Mittwoch, 30. September 2015

Gaudi auf dem Oktoberfest


Gaudi auf dem Oktoberfest

Author D.Selzer-McKenzie

Video: https://youtu.be/vTWjZ20U7JA

Die Liegen im Überwachungs¬raum sind niedrig. Mit nur ei¬nem halben Meter Höhe viel niedriger als in Sanitätsstatio-nen und Krankenhäusern üblich. Das hat seinen Grund. Wenn Betrunkene sich er¬brechen müssen, ist der Weg bis zum Bo¬den kürzer. Der Strahl fächert nicht so sehr, es spritzt weniger, erklärt ein Sanitä¬ter des Bayerischen Roten Kreuzes, der sich hier um die Bierleichen des Oktober¬festes kümmert. Außerdem können die Pa¬tienten dann auch nicht so tief fallen. Die zwölf Liegen, immer zwei davon durch ei¬nen Sichtschutz abgetrennt, sind mit Mess-geräten für Blutdruck, Sauerstoffsättigung und EKG sowie Decken und Heizgeblä¬sen ausgestattet. Der Boden ist mit grü¬nem Linoleum ausgelegt, an der Decke hängen Leuchtstoffröhren, die Fenster sind aus Milchglas. Am Ende des Raumes werden in einem Metallschrank Elektrolyt-lösungen warm gehalten. Alles hier erin¬nert an ein Krankenhaus und nichts an eine fröhliche Wiesn.

Die Sanitätsstation befindet sich im ein¬zigen Festbau der Theresienwiese. Neben dem Überwachungsraum hat sie eine eige¬ne kleine Leitstelle, welche die Wiesn-Notrufe und die von der Leitstelle der Feuerwehr weitergeleiteten iu-Notrufe an¬nimmt. Auf der anderen Seite des Flures befmdet sich ein Behandlungsraum. Hier schauen Ärzte nach gestürzten Patienten mit Kopfwunden, Schnittverletzungen und anderen medizinischen Problemen. Komplettiert wird die Station durch einen Ruheraum, in den gerade ein älterer Herr geschoben wird, der in einem Bierzelt ei¬nen Kreislaufkollaps erlitten hat.

Das ist ein Klassiker auf dem Oktober¬fest. Bei langem Stehen und Erweiterung der Blutgefäße durch die Hitze versackt das Blut in den Beinen. Für einen Mo¬ment fehlt es dann im Gehirn, man wird bewusstlos und bricht zusammen. Weil Al¬kohol entwässert, verstärkt er den Effekt. Gerade ältere Menschen und Herzkranke sind gefährdet. In der anderen Richtung verlässt ein Patient gerade die Station. Sein Herz stolpert etwas, worum man sich hier nicht kümmern kann. Hinter dem Haus wird er in einen Krankenwagen ver¬laden, der die Wiesn über eine Zufahrt-straße gen Krankenhaus verlässt.

Dort stehen in der Mittagssonne auch die Sanitäterteams. An diesem ersten Wiesn-Montag schlägt bisher nur gele-gentlich der Gong. Er signalisiert, dass eine Trage ausrücken muss, um einen Pa¬tienten vom Gelände zu holen. Philipp Janello nippt an seiner Apfelschorle. Er trägt eine orangefarbene Hose und ein weißes Polohemd, in dessen Kragen eine große Sonnenbrille steckt. Für den 28-jäh¬rigen Maschinenbauer, der bei BMW ar¬

 

beitet, ist das Oktoberfest ein echtes High¬light. Seit mittlerweile zwölf Jahren, seit dem Schulsanitätsdienst, engagiert er sich beim Roten Kreuz. „Es ist doch phantas¬tisch: Zweitausend Ehrenamtliche jedes Jahr, und das, obwohl wir dieses Jahr alle Hände mit der Versorgung der Flüchtlin¬ge zu tun haben", schwärmt er. Janello kommt mit einem Freund, den er schon aus Schulzeiten kennt. „Entweder hasst man die Arbeit hier, oder man liebt sie. Ich liebe sie", sagt er. Jedes Jahr nimmt er sich für den Sanitätsdienst auf dem Okto¬berfest mindestens einen Tag Urlaub, ge¬nau wie die anderen Helfer.

