, vor allem aber vor den Blicken der
Wiesn-Besucher. Einer der Sanitäter geht vor der Trage durch die Menschenmenge,
immer wieder ruft er: „Vorsicht! Aus dem Weg, bitte!" Wer nicht hört, wird
unsanft zur Seite geschubst. Der Patient ist ein junger Mann, der, olitie sich
zu regen, auf der Fußmatte einer Entenbraterei liegt. Ei-gentlich ein Fall für
den Notarzt, der im-mer dann hinzugezogen werden muss, wenn ein Patient
bewusstlos ist. Der Sani¬täter rüttelt ihn kräftig. Nach einigen Au¬genblicken
reagiert er endlich. „Der Not¬arzt. kann abbestellt werden", spricht ein
anderer Helfer ins Mikrofon.
Die Sanitäter messen Blutdruck, Puls und mit einem
Blutstropfen aus der Fin-gerspitze den Blutzucker. Sie befördern den Patienten
auf die Trage, schnell istein intravenöser Zugang gelegt, eine erste
Elektrolytlösung läuft in die Blutgefäße. An seinem Unterarm hat die Fußmatte
kreisförmige Druckstellen hinterlassen, an seinem Hemd klemmt eine
Wäscheklam¬mer, auf der „Fesches Madl" steht. In Sei¬tenlage und mit einer
Nierenschale in der Hand geht es zurück in die Sanitätsstati¬on. Der Patient
ist ein Fall für den Über¬wachungsraum, hier kann er ausnüchtern. Zwei Stunden
später wird er weiterfeiern.
Schon kurz danach rücken die Sanitäter erneut aus. Diesmal
hat es einen alten Mann in brauner Lederhose, Karohemd und mit weißem
Rauschebart erwischt. Er sitzt in der prallen Nachmittagssonne auf dem Hosenboden,
von der nahe gelege¬nen Bude her riecht es nach gebrannten Mandeln. Zwei
jüngere Männer stützen ihn, eine Handvoll Wachmänner bilden ei¬nen Kreis, in
dem die Sanitäter besser ar¬beiten können. „Ich bin Diabetiker", er¬zählt
der Mann auf Nachfrage. Wie viel er getrunken habe, will Janello wissen.
„Sie¬ben Maß." Die Wachmänner staunen: „Überleg mal. In dem Alter.
Respekt!"
Mitkommen will der alte Mann trotzdem nicht. „Dann müssen
Sie mir aber zeigen, dass Sie noch allein laufen können", sagt ein
Sanitäter. Der Mann versucht es, fällt aber immer wieder nach hinten.
Die Sanitätsstation wird derweil immer voller. Aber noch
immer sind mehr Helfer als Patienten hier. Stress kommt nicht auf, eher steht
man sich auf den Füßen. Ein Pa¬tient läuft durch den Flur, in der Hand ei¬nen
blutgetränkten Schuh und eine Pa¬ckung Menthol-Zigaretten. Sein Fuß steckt in
einer Bandage. Im Behandlungs¬zimmer sind jetzt fast alle Kabinen be¬setzt. In
einer wird einer Frau eine Arm¬schiene angelegt, auf einem Stuhl wartet ein bärtiger
junger Mann, dem ein zerbro¬chener Bierkrug die Hand aufgeschlitzt hat.
Schnittverletzungen, meist durch zer¬brochene Bierkrüge, die heruntergefallen
sind, oder die beim Prosten zerspringen, gehören zu den häufigsten Verletzungen
auf dem Oktoberfest. Tatsächlich behan¬delt das Rote Kreuz jedes Jahr während
der zwei Wochen Oktoberfest sechs- bis siebenhundert davon, ungefähr genau so
viele wie Alkoholvergiftungen.
In einem separaten Raum versorgt ein Arzt eine große
Schnittwunde an der Schulter einer jungen Australierin. An-scheinend war auch
hier ein zerbrochener Bierkrug im Spiel. Sie erinnert sich je¬doch an nichts.
