Donnerstag, 3. September 2015

Digitalisierung in den Bergen


Digitalisierung in den Bergen

Author D.Selzer-McKenzie

Video: http://youtu.be/ydLYAHm4sbM

Technische Modernisierungspro-zesse machen auch vor den Ber¬gen nicht halt: Im 19. Jahrhundert war es die Eisenbahn, heute ist es die Digitalisierung, die den Zu¬gang zum Bergraum erleichtert, insbesondere das Erleben vor Ort aber auch tiefgreifend verändert.

V erändert die Digitalisierung das Bergsteigen, weil sie selbst

im hintersten Tal und am höchsten Gipfel ständige Erreich¬barkeit ermöglicht und mit dem Smartphone auch der Stress von zu Hause mitgenommen wird? Verunmöglicht sie das sinnliche Erleben, weil sie die SelbStinszenierung fördert

und pittoreske Plätze nur mehr aufgesucht werden, um „Selfies" zu ma¬chen? Oder trägt sie zur leichteren Zugänglichkeit des Bergraums bei, er¬leichtert die Tourenplanung und ermöglicht im Fall des Unfalls eine schnellere Rettung?

Der Zugang zu diesem Thema polarisiert: Entweder wir nützen die digi¬talen technischen Möglichkeiten so selbstverständlich, dass wir auch negative Auswirkungen nicht erkennen können. Oder wir hinterfragen

die aktuellen Entwicklungen kritisch, nehmen uns damit aber die Chance, das Positive daran zu sehen.

Um Distanz zum Thema zu gewinnen, bietet sich der Vergleich mit einer anderen technischen Inno¬vation an, die ebenso gravierende Auswirkungen auf das Alltagsleben und auch das Bergerleben hatte wie die Digitalisierung heute: die Erfindung der Eisenbahn.

Um 1830 wurde die erste Personenlinie in England eingeführt, und in weiterer Folge breitete sich das Schienennetz in ganz Europa aus. Dies führte zu einer Temposteigerung ungeahnten Ausmaßes: Im Unterschied zum Kutschenfahren zischte die Landschaft an den Reisenden nun derart schnell vorbei, dass Ohn¬machtsanfälle und Ohrensausen die Folge waren. Heinrich Heine berich¬tete anlässlich der Eröffnung der ersten französischen Eisenbahnlinie 1843 von einem „unheimlichen Grauen, wie wir es empfinden, wenn das Ungeheuerste geschieht, dessen Folgen unabsehbar sind. (...) Durch die Datenautobahnen haben den realen Raum

nahezu vollständig „getötet"

Eisenbahn wird der Raum getötet, und es bleibt uns nur noch die Zeit." Die neue Technologie der Eisenbahn veränderte demnach nicht nur die Raumwahrnehmung dramatisch, sie hatte auch immense gesellschaftli¬che Beschleunigungseffekte: Für eine Strecke, für die man früher mit der Kutsche mehrere Tage benötigte, brauchte man jetzt nur mehr einen Tag, und auch ferne Kontinente wie Indien wurden nun erreichbar.