Beim nächsten Gong ist Janellos Team an der Reihe. Zu viert rücken die Sanitä¬ter aus. Ihre Trage, auch WiesnlFaid ge¬nannt, hat eine grellgelbe Plastikhaube aus einem Material, das an eine Öljacke er¬innert. Sie soll vor der Witterung schüt¬zen, vor allem aber vor den Blicken der Wiesn-Besucher. Einer der Sanitäter geht vor der Trage durch die Menschenmenge, immer wieder ruft er: „Vorsicht! Aus dem Weg, bitte!" Wer nicht hört, wird unsanft zur Seite geschubst. Der Patient ist ein junger Mann, der, olitie sich zu regen, auf der Fußmatte einer Entenbraterei liegt. Ei-gentlich ein Fall für den Notarzt, der im-mer dann hinzugezogen werden muss, wenn ein Patient bewusstlos ist. Der Sani¬täter rüttelt ihn kräftig. Nach einigen Au¬genblicken reagiert er endlich. „Der Not¬arzt. kann abbestellt werden", spricht ein anderer Helfer ins Mikrofon.

Die Sanitäter messen Blutdruck, Puls und mit einem Blutstropfen aus der Fin-gerspitze den Blutzucker. Sie befördern den Patienten auf die Trage, schnell istein intravenöser Zugang gelegt, eine erste Elektrolytlösung läuft in die Blutgefäße. An seinem Unterarm hat die Fußmatte kreisförmige Druckstellen hinterlassen, an seinem Hemd klemmt eine Wäscheklam¬mer, auf der „Fesches Madl" steht. In Sei¬tenlage und mit einer Nierenschale in der Hand geht es zurück in die Sanitätsstati¬on. Der Patient ist ein Fall für den Über¬wachungsraum, hier kann er ausnüchtern. Zwei Stunden später wird er weiterfeiern.

Schon kurz danach rücken die Sanitäter erneut aus. Diesmal hat es einen alten Mann in brauner Lederhose, Karohemd und mit weißem Rauschebart erwischt. Er sitzt in der prallen Nachmittagssonne auf dem Hosenboden, von der nahe gelege¬nen Bude her riecht es nach gebrannten Mandeln. Zwei jüngere Männer stützen ihn, eine Handvoll Wachmänner bilden ei¬nen Kreis, in dem die Sanitäter besser ar¬beiten können. „Ich bin Diabetiker", er¬zählt der Mann auf Nachfrage. Wie viel er getrunken habe, will Janello wissen. „Sie¬ben Maß." Die Wachmänner staunen: „Überleg mal. In dem Alter. Respekt!"

Mitkommen will der alte Mann trotzdem nicht. „Dann müssen Sie mir aber zeigen, dass Sie noch allein laufen können", sagt ein Sanitäter. Der Mann versucht es, fällt aber immer wieder nach hinten.

Die Sanitätsstation wird derweil immer voller. Aber noch immer sind mehr Helfer als Patienten hier. Stress kommt nicht auf, eher steht man sich auf den Füßen. Ein Pa¬tient läuft durch den Flur, in der Hand ei¬nen blutgetränkten Schuh und eine Pa¬ckung Menthol-Zigaretten. Sein Fuß steckt in einer Bandage. Im Behandlungs¬zimmer sind jetzt fast alle Kabinen be¬setzt. In einer wird einer Frau eine Arm¬schiene angelegt, auf einem Stuhl wartet ein bärtiger junger Mann, dem ein zerbro¬chener Bierkrug die Hand aufgeschlitzt hat. Schnittverletzungen, meist durch zer¬brochene Bierkrüge, die heruntergefallen sind, oder die beim Prosten zerspringen, gehören zu den häufigsten Verletzungen auf dem Oktoberfest. Tatsächlich behan¬delt das Rote Kreuz jedes Jahr während der zwei Wochen Oktoberfest sechs- bis siebenhundert davon, ungefähr genau so viele wie Alkoholvergiftungen.