In einem roten Kleid und mit Blumen im Haar sitzt sie auf der Lie¬ge, ihr Blick
ist glasig, die Sprache verwa¬schen. Der Arzt streift sich sterile Hand¬schuhe
über, fragt die Patientin nach Me¬dikamentenallergien und betäubt ihre Wunde
mit einer kleinen Spritze. Er näht sie mit sechs Stichen, während die
Austra¬lierin, die sich kein einziges'Mal über die Behandlung beschwert, alle
zwei Minuten auf Englisch wiederholt, was für ein Pech sie doch habe: „Erst
habe ich mein Porte¬monnaie und meine Freunde verloren, und jetzt das."
Zum Arzt gewandt, fügt sie hinzu: „Aber ich vertraue Ihnen." Der Arzt, der
die Patientin freundlich, aber be¬stimmt behandelt, erwidert lächelnd: „Ich
glaube, Ihnen bleibt auch nichts an¬deres übrig."
Auch der Überwachungsraum nebenan ist nun gut gefüllt mit
Betrunkenen. Frau¬en in Dirndln und Männer in Lederhosen liegend, stöhnend auf
den Liegen oder dämmern in stabiler Seitenlage vor sich hin. Ulrich Hölzenbein,
der Ärztliche Lei¬ter der Sanitätsstation, sitzt in einem ruhi¬gen Raum
nebenan. Der Mittvierziger, ein niedergelassener Kardiologie mit viel
Notarzt-Erfahrung, ist bereits seit zwan-zig Jahren Helfer beim Oktoberfest. Zu
Beginn hat er als Medizinstudent und jun¬ger Arzt etwas lernen und erleben
wollen. Seit einigen Jahren allerdings freut er sich vor allem, alte Kollegen
wieder zu treffen.
Nun erklärt er, worauf bei den alkoholi-sierten Patienten zu
achten ist: „Wir ge-ben den Betrunkenen Zucker, das hilft dem Körper, Alkohol
abzubauen, und Wasser, um den Kreislauf zu stabilisieren. Außerdem überwachen
wir ihre Vitalpara-meter und wärmen sie auf."
Gerade an kalten Tagen, wenn die Be-trunkenen sich an den
Hängen schlafen le¬gen, ist das enorm wichtig. Dann fällt ihre Körpertemperatur
gern einmal auf 3o Grad, eigentlich ein Fall für die Intensiv¬station. „Wenn
die Temperatur dann nicht steigt, kommen sie natürlich ins Kranken¬haus",
sagt Hölzenbein. Aber 70 bis 75 Prozent der Bierleichen könne man gut vor Ort
versorgen. „Wir filtern die Patien¬ten und ersparen den Krankenhäusern da¬mit
viel Arbeit und Geld." Doch gerade bei Kopfverletzungen müsse man auf
Nummer sicher gehen. Die Patienten, die beispielsweise Aspirin oder
Blutverdünner nehmen oder die benommen, schläfrig und verwirrt seien, bringt
man deswegen direkt ins Krankenhaus. Dort erhalten sie eine
Computertomographie, um eine Blu¬tung auszuschließen. Zudem kommt es vor, dass
Patienten die eine wirklich schwe¬re Erkrankung wie einen Schlaganfall ha-ben,
oftmals wie alkoholisiert wirken. Mit diesen kritischen Fällen verhalte es sich
wie mit der Nadel im Heuhaufen, sagt Hölzenbein: Sie seien selten, aber es sei
ungemein wichtig, sie im allgemeinen Bierdunst ausfmdig zu machen. „Außer-dem
haben bis zu einem Drittel unserer Patienten Mischintoxikationen, also zum
Alkohol noch Opiate, Benzodiazepine oder Drogen genommen", erklärt
Hölzen-bein. Dass ein Patient wenig getrunken hat und trotzdem sehr betrunken
wirkt, ist ein Hinweis darauf.
