Mittwoch, 16. September 2015

Russisches Führungsprinzip


Russisches Führungsprinzip

Author D.Selzer-McKenzie

Video: https://youtu.be/3u0IA8Nhe64

Ein Mann herrscht über ein Land. Das will begründet und inszeniert sein. Über das russische Führerprinzip.

I

n der russischen Politik ist Präsident Wladimir Putin allgegenwär¬tig. So allgegenwärtig, dass er sogar einem Herrschaftssys.tem sei¬nen Namen gegeben hat: dem Putinismus. Die Fachleute sind uneins darüber. was dieses Phänomen ausmacht. Von Staatskapitalis¬mus, Autokratie, Nepotismus ist schon länger die Rede, mittlerweile vermehrt auch von Nationalismus, Revisionismus, Repression. Eine letztgültige Definition steht aus, voraussichtlich mindestens so lange, wie Putin an der Macht bleibt. Schließlich bestimmt er selbst, welche Mittel ihm dazu gerade am besten gelegen kommen. Mal ist der Westen Partner, mal Feind. Mal setzt er auf Handel, mal auf Abschottung. Mal gibt er sich liberal, mal chauvinistisch. Mal ist er Präsident, mal Minis¬terpräsident. Aber immer präsent. Was passiert, wenn er einmal nicht da ist, ließ sich im vergangenen März verfolgen. Da trat Putin einige Tage nicht öffentlich auf. Sofort wurde spekuliert: Ist Putin krank? Wird er noch einmal Vater? Ist er vielleicht schon tot?

Der ideale Putinismus ist schlicht: Ein Mann herrscht über ein Land und seine Bewohner (plus einige Nachbarländer und -völker, aber da wird es komplizierter). Dabei knüpft der Putinismus, wie sollte es an-ders sein, an Russlands Geschichte an. Insbesondere die Legende vom „guten Zaren" findet sich weiterhin, angepasst an präsidiale Gegeben¬heiten. So, wenn Putin vor allfälligen Vorwürfen in Schutz genommen wird: An Missständen müssen stets die Untergebenen schuld sein, was soll Putin auch tun, er muss sich ja um das ganze Land (plus x) küm¬mern. Doch im Unterschied zum Zarismus fehlt dem Putinismus zumin¬dest bislang das dynastische Element. Der erste stellvertretende Leiter der Präsidialverwaltung, Wjatscheslaw Wolodin, brachte das System

 

im Oktober vergangenen Jahres auf die ebenso griffige wie fatalist sche Formel: „Wenn es Putin gibt, gibt es Russland. Wenn es Puti nicht gibt, gibt es auch Russland nicht." Dieser Ansatz erklärt zugleicl warum das offizielle politische Leben in Russland trotz steter Kraf meierei aller Akteure so fad ist: Es besteht letztlich aus Putin-Exeg( sen. Oder Mutmaßungen. Denn oft äußert sich der Präsident nicl oder nicht sofort. Man wartet dann auf seinen Auftritt. Und sei es d( in der jährlichen, vielstündigen Frage-und-Antwort-Fernsehshow, i der sich Putin einem ausgewählten Teil des Volkes stellt.

Im russischen Alltag ist Putin längst nicht so sichtbar, wie es seine zeit Stalin war oder wie es Lenin in Form von Straßennamen und Den] mälern immer noch ist. Ausgerechnet Tschetschenien bietet das erst Beispiel dafür, wie Putin ins Stadtbild einziehen kann. Um die Teilrepi blik führte Moskau in jüngerer Zeit zwei blutige Kriege, einen davo unter Putin selbst. Aber seit bald sieben Jahren bildet Grosnyj (I] Avantgarde des Putinismus. Damals benannte Machthaber Ramsan K: dyrow die wichtigste Straße der Hauptstadt, den „Sieges-Prospekt", i „Putin-Prospekt" um. An den Häusern entlang der Straße prangen nu Bilder von Putin (daneben auch von Kadyrow und dessen Vater). Rege mäßig kommen aus Grosnyj theatralische Treueschwüre auf den Fül rer, dafür fließt weiter Geld aus Moskau nach Tschetschenien. Doc auch die Grenzen des Putinismus sind dort zu besichtigen. Bald hintf dem „Putin-Prospekt" und einigen Wolkenkratzern in „Grosnyj Cit) ist die Glitzerwelt zu Ende. Die Spuren des Krieges sind unverkennba an den Häusern und erst recht in den Erzählungen der Menschen. II Misstrauen gegen Russland ist zu spüren. Was, wenn das Geld nicl mehr fließen sollte, fragt man sich. Oder wenn Kadyrows Gewal regime zu Ende gehen sollte. Vielleicht ist Tschetschenien dann imm( noch wegweisend für den Putinismus.