In einem separaten Raum versorgt ein Arzt eine große Schnittwunde an der Schulter einer jungen Australierin. An-scheinend war auch hier ein zerbrochener Bierkrug im Spiel. Sie erinnert sich je¬doch an nichts. In einem roten Kleid und mit Blumen im Haar sitzt sie auf der Lie¬ge, ihr Blick ist glasig, die Sprache verwa¬schen. Der Arzt streift sich sterile Hand¬schuhe über, fragt die Patientin nach Me¬dikamentenallergien und betäubt ihre Wunde mit einer kleinen Spritze. Er näht sie mit sechs Stichen, während die Austra¬lierin, die sich kein einziges'Mal über die Behandlung beschwert, alle zwei Minuten auf Englisch wiederholt, was für ein Pech sie doch habe: „Erst habe ich mein Porte¬monnaie und meine Freunde verloren, und jetzt das." Zum Arzt gewandt, fügt sie hinzu: „Aber ich vertraue Ihnen." Der Arzt, der die Patientin freundlich, aber be¬stimmt behandelt, erwidert lächelnd: „Ich glaube, Ihnen bleibt auch nichts an¬deres übrig."

Auch der Überwachungsraum nebenan ist nun gut gefüllt mit Betrunkenen. Frau¬en in Dirndln und Männer in Lederhosen liegend, stöhnend auf den Liegen oder dämmern in stabiler Seitenlage vor sich hin. Ulrich Hölzenbein, der Ärztliche Lei¬ter der Sanitätsstation, sitzt in einem ruhi¬gen Raum nebenan. Der Mittvierziger, ein niedergelassener Kardiologie mit viel Notarzt-Erfahrung, ist bereits seit zwan-zig Jahren Helfer beim Oktoberfest. Zu Beginn hat er als Medizinstudent und jun¬ger Arzt etwas lernen und erleben wollen. Seit einigen Jahren allerdings freut er sich vor allem, alte Kollegen wieder zu treffen.

 

Nun erklärt er, worauf bei den alkoholi-sierten Patienten zu achten ist: „Wir ge-ben den Betrunkenen Zucker, das hilft dem Körper, Alkohol abzubauen, und Wasser, um den Kreislauf zu stabilisieren. Außerdem überwachen wir ihre Vitalpara-meter und wärmen sie auf."

Gerade an kalten Tagen, wenn die Be-trunkenen sich an den Hängen schlafen le¬gen, ist das enorm wichtig. Dann fällt ihre Körpertemperatur gern einmal auf 3o Grad, eigentlich ein Fall für die Intensiv¬station. „Wenn die Temperatur dann nicht steigt, kommen sie natürlich ins Kranken¬haus", sagt Hölzenbein. Aber 70 bis 75 Prozent der Bierleichen könne man gut vor Ort versorgen. „Wir filtern die Patien¬ten und ersparen den Krankenhäusern da¬mit viel Arbeit und Geld." Doch gerade bei Kopfverletzungen müsse man auf Nummer sicher gehen. Die Patienten, die beispielsweise Aspirin oder Blutverdünner nehmen oder die benommen, schläfrig und verwirrt seien, bringt man deswegen direkt ins Krankenhaus. Dort erhalten sie eine Computertomographie, um eine Blu¬tung auszuschließen. Zudem kommt es vor, dass Patienten die eine wirklich schwe¬re Erkrankung wie einen Schlaganfall ha-ben, oftmals wie alkoholisiert wirken. Mit diesen kritischen Fällen verhalte es sich wie mit der Nadel im Heuhaufen, sagt Hölzenbein: Sie seien selten, aber es sei ungemein wichtig, sie im allgemeinen Bierdunst ausfmdig zu machen. „Außer-dem haben bis zu einem Drittel unserer Patienten Mischintoxikationen, also zum Alkohol noch Opiate, Benzodiazepine oder Drogen genommen", erklärt Hölzen-bein. Dass ein Patient wenig getrunken hat und trotzdem sehr betrunken wirkt, ist ein Hinweis darauf.