Neben einer medizinischen Akutversor-gung ist auch für
psychologische Unter¬stützung gesorgt. Roman Dreesbach sitzt mit seinen
Kollegen im Untergeschoss des Hauses und isst zu Abend. Sein Team trägt zur
Erkennung rosafarbene Westen. „Das ist Magenta und nicht Rosa",
korri¬giert Dreesbach und lacht. Zwischen Bu¬lette und Kartoffelbrei erzählt er
vom ver-gangenen Samstag: „Da hatten wir eine Frau hier, die vor einiger Zeit
vergewaltigt wurde. Als es dann im Zelt einen Über¬griff gab, kam alles wieder
hoch. Wir bie¬ten dann Gespräche und einen ruhigen Raum an." Zusätzlich
arbeite man eng mit der Initiative „Sichere Wiesn" zusammen.
Eine der Sozialarbeiterinnen dort ist Kristina Gottlöber.
„Vergewaltigungen und sexuelle Übergriffe sind leider keine Seltenheit auf dem
Oktoberfest", sagt sie. „Deshalb sensibilisieren wir für das Pro-blem und
unterstützen betroffene Frauen vor Ort." Einerseits ist man Anlaufstelle
für Gestrandete, die ihre Freunde, dasHandy und die Hoteladresse verloren
ha-ben. Denn sie werden als hilflos Umherir-rende besonders oft Opfer von
Übergrif-fen. Und andererseits kümmert man sich um Frauen, denen bereits etwas
zugesto¬ßen ist. „Wir stabilisieren sie und helfen, wenn sie nicht wissen, wie
es jetzt weiter¬geht."
Inzwischen ist es dunkel geworden, in
den meisten Festzelten gab es einen Reser-
vierungswechsel. Für Janello und seine
Kollegen geht es erneut in die Menschen-
massen. Mit der Dunkelheit scheint die
Stimmung gekippt zu sein. Viele Besu-
cher halten sich kaum noch auf den Bei-
nen, Arm in Arm tragen sie die Gesänge
aus den Hinterausgängen der Festzelte
1 hinaus. Den Sanitätern fällt es nun schwe-rer, sich einen
Weg zu bahnen. Auf dem Gras liegen Menschen, wenige Meter ent¬fernt davon
urinieren andere gegen Bäu¬me. Der Patient ist ein älterer obdachlo¬ser Mann,
der sich aus Hose und Pullover gestrampelt hat. Seine Hose an den Knö¬cheln
verfangen, liegt er auf dem Asphalt, die langen Haaren zu armdicken Sträh¬nen
verfilzt, das Gesicht zu einer Grimas¬se verzerrt, auf dein Kopf jedoch ein
na¬gelneuer grauer Filzhut. Er will sich nicht helfen lassen und schon gar
keine Kanüle in den Arm bekommen: „Ich lebe seit zwanzig Jahren auf der
Straße", lallt er immer wieder. Als die Sanitäter ihm dann doch eine
Kanüle legen wollen, brauchen sie die Hilfe der Polizei. Der Mann rudert wild
mit den Armen und stößt wüste Beschimpfungen aus: „Ihr Ka-ckerlacken, ihr
Penner, ihr Huren!" Auf dem Weg zurück zur Sanitätsstation blei¬ben immer
wieder Menschen stehen, zei¬gen auf den protestierenden Mann auf der Trage und
lachen ihn aus.
Auf der Station sind in der Zwischen-zeit einige Patienten
angekommen, die in eine Schlägerei verwickelt waren. Im Flur stehen Polizisten
in Lederjacken. Ein gro¬ßer Junge mit blonden Locken, der kaum volljährig
aussieht, sitzt auf einer Trage und hält sich ein Kühlkissen auf den Kopf. Ihm
wurde ein Maßkrug auf den Schädel gehauen. Bekümmert tippt er auf einem Handy
herum. In der Kabine nebenan sitzt ein Mann mit Halskrause, ein dritter mit
einer blutigen Binde auf der Nase geht durch den Raum. Und auch beim letzten
Einsatz vor Schankschluss zeigt sich, dass es heute nicht immer friedlich
zugegangen ist. Am Augustinerzelt wurde einem Mann aus heiterem Himmel ins
Ge¬sicht geschlagen. Die klaffende Wunde an der Lippe muss genäht werden. Seine
Freundin steht fassungslos neben ihm, die Gesichtszüge sind ihr entglitten,
Tränen haben ihre Schminke verwischt. „Heiter und entspannt" sei das erste
Wochenende gewesen, heißt es auf der Website zur Wiesn. Nicht für jeden.