Ähnlich verhält es sich mit der Digitalisierung: Die Datenautobahnen haben den realen Raum nahezu vollständig „getötet" und führen da-durch zu einer fast schwindelerregenden Beschleunigung der Kommuni¬kation. Wer glaubt, man könne dadurch Zeit gewinnen, irrt, denn so¬wohl das Tempo der Handlungen als auch die Zahl derselben erhöht sich dadurch: Wurde früher ein Brief pro Woche verfasst, so sind es heute zehn Mails pro Tag. Die Digitalisierung trägt somit zur allgemeinen Stei¬gerung des Lebenstempos bei, und diese überträgt sich notgedrungen auf den Bergraum: Früher saß man am Gipfel und aß seine Jause; heute sucht man schöne „Selfie"-Plätze, schießt Fotos mit der Digi-Kamera, um diese in Blogs oder Foren stellen zu können, verschickt mit dem Handy SMS, WhatsApp-Nachrichten oder Mails. teilt mit, wo man gerade ist und wann man wieder zurückkommt. Wer keine Chefs, Kinder oder Partner zu informieren hat, der beschäftigt sich mit den Messergebnissen des Pulsometers oder versucht, sich mit dem kürzlich erstandenen „Garmin" anzufreunden. Die neuen Kommunikationsformen sind keineswegs so individuell, wie man annehmen möchte, denn da die Handymasten zu- und die Funk¬löcher abnehmen, hat sich auch am Berg der Zwang zur ständi¬gen Erreichbarkeit erhöht - technikkritisch eingestellte Zeitge¬nossen kann da schon mal ein „unheimliches Grauen" ergreifen. Doch zurück zur Eisenbahn: Diese war nicht nur schneller und komfortabler als die Kutsche, sie war auch billiger und führte zu einer Demokratisierung des Reisens. Die Erschließung der Alpen mit Eisenbahnlinien und -tunnels war überdies die Vorausset¬zung dafür, dass das Bergsteigen Ende des 19. Jahrhunderts zu

Früher waren wichtige Infos zu Tourenbedingungen

Bergführern oder Hüttenwirten vorbehalten

einer breiten bürgerlichen Bewegung werden konnte. Mit dem Zug wurden die Ausgangsorte für Bergtouren leicht und schnell erreichbar, es kamen Wanderer und Bergsteiger in immer größe¬rer Zahl. Der Alpenverein gab Tourenverzeichnisse heraus, deren Ausgangspunkte Eisenbahnstationen waren. Ludwig Purtschel-ler, einer der ersten führerlosen Bergsteiger, schrieb 1894: „Selbst in die entlegensten Alpenthäler hinein dringt der Pfiff der Loko-motive wie der Weckruf einer neuen Zeit."

Wie einst die Eisenbahn, erleichtern heute die Neuen Medien und die digitalen Geräte den Zugang zum Berg. Wie einst der Pfiff der Lokomotive, dringen heute Web und GPS buchstäblich in die

 

entlegensten Winkel vor: Wer beispielsweise ein abgelegenes norditalienisches Klettergebiet aufsuchen möchte, kann sich den passenden Kletterführer online bestellen und muss nicht nach der Ankunft erst mal den Ort danach absuchen. Er kann auf di¬versen Internetseiten recherchieren oder sich eine App herunter-laden, die jegliche benötigte Information liefert. Falls man ins hochalpine Gelände möchte, sind Informationen über Wetterent¬wicklung, Schneebeschaffenheit und Gefahrenzonen - die früher kleinen Eliten wie Bergführern, ortskundigen Bergsteigern oder Hüttenwirten vorbehalten waren - auf den Homepages alpiner Vereine, der Bergrettung und von Alpinschulen sofort verfügbar. Wer eine individuelle Wanderroute im unwegsamen Gelände planen möchte, kann dies mithilfe eines GPS-Gerätes tun und sich so auch jenseits der ausgetrampelten Wege orientieren.

Doch nicht nur der Zugang zu fachspezifischem Wissen, auch die Aufbereitung der Erfahrungen gestaltet sich mittels sozialer Netzwerke demokratischer und partizipativer: Waren vor 20 Jah¬ren Spitzenbergsteiger und Journalisten die einzigen, die ihre Bergerfolge in Special-Interest-Magazinen oder Büchern mittei¬len konnteh, so steht jetzt jedem die Möglichkeit offen, zu berich¬ten, was sie oder er beim Klettern, Skitourengehen oder Trekken erlebt hat, und diesen Beitrag mit Bild und Text interessant zu ge¬stalten. In der Summe werden die Vorstellungen von dem, was den Bergsport ausmacht, bunter und vielfältiger sowie vorher ge-heime Insidertipps nun der Allgemeinheit zugänglich gemacht. Doch diese positiven Möglichkeiten haben auch ihre Kehrseiten: Viele vormals einsame Berge und Felsen werden durch die Veröf¬fentlichung im Netz plötzlich zu Modegebieten und verlieren da¬durch viel von ihrem ursprünglichen Charme. Auch die Intimität kleiner Szenen leidet zuweilen darunter, dass Treffen nicht mehr „face-to-face”, sondern mittels WhatsApp vereinbart werden. Ebenso steigen mit dem starken Fokus auf das Visuelle und der leichten Übertragbarkeit der Daten die Mög¬lichkeiten zur Selbstinszenierung. Die Grenzen, wo die Dokumentation aufhört und eine narzisstische Selbst-Zurschaustellung beginnt, verschwimmen oft.