Neben einer medizinischen Akutversor-gung ist auch für psychologische Unter¬stützung gesorgt. Roman Dreesbach sitzt mit seinen Kollegen im Untergeschoss des Hauses und isst zu Abend. Sein Team trägt zur Erkennung rosafarbene Westen. „Das ist Magenta und nicht Rosa", korri¬giert Dreesbach und lacht. Zwischen Bu¬lette und Kartoffelbrei erzählt er vom ver-gangenen Samstag: „Da hatten wir eine Frau hier, die vor einiger Zeit vergewaltigt wurde. Als es dann im Zelt einen Über¬griff gab, kam alles wieder hoch. Wir bie¬ten dann Gespräche und einen ruhigen Raum an." Zusätzlich arbeite man eng mit der Initiative „Sichere Wiesn" zusammen.

Eine der Sozialarbeiterinnen dort ist Kristina Gottlöber. „Vergewaltigungen und sexuelle Übergriffe sind leider keine Seltenheit auf dem Oktoberfest", sagt sie. „Deshalb sensibilisieren wir für das Pro-blem und unterstützen betroffene Frauen vor Ort." Einerseits ist man Anlaufstelle für Gestrandete, die ihre Freunde, dasHandy und die Hoteladresse verloren ha-ben. Denn sie werden als hilflos Umherir-rende besonders oft Opfer von Übergrif-fen. Und andererseits kümmert man sich um Frauen, denen bereits etwas zugesto¬ßen ist. „Wir stabilisieren sie und helfen, wenn sie nicht wissen, wie es jetzt weiter¬geht."

Inzwischen ist es dunkel geworden, in

den meisten Festzelten gab es einen Reser-

vierungswechsel. Für Janello und seine

Kollegen geht es erneut in die Menschen-

massen. Mit der Dunkelheit scheint die

Stimmung gekippt zu sein. Viele Besu-

cher halten sich kaum noch auf den Bei-

nen, Arm in Arm tragen sie die Gesänge

aus den Hinterausgängen der Festzelte

1 hinaus. Den Sanitätern fällt es nun schwe-rer, sich einen Weg zu bahnen. Auf dem Gras liegen Menschen, wenige Meter ent¬fernt davon urinieren andere gegen Bäu¬me. Der Patient ist ein älterer obdachlo¬ser Mann, der sich aus Hose und Pullover gestrampelt hat. Seine Hose an den Knö¬cheln verfangen, liegt er auf dem Asphalt, die langen Haaren zu armdicken Sträh¬nen verfilzt, das Gesicht zu einer Grimas¬se verzerrt, auf dein Kopf jedoch ein na¬gelneuer grauer Filzhut. Er will sich nicht helfen lassen und schon gar keine Kanüle in den Arm bekommen: „Ich lebe seit zwanzig Jahren auf der Straße", lallt er immer wieder. Als die Sanitäter ihm dann doch eine Kanüle legen wollen, brauchen sie die Hilfe der Polizei. Der Mann rudert wild mit den Armen und stößt wüste Beschimpfungen aus: „Ihr Ka-ckerlacken, ihr Penner, ihr Huren!" Auf dem Weg zurück zur Sanitätsstation blei¬ben immer wieder Menschen stehen, zei¬gen auf den protestierenden Mann auf der Trage und lachen ihn aus.

Auf der Station sind in der Zwischen-zeit einige Patienten angekommen, die in eine Schlägerei verwickelt waren. Im Flur stehen Polizisten in Lederjacken. Ein gro¬ßer Junge mit blonden Locken, der kaum volljährig aussieht, sitzt auf einer Trage und hält sich ein Kühlkissen auf den Kopf. Ihm wurde ein Maßkrug auf den Schädel gehauen. Bekümmert tippt er auf einem Handy herum. In der Kabine nebenan sitzt ein Mann mit Halskrause, ein dritter mit einer blutigen Binde auf der Nase geht durch den Raum. Und auch beim letzten Einsatz vor Schankschluss zeigt sich, dass es heute nicht immer friedlich zugegangen ist. Am Augustinerzelt wurde einem Mann aus heiterem Himmel ins Ge¬sicht geschlagen. Die klaffende Wunde an der Lippe muss genäht werden. Seine Freundin steht fassungslos neben ihm, die Gesichtszüge sind ihr entglitten, Tränen haben ihre Schminke verwischt. „Heiter und entspannt" sei das erste Wochenende gewesen, heißt es auf der Website zur Wiesn. Nicht für jeden.