In anderen Teilen Russlands schlägt sich das Führerprinzip diskret( im Straßenbild nieder. Zwar findet man in den Städten viele Händle die Putin-Devotionalien verkaufen, vor allem T-Shirts. Ein besonde verbreitetes Modell zeigt Putin mit Sonnenbrille über dem Schriftzt „Der höflichste der Menschen". Das spielt auf ein russisches Kosewo für die Spezialkräfte des Landes an, die im Frühjahr 2014 die Krim b setzten. Man sieht durchaus Leute, die mit solchen Hemden herumla fen. Aber viele sind es nicht, vor allem gemessen an den regelmäßig ve meldeten Rekordumfragewerten für Putin (beliebt bei 86, 87 oder Prozent). Auch hat derlei Heldenverehrung meist etwas Augenzwi: kerndes. Genauso, wie die Massenveranstaltungen des Kremls etw: Künstliches haben. In Februar zum Beispiel marschierte mittenMoskau der „Antimajdan" auf, eine von Politikern und dem putintreu-en Motorradclub „Nachtwölfe" ins Leben gerufene „Bewegung". Die Veranstaltung wurde nicht nur vielfach beworben: Der „Antimajdan" steht für den Kampf gegen all das, was die Führung und ihre Medien seit Beginn der Proteste in Kiew als Bedrohungen für Russen und Russ¬land propagieren. Es kamen dennoch nur, so die Behörden, 35 000 Menschen. Viele von ihnen wurden dazu von ihren Schulen, Universitä¬ten oder Behörden verpflichtet. Andere erhielten umgerechnet vier Euro für die Teilnahme. Selbst nach der Feier zum Jahrestag der Anne¬xion der Krim, die wie kein zweites Ereignis positiv mit Putin verbun¬den wird, gab es Berichte über gekaufte Teilnehmer.

Solche Mobilisierungspraktiken waren zwar schon zu sowjetischen Zeiten verbreitet. Aber sie lassen doch daran zweifeln, dass der Putinis-mus ein Phänomen ist, das die Massen wirklich begeistert und sie aus der verbreiteten Apathie reißt. Auch der Kreml ist sich der Umfragewer¬te offenkundig nicht sicher: Die Unterdrückung von Putins Gegnern nimmt immer weiter zu, egal wie hoch seine Beliebtheitswerte gerade sein sollen. Als Gradmesser für den Erfolg des Putinismus taugen sie nur bedingt: Was soll man auch antworten, wenn ein Unbekannter an¬ruft und fragt, wie man Putin findet, derweil alle, die den Präsidenten nicht gut finden, im Fernsehen als Verräter diffamiert werden.

Dessen Einfluss ist das wohl durchschlagendste und spürbarste Ele-ment des Putinismus. Das vom Kreml kontrollierte Fernsehen liefert Geschichten, die nach der Maxime erdacht werden, dass sie umso eher geglaubt werden, je furchtbarer sie sind. Wie die Mär von dem angeb¬lich von Ukrainern gekreuzigten Jungen in Slawjansk. Oder die von amerikanischen und polnischen Soldaten auf Seiten der ukrainischen „Faschisten". Oder die gleichzeitig verbreiteten, völlig unterschiedli¬chen Versionen zum Ende von Flug MH17.