Mit der Möglichkeit der Information geht auch die Möglichkeit der Fehlinformation einher, und Probleme entstehen, wenn man sich auf unqualifizierte Informationen verlässt oder verlässliche Quellen nicht von unverlässlichen unterscheiden kann, denn das Bergsteigen bleibt trotz Smartphone und GPS eine Risikosportart. Der richti¬ge Umgang mit den Neuen Medien und digitalen Geräten muss demnach erlernt wer¬den und setzt eigene Erfahrung und fachspezifisches Wissen voraus. Auch wenn mittels Handy die Bergrettung heute schneller als früher alarmiert werden kann, darf das kein Freibrief dafür sein, sich in potenziell gefährliche Situationen zu begeben. Doch wie man einst die Eisenbahn nicht dafür verantwortlich machen konnte, dass

Berge waren von Anfang an niemals nur Gegenwelten,

sondern immer auch Spiegelbilder der Gesellschaft mit ihr nicht nur versierte Alpinisten, sondern auch unbedarfte Hochtouristen zu den Bergen kamen, so sollte man auch die heutigen technischen Möglichkeiten nicht für die fahrlässige oder falsche Nutzung derselben verurteilen.

Die digitale Kultur verändert nicht nur die Zugänge zum und das Verhalten am Berg, sondern auch den Diskurs darüber. Er ist einerseits demokratischer geworden, hat aber andererseits an Tiefe verloren, was sich am offensichtlichsten bei den Spitzenbergstei¬gern zeigt: Verfasste Reinhold Messner über fünfzig Bücher und prägte damit ein zeit¬gemäßes Bild des Bergsteigens, wurde Reinhard Karl durch seinen besonderen Schreibstil zur Ikone und haben Wolfgang Güllichs Reflexionen bis heute nichts von ihrer Aktualität verloren, so sind im Gegensatz dazu für heutige Spitzenbergsteiger nicht Bücher entscheidend, sondern Internetseiten, Fotos und Videos sowie eine Prä¬senz in den sozialen Netzwerken. Hier liegt der Fokus auf dem Visuellen, dem Spekta-kulären und dem schnell Mitteilbaren. Da die Form den Inhalt vorgibt, finden die langsamen Formen des Schreibens, Reflektierens sowie kritische Kontroversen keinen Platz mehr.

Conclusio: Wie die Geschichte der Eisenbahn zeigt, war der Zugang zu den Bergen auch früher bestimmt von gesellschaftlichen Modernisierungsprozessen. Denn die Berge sind seit den Anfängen des Bergsteigens im 18. Jahrhundert niemals nur Gegenwelten, sondern immer auch Spiegelbilder der Gesellschaft.

Doch trotz aller Auswirkungen, welche die digitale Kultur zweifellos auf das Bergstei¬gen hat, beruht die Praxis des Wanderns, Bergsteigens oder Kletterns primär auf dem eigenen Wissen und Können, auf der verantwortungsvollen Einschätzung der eigenen Grenzen und auf der leiblichen, emotionalen und sensuellen Erfahrung. Wenn man will, findet man auch weiterhin das Ungewisse und das Abenteuer, spürt man Sonne, Wind und Kälte, genießt den Sonnenaufgang auf einem Berggipfel und lässt sich da¬von im Innersten ergreifen. Letztlich bestimmen wir selbst, ob wir die Neuen Medien und die digitalen Geräte nutzen oder nicht, ob wir am Gipfel ein „Selfie" machen und eine SMS verschicken oder daheim erzählen, wir seien in einem Funkloch gewesen.

 

 




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