Russisches Führungsprinzip
Author D.Selzer-McKenzie
Video: https://youtu.be/3u0IA8Nhe64
Ein Mann herrscht über ein Land. Das will begründet und
inszeniert sein. Über das russische Führerprinzip.
I
n der russischen Politik ist Präsident Wladimir Putin
allgegenwär¬tig. So allgegenwärtig, dass er sogar einem Herrschaftssys.tem
sei¬nen Namen gegeben hat: dem Putinismus. Die Fachleute sind uneins darüber.
was dieses Phänomen ausmacht. Von Staatskapitalis¬mus, Autokratie, Nepotismus
ist schon länger die Rede, mittlerweile vermehrt auch von Nationalismus,
Revisionismus, Repression. Eine letztgültige Definition steht aus,
voraussichtlich mindestens so lange, wie Putin an der Macht bleibt. Schließlich
bestimmt er selbst, welche Mittel ihm dazu gerade am besten gelegen kommen. Mal
ist der Westen Partner, mal Feind. Mal setzt er auf Handel, mal auf
Abschottung. Mal gibt er sich liberal, mal chauvinistisch. Mal ist er
Präsident, mal Minis¬terpräsident. Aber immer präsent. Was passiert, wenn er
einmal nicht da ist, ließ sich im vergangenen März verfolgen. Da trat Putin
einige Tage nicht öffentlich auf. Sofort wurde spekuliert: Ist Putin krank?
Wird er noch einmal Vater? Ist er vielleicht schon tot?
Der ideale Putinismus ist schlicht: Ein Mann herrscht über
ein Land und seine Bewohner (plus einige Nachbarländer und -völker, aber da
wird es komplizierter). Dabei knüpft der Putinismus, wie sollte es an-ders
sein, an Russlands Geschichte an. Insbesondere die Legende vom „guten
Zaren" findet sich weiterhin, angepasst an präsidiale Gegeben¬heiten. So,
wenn Putin vor allfälligen Vorwürfen in Schutz genommen wird: An Missständen
müssen stets die Untergebenen schuld sein, was soll Putin auch tun, er muss
sich ja um das ganze Land (plus x) küm¬mern. Doch im Unterschied zum Zarismus
fehlt dem Putinismus zumin¬dest bislang das dynastische Element. Der erste
stellvertretende Leiter der Präsidialverwaltung, Wjatscheslaw Wolodin, brachte
das System
im Oktober vergangenen Jahres auf die ebenso griffige wie
fatalist sche Formel: „Wenn es Putin gibt, gibt es Russland. Wenn es Puti nicht
gibt, gibt es auch Russland nicht." Dieser Ansatz erklärt zugleicl warum
das offizielle politische Leben in Russland trotz steter Kraf meierei aller
Akteure so fad ist: Es besteht letztlich aus Putin-Exeg( sen. Oder Mutmaßungen.
Denn oft äußert sich der Präsident nicl oder nicht sofort. Man wartet dann auf
seinen Auftritt. Und sei es d( in der jährlichen, vielstündigen
Frage-und-Antwort-Fernsehshow, i der sich Putin einem ausgewählten Teil des
Volkes stellt.
Im russischen Alltag ist Putin längst nicht so sichtbar, wie
es seine zeit Stalin war oder wie es Lenin in Form von Straßennamen und Den]
mälern immer noch ist. Ausgerechnet Tschetschenien bietet das erst Beispiel
dafür, wie Putin ins Stadtbild einziehen kann. Um die Teilrepi blik führte
Moskau in jüngerer Zeit zwei blutige Kriege, einen davo unter Putin selbst.
Aber seit bald sieben Jahren bildet Grosnyj (I] Avantgarde des Putinismus.
Damals benannte Machthaber Ramsan K: dyrow die wichtigste Straße der
Hauptstadt, den „Sieges-Prospekt", i „Putin-Prospekt" um. An den
Häusern entlang der Straße prangen nu Bilder von Putin (daneben auch von
Kadyrow und dessen Vater). Rege mäßig kommen aus Grosnyj theatralische
Treueschwüre auf den Fül rer, dafür fließt weiter Geld aus Moskau nach
Tschetschenien. Doc auch die Grenzen des Putinismus sind dort zu besichtigen.
