Digitalisierung in den Bergen
Author D.Selzer-McKenzie
Video: http://youtu.be/ydLYAHm4sbM
Technische Modernisierungspro-zesse machen auch vor den
Ber¬gen nicht halt: Im 19. Jahrhundert war es die Eisenbahn, heute ist es die
Digitalisierung, die den Zu¬gang zum Bergraum erleichtert, insbesondere das
Erleben vor Ort aber auch tiefgreifend verändert.
V erändert die Digitalisierung das Bergsteigen, weil sie
selbst
im hintersten Tal und am höchsten Gipfel ständige
Erreich¬barkeit ermöglicht und mit dem Smartphone auch der Stress von zu Hause
mitgenommen wird? Verunmöglicht sie das sinnliche Erleben, weil sie die
SelbStinszenierung fördert
und pittoreske Plätze nur mehr aufgesucht werden, um
„Selfies" zu ma¬chen? Oder trägt sie zur leichteren Zugänglichkeit des
Bergraums bei, er¬leichtert die Tourenplanung und ermöglicht im Fall des
Unfalls eine schnellere Rettung?
Der Zugang zu diesem Thema polarisiert: Entweder wir nützen
die digi¬talen technischen Möglichkeiten so selbstverständlich, dass wir auch
negative Auswirkungen nicht erkennen können. Oder wir hinterfragen
die aktuellen Entwicklungen kritisch, nehmen uns damit aber
die Chance, das Positive daran zu sehen.
Um Distanz zum Thema zu gewinnen, bietet sich der Vergleich
mit einer anderen technischen Inno¬vation an, die ebenso gravierende
Auswirkungen auf das Alltagsleben und auch das Bergerleben hatte wie die
Digitalisierung heute: die Erfindung der Eisenbahn.
Um 1830 wurde die erste Personenlinie in England eingeführt,
und in weiterer Folge breitete sich das Schienennetz in ganz Europa aus. Dies
führte zu einer Temposteigerung ungeahnten Ausmaßes: Im Unterschied zum
Kutschenfahren zischte die Landschaft an den Reisenden nun derart schnell
vorbei, dass Ohn¬machtsanfälle und Ohrensausen die Folge waren. Heinrich Heine
berich¬tete anlässlich der Eröffnung der ersten französischen Eisenbahnlinie
1843 von einem „unheimlichen Grauen, wie wir es empfinden, wenn das
Ungeheuerste geschieht, dessen Folgen unabsehbar sind. (...) Durch die
Datenautobahnen haben den realen Raum
nahezu vollständig „getötet"
Eisenbahn wird der Raum getötet, und es bleibt uns nur noch
die Zeit." Die neue Technologie der Eisenbahn veränderte demnach nicht nur
die Raumwahrnehmung dramatisch, sie hatte auch immense gesellschaftli¬che
Beschleunigungseffekte: Für eine Strecke, für die man früher mit der Kutsche
mehrere Tage benötigte, brauchte man jetzt nur mehr einen Tag, und auch ferne
Kontinente wie Indien wurden nun erreichbar.
Ähnlich verhält es sich mit der Digitalisierung: Die
Datenautobahnen haben den realen Raum nahezu vollständig „getötet" und
führen da-durch zu einer fast schwindelerregenden Beschleunigung der
Kommuni¬kation. Wer glaubt, man könne dadurch Zeit gewinnen, irrt, denn so¬wohl
das Tempo der Handlungen als auch die Zahl derselben erhöht sich dadurch: Wurde
früher ein Brief pro Woche verfasst, so sind es heute zehn Mails pro Tag. Die
Digitalisierung trägt somit zur allgemeinen Stei¬gerung des Lebenstempos bei,
und diese überträgt sich notgedrungen auf den Bergraum: Früher saß man am
Gipfel und aß seine Jause; heute sucht man schöne „Selfie"-Plätze, schießt
Fotos mit der Digi-Kamera, um diese in Blogs oder Foren stellen zu können,
verschickt mit dem Handy SMS, WhatsApp-Nachrichten oder Mails. teilt mit, wo
man ► gerade ist und wann man wieder zurückkommt.