,5 Millionen Litern Bier verzeh-
ren die Besucher des Oktoberfests
(jedes Jahr
ungefähr eine halbe Mil-
lion Brathendl, wo 000 Schweinsvviirstl und 8o 000
Schweinshaxen. Sie tun gut daran. Denn wer zecht, sollte bekannt-lich keinen
leeren Magen, sondern eine gute Grundlage haben.
Alkohol wird nach einer fettigen Mahl¬zeit langsamer und in
geringeren Dosen aufgenommen. „Alkohol wird zum grö߬ten Teil im Dünndarm
resorbiert", er¬klärt Florian, Leiter der Klinischen Toxi¬kologie im
Klinikums rechts der Isar. "Aber das geht schlechter, wenn er vor¬her im
Magen an Fette gebunden hat." Außerdem bleibt feste Nahrung länger im
Magen als Flüssigkeit allein. Der Spei¬se- und Alkoholbrei gelangt nicht so
schnell in den Dünndarm, und das Etha¬nol geht langsamer ins Blut über.
Einmal dort angelangt, wirkt Alkohol auf verschiedenste
Botenstoffe im Ge-hirn. „Neben seiner Wirkung auf das do-paminerge
Belohnungssystem werden durch Alkohol Endorphine freigesetzt und soziale Ängste
abgebaut", sagt Ul¬rich Zimmermann, Professor an der Psy¬chiatrischen
Klink der TU Dresden. In geringen Dosen wirkt Alkohol bei allen Menschen sehr
ähnlich: leicht euphorisie-rend und entspannend. Das macht ihn seit der Antike
zur Gesellschaftsdroge Nummer eins. In hohen Dosen jedoch hemmt er glutamaterge
Systeme, die nor-malerweise wach machen und aktivieren. Wer viel Alkohol
trinkt, wird deshalb müde. Aber wie viel genau jemand ver¬trägt, bevor er
wegdämmert, ist gene¬tisch bedingt sehr variabel. Das erklärt, warum einige in
der Runde beim Trin¬ken immer früh schläfrig werden, andere hingegen aktiv und
quirlig.
Allerdings ist Alkohol auch bei der Hälfte aller
Gewaltverbrechen und Ver-gewaltigungen im Spiel. Das lässt sich zum Teil damit
erklären, dass es Men-schen, die betrunken sind, schwerer fällt, ihre Impulse
zu kontrollieren. Was wiederum daher rührt, dass Alkohol be-stimmte Funktionen
des Stirnlappens im Gehirn außer Gefecht setzt. Außer¬dem engt Alkohol
Wahrnehmung und Aufmerksamkeit entscheidend ein. Das nennen Sozialpsychologen
„alkoholische Kurzsichtigkeit". Wenn ein Betrunke¬ner in einer überfüllten
Kneipe angerem¬pelt wird, nimmt er das schnell als An¬griff wahr und schlägt im
Zweifelsfall eher zurück. Allerdings wird nur ein klei¬ner Teil aller
Betrunkenen aggressiv. Das wiederum kann Veranlagung sein, aber auch die
Prägung durch -die Um¬welt spielt eine Rolle.
Glaubt man Psychologen, ist es weni-ger die pharmakologische
Wirkung des Alkohols selbst, sondern das, was wir von
dieser Wirkung erwarten. Verabreicht man Probanden zu
Versuchszwecken ein Alkohol-Placebo und vergleicht ihr Ver¬halten mit anderen,
die wirklich etwas ge¬trunken haben, beobachtet man - zumin¬dest bei kleinen
Mengen - keinen Unter¬schied. Diese Erwartungshaltung ist von Kindesbeinen an
nachweisbar. Das zeigt, dass sie nicht nur von den eigenen Erfah¬rungen mit
Alkohol abhängen kann. Sie ist vielmehr dadurch geprägt, wie das Trinken
kulturell eingebettet ist In Kul¬turen, in denen man erwartet, dass Be¬trunkene
gewalttätig werden oder Re¬geln überschreiten, benehmen sie sich ge¬nau so. Das
passiert in Ländern, in de¬nen der Genuss alkoholischer Getränke mit einem
harmonischen Zusammensein verbunden wird, viel seltener.