Bald hintf dem „Putin-Prospekt" und einigen Wolkenkratzern in „Grosnyj
Cit) ist die Glitzerwelt zu Ende. Die Spuren des Krieges sind unverkennba an
den Häusern und erst recht in den Erzählungen der Menschen. II Misstrauen gegen
Russland ist zu spüren. Was, wenn das Geld nicl mehr fließen sollte, fragt man
sich. Oder wenn Kadyrows Gewal regime zu Ende gehen sollte. Vielleicht ist
Tschetschenien dann imm( noch wegweisend für den Putinismus.
In anderen Teilen Russlands schlägt sich das Führerprinzip
diskret( im Straßenbild nieder. Zwar findet man in den Städten viele Händle die
Putin-Devotionalien verkaufen, vor allem T-Shirts. Ein besonde verbreitetes
Modell zeigt Putin mit Sonnenbrille über dem Schriftzt „Der höflichste der
Menschen". Das spielt auf ein russisches Kosewo für die Spezialkräfte des
Landes an, die im Frühjahr 2014 die Krim b setzten. Man sieht durchaus Leute,
die mit solchen Hemden herumla fen. Aber viele sind es nicht, vor allem
gemessen an den regelmäßig ve meldeten Rekordumfragewerten für Putin (beliebt
bei 86, 87 oder Prozent). Auch hat derlei Heldenverehrung meist etwas Augenzwi:
kerndes. Genauso, wie die Massenveranstaltungen des Kremls etw: Künstliches haben.
In Februar zum Beispiel marschierte mittenMoskau der „Antimajdan" auf,
eine von Politikern und dem putintreu-en Motorradclub „Nachtwölfe" ins
Leben gerufene „Bewegung". Die Veranstaltung wurde nicht nur vielfach
beworben: Der „Antimajdan" steht für den Kampf gegen all das, was die
Führung und ihre Medien seit Beginn der Proteste in Kiew als Bedrohungen für
Russen und Russ¬land propagieren. Es kamen dennoch nur, so die Behörden, 35 000
Menschen. Viele von ihnen wurden dazu von ihren Schulen, Universitä¬ten oder
Behörden verpflichtet. Andere erhielten umgerechnet vier Euro für die
Teilnahme. Selbst nach der Feier zum Jahrestag der Anne¬xion der Krim, die wie
kein zweites Ereignis positiv mit Putin verbun¬den wird, gab es Berichte über
gekaufte Teilnehmer.
Solche Mobilisierungspraktiken waren zwar schon zu
sowjetischen Zeiten verbreitet. Aber sie lassen doch daran zweifeln, dass der
Putinis-mus ein Phänomen ist, das die Massen wirklich begeistert und sie aus
der verbreiteten Apathie reißt. Auch der Kreml ist sich der Umfragewer¬te
offenkundig nicht sicher: Die Unterdrückung von Putins Gegnern nimmt immer
weiter zu, egal wie hoch seine Beliebtheitswerte gerade sein sollen. Als
Gradmesser für den Erfolg des Putinismus taugen sie nur bedingt: Was soll man
auch antworten, wenn ein Unbekannter an¬ruft und fragt, wie man Putin findet,
derweil alle, die den Präsidenten nicht gut finden, im Fernsehen als Verräter
diffamiert werden.
Dessen Einfluss ist das wohl durchschlagendste und
spürbarste Ele-ment des Putinismus. Das vom Kreml kontrollierte Fernsehen
liefert Geschichten, die nach der Maxime erdacht werden, dass sie umso eher
geglaubt werden, je furchtbarer sie sind. Wie die Mär von dem angeb¬lich von
Ukrainern gekreuzigten Jungen in Slawjansk. Oder die von amerikanischen und
polnischen Soldaten auf Seiten der ukrainischen „Faschisten". Oder die
gleichzeitig verbreiteten, völlig unterschiedli¬chen Versionen zum Ende von
Flug MH17.