,5 Millionen Litern Bier verzeh-

ren die Besucher des Oktoberfests

            (jedes Jahr ungefähr eine halbe Mil-

lion Brathendl, wo 000 Schweinsvviirstl und 8o 000 Schweinshaxen. Sie tun gut daran. Denn wer zecht, sollte bekannt-lich keinen leeren Magen, sondern eine gute Grundlage haben.

Alkohol wird nach einer fettigen Mahl¬zeit langsamer und in geringeren Dosen aufgenommen. „Alkohol wird zum grö߬ten Teil im Dünndarm resorbiert", er¬klärt Florian, Leiter der Klinischen Toxi¬kologie im Klinikums rechts der Isar. "Aber das geht schlechter, wenn er vor¬her im Magen an Fette gebunden hat." Außerdem bleibt feste Nahrung länger im Magen als Flüssigkeit allein. Der Spei¬se- und Alkoholbrei gelangt nicht so schnell in den Dünndarm, und das Etha¬nol geht langsamer ins Blut über.

Einmal dort angelangt, wirkt Alkohol auf verschiedenste Botenstoffe im Ge-hirn. „Neben seiner Wirkung auf das do-paminerge Belohnungssystem werden durch Alkohol Endorphine freigesetzt und soziale Ängste abgebaut", sagt Ul¬rich Zimmermann, Professor an der Psy¬chiatrischen Klink der TU Dresden. In geringen Dosen wirkt Alkohol bei allen Menschen sehr ähnlich: leicht euphorisie-rend und entspannend. Das macht ihn seit der Antike zur Gesellschaftsdroge Nummer eins. In hohen Dosen jedoch hemmt er glutamaterge Systeme, die nor-malerweise wach machen und aktivieren. Wer viel Alkohol trinkt, wird deshalb müde. Aber wie viel genau jemand ver¬trägt, bevor er wegdämmert, ist gene¬tisch bedingt sehr variabel. Das erklärt, warum einige in der Runde beim Trin¬ken immer früh schläfrig werden, andere hingegen aktiv und quirlig.

Allerdings ist Alkohol auch bei der Hälfte aller Gewaltverbrechen und Ver-gewaltigungen im Spiel. Das lässt sich zum Teil damit erklären, dass es Men-schen, die betrunken sind, schwerer fällt, ihre Impulse zu kontrollieren. Was wiederum daher rührt, dass Alkohol be-stimmte Funktionen des Stirnlappens im Gehirn außer Gefecht setzt. Außer¬dem engt Alkohol Wahrnehmung und Aufmerksamkeit entscheidend ein. Das nennen Sozialpsychologen „alkoholische Kurzsichtigkeit". Wenn ein Betrunke¬ner in einer überfüllten Kneipe angerem¬pelt wird, nimmt er das schnell als An¬griff wahr und schlägt im Zweifelsfall eher zurück. Allerdings wird nur ein klei¬ner Teil aller Betrunkenen aggressiv. Das wiederum kann Veranlagung sein, aber auch die Prägung durch -die Um¬welt spielt eine Rolle.

Glaubt man Psychologen, ist es weni-ger die pharmakologische Wirkung des Alkohols selbst, sondern das, was wir von

 

dieser Wirkung erwarten. Verabreicht man Probanden zu Versuchszwecken ein Alkohol-Placebo und vergleicht ihr Ver¬halten mit anderen, die wirklich etwas ge¬trunken haben, beobachtet man - zumin¬dest bei kleinen Mengen - keinen Unter¬schied. Diese Erwartungshaltung ist von Kindesbeinen an nachweisbar. Das zeigt, dass sie nicht nur von den eigenen Erfah¬rungen mit Alkohol abhängen kann. Sie ist vielmehr dadurch geprägt, wie das Trinken kulturell eingebettet ist In Kul¬turen, in denen man erwartet, dass Be¬trunkene gewalttätig werden oder Re¬geln überschreiten, benehmen sie sich ge¬nau so. Das passiert in Ländern, in de¬nen der Genuss alkoholischer Getränke mit einem harmonischen Zusammensein verbunden wird, viel seltener.