Geschichten wie diese mögen dereinst als virtuelle Denkmäler für Putin dienen. Derzeit sind sie seine Machtinstrumente. Sie begegnen ei¬nem im russischen Alltag viel häufiger als Porträts des Präsidenten. Denn sie bleiben in den Köpfen, als Sprach- und Denkschablonen. Die „bewaffnete Machtergreifung" in Kiew. Der „faschistische Putsch". Das schwule Europa, „Gayropa". Die Frage „Wem nutzt es?" Und immer wieder Washington, das an allem schuld sein soll. Mit Präsident Barack Obama, nach dessen Pfeife angeblich ganz Europa tanze, außer Putin natürlich. Die Propaganda spaltet die Russen in Patrioten und Volks¬feinde. Der Riss geht durch Freundeskreise und Familien. Wer als Frem¬der aus dem nunmehr feindlichen Westen zur Mehrheit sprechen will, muss sich oft durch einen Wortschwall aus verbalen Versatzstücken

 

und Vorwürfen kämpfen. Dahinter kann sich dann verbergen, was die Leute wirklich betrifft: schlechte medizinische Versorgung, schlechte Straßen, teurere Lebensmittel.

Die Geschichten über innere und äußere Feinde lenken von diesen Problemen ab — ein altes Prinzip. Wie effektiv es sein kann, zeigt ein Beispiel wiederum aus Grosnyj. Dort erzählte im Frühjahr eine alte Frau, wie sie ihren Mann und ihren Sohn an die Sicherheitskräfte verlo¬ren hatte. Sie waren vor Jahren verschwunden, ihre Leichname nie auf¬getaucht. Die alte Frau war voller Gram. Dann aber wollte sie unbe¬dingt noch selbst eine Frage stellen. Warum denn in Schweden die Kin¬der sich mit sechs Jahren entscheiden müssten, welches Geschlecht sie wollten, sagte sie, entrüstet, aufgebracht. Sie hatte im Fernsehen etwas über „Genderpolitik" in Schweden gesehen.

Nicht nur das Fernsehprogramm, in dem der Westen verflucht und der Überlebenskampf der „russischen Welt" beschworen wird, ist ein Gesicht des Putinismus. Auch seine Macher sind es. Ganz vorne mit da¬bei ist der Sender Lifenews. In Russland ist er stets an der Seite der Si¬cherheitsbehörden, im Donbass an der Seite der Separatisten. Am 27. Januar, dem internationalen Holocaust-Gedenktag, wartete ein großes Presseaufgebot im Moskauer Jüdischen Museum auf einen Auftritt Pu-tins. Die Mitarbeiter von Lifenews vertrieben sich die Zeit damit, auf ihrem Computer frisches Bildmaterial aus Donezk anzusehen: Separa¬tisten, 'die ukrainische Soldaten durch die Stadt treiben lassen. Gleich darauf die Leichen ukrainischer Soldaten, denen offenbar aus nächster Nähe in den Kopf geschossen worden war. Putin schlug in seiner Rede dann einen Bogen von der Befreiung des Konzentrationslagers Ausch-witz zur „heutigen Tragödie im Südosten der Ukraine".

Das Fernsehgesicht des Putinismus kann ein sehr westliches sein. Im Februar, während der Verhandlungen von Minsk, stellte sich ein Funk¬tionär des Staatsfernsehens zu zwei deutschen Journalisten auf eine Zi¬garette vor die Türen des Präsidentenpalastes. Glatt rasiert, feine Schu¬he, schicker Anzug, ein Auftritt nach dem Stil eines Mitglieds der engli¬schen Oberschicht. Es war tief in der Nacht, die Gespräche liefen seit Stunden und würden noch viele weitere laufen. Wer denn mehr von ei¬ner Einigung profitieren werde, Merkel oder Steinmeier, fragte Putins Medienmann in fast akzentfreiem Englisch mit bemüht britischer Fär¬bung. Es gibt viele Berichte über die Vorliebe der Elite für einen westli¬chen Lebensstil. In solchen Momenten werden sie plastisch.



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