Wer keine Chefs, Kinder oder Partner zu informieren hat, der beschäftigt sich
mit den Messergebnissen des Pulsometers oder versucht, sich mit dem kürzlich
erstandenen „Garmin" anzufreunden. Die neuen Kommunikationsformen sind
keineswegs so individuell, wie man annehmen möchte, denn da die Handymasten zu-
und die Funk¬löcher abnehmen, hat sich auch am Berg der Zwang zur ständi¬gen
Erreichbarkeit erhöht - technikkritisch eingestellte Zeitge¬nossen kann da
schon mal ein „unheimliches Grauen" ergreifen. Doch zurück zur Eisenbahn:
Diese war nicht nur schneller und komfortabler als die Kutsche, sie war auch
billiger und führte zu einer Demokratisierung des Reisens. Die Erschließung der
Alpen mit Eisenbahnlinien und -tunnels war überdies die Vorausset¬zung dafür,
dass das Bergsteigen Ende des 19. Jahrhunderts zu
Früher waren
wichtige Infos zu Tourenbedingungen
Bergführern
oder Hüttenwirten vorbehalten
einer breiten
bürgerlichen Bewegung werden konnte. Mit dem Zug wurden die Ausgangsorte für
Bergtouren leicht und schnell erreichbar, es kamen Wanderer und Bergsteiger in
immer größe¬rer Zahl. Der Alpenverein gab Tourenverzeichnisse heraus, deren
Ausgangspunkte Eisenbahnstationen waren. Ludwig Purtschel-ler, einer der ersten
führerlosen Bergsteiger, schrieb 1894: „Selbst in die entlegensten Alpenthäler
hinein dringt der Pfiff der Loko-motive wie der Weckruf einer neuen Zeit."
Wie einst die
Eisenbahn, erleichtern heute die Neuen Medien und die digitalen Geräte den
Zugang zum Berg. Wie einst der Pfiff der Lokomotive, dringen heute Web und GPS
buchstäblich in die
entlegensten
Winkel vor: Wer beispielsweise ein abgelegenes norditalienisches Klettergebiet
aufsuchen möchte, kann sich den passenden Kletterführer online bestellen und
muss nicht nach der Ankunft erst mal den Ort danach absuchen. Er kann auf
di¬versen Internetseiten recherchieren oder sich eine App herunter-laden, die
jegliche benötigte Information liefert. Falls man ins hochalpine Gelände
möchte, sind Informationen über Wetterent¬wicklung, Schneebeschaffenheit und
Gefahrenzonen - die früher kleinen Eliten wie Bergführern, ortskundigen
Bergsteigern oder Hüttenwirten vorbehalten waren - auf den Homepages alpiner
Vereine, der Bergrettung und von Alpinschulen sofort verfügbar. Wer eine
individuelle Wanderroute im unwegsamen Gelände planen möchte, kann dies
mithilfe eines GPS-Gerätes tun und sich so auch jenseits der ausgetrampelten
Wege orientieren.
Doch nicht nur
der Zugang zu fachspezifischem Wissen, auch die Aufbereitung der Erfahrungen
gestaltet sich mittels sozialer Netzwerke demokratischer und partizipativer:
Waren vor 20 Jah¬ren Spitzenbergsteiger und Journalisten die einzigen, die ihre
Bergerfolge in Special-Interest-Magazinen oder Büchern mittei¬len konnteh, so
steht jetzt jedem die Möglichkeit offen, zu berich¬ten, was sie oder er beim
Klettern, Skitourengehen oder Trekken erlebt hat, und diesen Beitrag mit Bild
und Text interessant zu ge¬stalten. In der Summe werden die Vorstellungen von
dem, was den Bergsport ausmacht, bunter und vielfältiger sowie vorher ge-heime
Insidertipps nun der Allgemeinheit zugänglich gemacht. Doch diese positiven
Möglichkeiten haben auch ihre Kehrseiten: Viele vormals einsame Berge und
Felsen werden durch die Veröf¬fentlichung im Netz plötzlich zu Modegebieten und
verlieren da¬durch viel von ihrem ursprünglichen Charme. Auch die Intimität
kleiner Szenen leidet zuweilen darunter, dass Treffen nicht mehr „face-to-face”,
sondern mittels WhatsApp vereinbart werden. Ebenso steigen mit dem starken
Fokus auf das Visuelle und der leichten Übertragbarkeit der Daten die
Mög¬lichkeiten zur Selbstinszenierung. Die Grenzen, wo die Dokumentation
aufhört und eine narzisstische Selbst-Zurschaustellung beginnt, verschwimmen
oft.