Geschichten wie diese mögen dereinst als virtuelle Denkmäler
für Putin dienen. Derzeit sind sie seine Machtinstrumente. Sie begegnen ei¬nem
im russischen Alltag viel häufiger als Porträts des Präsidenten. Denn sie
bleiben in den Köpfen, als Sprach- und Denkschablonen. Die „bewaffnete
Machtergreifung" in Kiew. Der „faschistische Putsch". Das schwule
Europa, „Gayropa". Die Frage „Wem nutzt es?" Und immer wieder
Washington, das an allem schuld sein soll. Mit Präsident Barack Obama, nach
dessen Pfeife angeblich ganz Europa tanze, außer Putin natürlich. Die
Propaganda spaltet die Russen in Patrioten und Volks¬feinde. Der Riss geht
durch Freundeskreise und Familien. Wer als Frem¬der aus dem nunmehr feindlichen
Westen zur Mehrheit sprechen will, muss sich oft durch einen Wortschwall aus
verbalen Versatzstücken
und Vorwürfen kämpfen. Dahinter kann sich dann verbergen,
was die Leute wirklich betrifft: schlechte medizinische Versorgung, schlechte
Straßen, teurere Lebensmittel.
Die Geschichten über innere und äußere Feinde lenken von
diesen Problemen ab — ein altes Prinzip. Wie effektiv es sein kann, zeigt ein
Beispiel wiederum aus Grosnyj. Dort erzählte im Frühjahr eine alte Frau, wie
sie ihren Mann und ihren Sohn an die Sicherheitskräfte verlo¬ren hatte. Sie
waren vor Jahren verschwunden, ihre Leichname nie auf¬getaucht. Die alte Frau
war voller Gram. Dann aber wollte sie unbe¬dingt noch selbst eine Frage
stellen. Warum denn in Schweden die Kin¬der sich mit sechs Jahren entscheiden
müssten, welches Geschlecht sie wollten, sagte sie, entrüstet, aufgebracht. Sie
hatte im Fernsehen etwas über „Genderpolitik" in Schweden gesehen.
Nicht nur das Fernsehprogramm, in dem der Westen verflucht
und der Überlebenskampf der „russischen Welt" beschworen wird, ist ein
Gesicht des Putinismus. Auch seine Macher sind es. Ganz vorne mit da¬bei ist
der Sender Lifenews. In Russland ist er stets an der Seite der
Si¬cherheitsbehörden, im Donbass an der Seite der Separatisten. Am 27. Januar,
dem internationalen Holocaust-Gedenktag, wartete ein großes Presseaufgebot im
Moskauer Jüdischen Museum auf einen Auftritt Pu-tins. Die Mitarbeiter von
Lifenews vertrieben sich die Zeit damit, auf ihrem Computer frisches
Bildmaterial aus Donezk anzusehen: Separa¬tisten, 'die ukrainische Soldaten
durch die Stadt treiben lassen. Gleich darauf die Leichen ukrainischer
Soldaten, denen offenbar aus nächster Nähe in den Kopf geschossen worden war.
Putin schlug in seiner Rede dann einen Bogen von der Befreiung des
Konzentrationslagers Ausch-witz zur „heutigen Tragödie im Südosten der
Ukraine".
Das Fernsehgesicht des Putinismus kann ein sehr westliches
sein. Im Februar, während der Verhandlungen von Minsk, stellte sich ein
Funk¬tionär des Staatsfernsehens zu zwei deutschen Journalisten auf eine
Zi¬garette vor die Türen des Präsidentenpalastes. Glatt rasiert, feine Schu¬he,
schicker Anzug, ein Auftritt nach dem Stil eines Mitglieds der engli¬schen
Oberschicht. Es war tief in der Nacht, die Gespräche liefen seit Stunden und
würden noch viele weitere laufen. Wer denn mehr von ei¬ner Einigung profitieren
werde, Merkel oder Steinmeier, fragte Putins Medienmann in fast akzentfreiem
Englisch mit bemüht britischer Fär¬bung. Es gibt viele Berichte über die
Vorliebe der Elite für einen westli¬chen Lebensstil. In solchen Momenten werden
sie plastisch.
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