Vor allem die Bewohner der Staaten rund ums Mittelmeer
gelten im Umgang mit dem Alkohol als friedlich und gemä¬ßigt. Das bestätigt ein
Bericht, den der Think Tank „Social Issues Research Cen-tre" aus Oxford
für die Europäische Kommission verfasst hat. Dort heißt es, dass Länder wie
Italien oder Griechen¬land im Zusammenhang mit dem Alko-holkonsum deutlich weniger
soziale und psychiatrische Probleme beklagen als Länder, in denen der Alkohol
nezativ be¬setzt ist und eine Kultur des -Sturztrin¬kens existiert.
In Maßen genossen, ist Alkohol sogar ein wichtiger
Bestandteil der sogenann-ten Mittelmeer-Diät, die nachgewiesener-maßen das
Risiko senkt, an Gefäßerkran¬kungen zu sterben. Als Mediziner An¬fang des
Jahres errechneten, welche Ein-zelbestandteile dieser Diät besonders gut
schützen, stellten sie fest, dass Alkohol dabei auf Platz eins rangiert, noch
vor den berühmten Ballaststoffen. Jürgen Rehm allerdings, Professor in Toronto
und Dresden, relativiert diese Aussage. Er forscht seit Jahrzehnten zu den
ge¬sundheitlichen und volkswirtschaftlichen Folgen des Alkoholkonsums und
rechnet vor: „Bezogen auf wo Tote, die er verur-sacht, verhindert Alkohol
vielleicht drei bis vier Todesfälle. Und das auch nur bei maßvollem Konsum,
also o,i Liter Wein am Tag."
Und wie steht es mit der Behauptung, dass manche Völker
trinkfester sind als andere? Können Asiaten den Alkohol tat¬sächlich weniger
und Italiener ihn besser vertragen? „Innerhalb Europas gibt es keine
Unterschiede in der Aktivität der alkoholabbauenden Enzyme", erklärt der
Münchner Florian Eyer. Italienern be¬kommt der Wein wohl nur deshalb bes¬ser,
weil sie meist etwas dazu essen. Es ge¬hört auch nicht zur italienischen
Kultur,
• volltrunken
umherzutorkeln. Diese Re¬gel scheint allerdings außer Kraft zu tre¬ten, wenn
Italiener einmal im Jahr über die Berge zum Oktoberfest anreisen, wes-
halb manche Kellnerinnen ihnen spätes-tens nach der dritten
Maß insgeheim nur noch alkoholfreies Bier vorsetzen.
Bei Asiaten hingegen gibt es eine bio-logische Erklärung
dafür, dass ihnen der Alkohol schlimmer zusetzt als etwa den Bayern. Viele von
ihnen tragen fehler-hafte Ausprägungen. des Alkoholdehy-drogenase (ALDH)-Gens.
ALDH ist un¬ter den Enzymen, die im menschlichen Körper Alkohol abbauen, das
wichtigs¬te. Es verrichtet seine Arbeit in der Le¬ber und senkt die
Alkoholkonzentration im Blut pro Stunde um ungefähr o,i Pro¬mille bei Frauen
und 0,2 bei Männern. Asiaten, die gar kein funktionierendes
Al-koholdehydrogenase-Gen besitzen, lau-fen deshalb rot an und müssen sich fast
augenblicklich übergeben, wenn sie trin-ken. Wenn nur eine Ausprägung des Gens
fehlerhaft ist, trifft es sie nicht so hart. Insbesondere über das sogenannte
mikrosomale ethanol-oxidierende Sys-tem (MEOS), den zweiten wichtigen Ab¬bauweg
des Alkohols, können sie das Trinken trainieren. Dieses System wird umso
aktiver, je mehr und regelmäßiger man trinkt.
An einer
Sache aber lässt sich generell nicht rütteln: Kulturübergreifend folgt dem
exzessiven Saufen der Kater. Kopf-schmerz, Übel
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