Mit der
Möglichkeit der Information geht auch die Möglichkeit der Fehlinformation
einher, und Probleme entstehen, wenn man sich auf unqualifizierte Informationen
verlässt oder verlässliche Quellen nicht von unverlässlichen unterscheiden
kann, denn das Bergsteigen bleibt trotz Smartphone und GPS eine Risikosportart.
Der richti¬ge Umgang mit den Neuen Medien und digitalen Geräten muss demnach
erlernt wer¬den und setzt eigene Erfahrung und fachspezifisches Wissen voraus.
Auch wenn mittels Handy die Bergrettung heute schneller als früher alarmiert
werden kann, darf das kein Freibrief dafür sein, sich in potenziell gefährliche
Situationen zu begeben. Doch wie man einst die Eisenbahn nicht dafür
verantwortlich machen konnte, dass
Berge waren von
Anfang an niemals nur Gegenwelten,
sondern immer
auch Spiegelbilder der Gesellschaft mit ihr nicht nur versierte Alpinisten,
sondern auch unbedarfte Hochtouristen zu den Bergen kamen, so sollte man auch
die heutigen technischen Möglichkeiten nicht für die fahrlässige oder falsche
Nutzung derselben verurteilen.
Die digitale
Kultur verändert nicht nur die Zugänge zum und das Verhalten am Berg, sondern
auch den Diskurs darüber. Er ist einerseits demokratischer geworden, hat aber
andererseits an Tiefe verloren, was sich am offensichtlichsten bei den
Spitzenbergstei¬gern zeigt: Verfasste Reinhold Messner über fünfzig Bücher und
prägte damit ein zeit¬gemäßes Bild des Bergsteigens, wurde Reinhard Karl durch
seinen besonderen Schreibstil zur Ikone und haben Wolfgang Güllichs Reflexionen
bis heute nichts von ihrer Aktualität verloren, so sind im Gegensatz dazu für
heutige Spitzenbergsteiger nicht Bücher entscheidend, sondern Internetseiten,
Fotos und Videos sowie eine Prä¬senz in den sozialen Netzwerken. Hier liegt der
Fokus auf dem Visuellen, dem Spekta-kulären und dem schnell Mitteilbaren. Da
die Form den Inhalt vorgibt, finden die langsamen Formen des Schreibens,
Reflektierens sowie kritische Kontroversen keinen Platz mehr.
Conclusio: Wie
die Geschichte der Eisenbahn zeigt, war der Zugang zu den Bergen auch früher
bestimmt von gesellschaftlichen Modernisierungsprozessen. Denn die Berge sind
seit den Anfängen des Bergsteigens im 18. Jahrhundert niemals nur Gegenwelten,
sondern immer auch Spiegelbilder der Gesellschaft.
Doch trotz
aller Auswirkungen, welche die digitale Kultur zweifellos auf das Bergstei¬gen
hat, beruht die Praxis des Wanderns, Bergsteigens oder Kletterns primär auf dem
eigenen Wissen und Können, auf der verantwortungsvollen Einschätzung der
eigenen Grenzen und auf der leiblichen, emotionalen und sensuellen Erfahrung.
Wenn man will, findet man auch weiterhin das Ungewisse und das Abenteuer, spürt
man Sonne, Wind und Kälte, genießt den Sonnenaufgang auf einem Berggipfel und
lässt sich da¬von im Innersten ergreifen. Letztlich bestimmen wir selbst, ob
wir die Neuen Medien und die digitalen Geräte nutzen oder nicht, ob wir am
Gipfel ein „Selfie" machen und eine SMS verschicken oder daheim erzählen,
wir seien in einem Funkloch gewesen.
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