Vor allem die Bewohner der Staaten rund ums Mittelmeer gelten im Umgang mit dem Alkohol als friedlich und gemä¬ßigt. Das bestätigt ein Bericht, den der Think Tank „Social Issues Research Cen-tre" aus Oxford für die Europäische Kommission verfasst hat. Dort heißt es, dass Länder wie Italien oder Griechen¬land im Zusammenhang mit dem Alko-holkonsum deutlich weniger soziale und psychiatrische Probleme beklagen als Länder, in denen der Alkohol nezativ be¬setzt ist und eine Kultur des -Sturztrin¬kens existiert.

In Maßen genossen, ist Alkohol sogar ein wichtiger Bestandteil der sogenann-ten Mittelmeer-Diät, die nachgewiesener-maßen das Risiko senkt, an Gefäßerkran¬kungen zu sterben. Als Mediziner An¬fang des Jahres errechneten, welche Ein-zelbestandteile dieser Diät besonders gut schützen, stellten sie fest, dass Alkohol dabei auf Platz eins rangiert, noch vor den berühmten Ballaststoffen. Jürgen Rehm allerdings, Professor in Toronto und Dresden, relativiert diese Aussage. Er forscht seit Jahrzehnten zu den ge¬sundheitlichen und volkswirtschaftlichen Folgen des Alkoholkonsums und rechnet vor: „Bezogen auf wo Tote, die er verur-sacht, verhindert Alkohol vielleicht drei bis vier Todesfälle. Und das auch nur bei maßvollem Konsum, also o,i Liter Wein am Tag."

Und wie steht es mit der Behauptung, dass manche Völker trinkfester sind als andere? Können Asiaten den Alkohol tat¬sächlich weniger und Italiener ihn besser vertragen? „Innerhalb Europas gibt es keine Unterschiede in der Aktivität der alkoholabbauenden Enzyme", erklärt der Münchner Florian Eyer. Italienern be¬kommt der Wein wohl nur deshalb bes¬ser, weil sie meist etwas dazu essen. Es ge¬hört auch nicht zur italienischen Kultur,

         volltrunken umherzutorkeln. Diese Re¬gel scheint allerdings außer Kraft zu tre¬ten, wenn Italiener einmal im Jahr über die Berge zum Oktoberfest anreisen, wes-

 

halb manche Kellnerinnen ihnen spätes-tens nach der dritten Maß insgeheim nur noch alkoholfreies Bier vorsetzen.

Bei Asiaten hingegen gibt es eine bio-logische Erklärung dafür, dass ihnen der Alkohol schlimmer zusetzt als etwa den Bayern. Viele von ihnen tragen fehler-hafte Ausprägungen. des Alkoholdehy-drogenase (ALDH)-Gens. ALDH ist un¬ter den Enzymen, die im menschlichen Körper Alkohol abbauen, das wichtigs¬te. Es verrichtet seine Arbeit in der Le¬ber und senkt die Alkoholkonzentration im Blut pro Stunde um ungefähr o,i Pro¬mille bei Frauen und 0,2 bei Männern. Asiaten, die gar kein funktionierendes Al-koholdehydrogenase-Gen besitzen, lau-fen deshalb rot an und müssen sich fast augenblicklich übergeben, wenn sie trin-ken. Wenn nur eine Ausprägung des Gens fehlerhaft ist, trifft es sie nicht so hart. Insbesondere über das sogenannte mikrosomale ethanol-oxidierende Sys-tem (MEOS), den zweiten wichtigen Ab¬bauweg des Alkohols, können sie das Trinken trainieren. Dieses System wird umso aktiver, je mehr und regelmäßiger man trinkt.
An einer Sache aber lässt sich generell nicht rütteln: Kulturübergreifend folgt dem exzessiven Saufen der Kater. Kopf-schmerz, Übel


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