Ostseeinsel Hiddensee
Author D.Selzer-McKenzie
Video: https://youtu.be/vhlFMW3Va9c
Wildschön im Sommer wie im Winter:
Die stille Perle
der Ostsee
Die Insel Hiddensee bot früher Künstlern und Schriftstellern
eine Auszeit. Wer heute an den Stränden und in der Dünenheide spaziert, fühlt
sich weit weg vom Rest der Welt.
Ostsee-Idylle:
Im Ort Kloster gibt es, wie überall auf Hiddensee, keine Autos.
4 Am Abend,
wenn die Insel zur Ruhe kommt, ist sie am schönsten. Wenn die letzte Fähre nach
Rügen abgelegt und alle Tagesbesucher wieder mitgenommen hat. Wenn die großen
Strand-korbbesitzer und die kleinen Sandburgenbauer, die sich gegen den Wind
stemmenden Radfahrer und die über die Salzwiesen ziehenden Wanderer in ihren
Ferienwohnungen verschwinden. Man muss genau dann unterwegs sein auf Hiddensee.
Man könnte durch die violett blühende Heide ziehen wie Falk Majewski. Der
Schäfer ermuntert 400 rauhwollige Pommersche zur Landschafts¬pflege. „Nur wenn
die Heide beweidet wird, ver¬jüngt sie sich auch - und wir haben hier eine der
letzten größten Dünenheiden an der Ostsee¬küste", sagt er.
Man könnte aber auch wie die anderen Einge¬weihten in die
Seebühne pilgern, wo Karl Huck und sein Team im winzigen Figurentheater die
Puppen tanzen lassen, immer eine Stunde lang, jedes Mal ein kleines
Meisterwerk. Oder man könnte sich ins Zeltkino verirren, in dem die Tradition
der Hiddenseer Kinosommer mit am-bitioniertem Programm fortgesetzt wird, und wo
man auch den Inselfilmklassiker „Lütt Matten und die weiße
Muschel" zu sehen bekommt. An der Kasse steht Betreiber Jörg Mehrwald, der
oh¬ne Punkt und Komma von den „positiv Verrück¬ten" erzählt, die auf der
Insel gestrandet sind, zu denen er selbst sicherlich auch zählt. Das
Insel¬original „Gurke" fällt ebenfalls in diese Kategorie. Tagsüber hat
der frühere Barkeeper inzwischen den Hut des Kurkartenkontrolleurs auf. Abends
aber, wenn man den letzten Hippie von Hidden-see auf ein Bier einlädt, erzählt
der 61-Jährige, wie er als „subversives Element" in der umzäun¬ten DDR in
den Knast geschickt wurde und spä¬ter, wie so viele Aussteiger und
Andersdenkende, hier einen Platz zum Atmen fand.
Beruhigend für Reisende
Am besten aber spaziert man mit Sand zwischen den Zehen,
Salz auf den Lippen und der Röte des Sonnenuntergangs auf den Wangen am Strand entlang.
Viele Kilometer sollte man gehen, so weit die Füße tragen, weil die Ostsee dann
in der Dämmerung plötzlich silbrig zu schimmern be-
ginnt wie flüssiges Blei. Für ähnlich gute Aus-und
Einsichten kann man auch an Brombeeren, Schlehen und knorrigen Kiefern vorbei
hinauf auf den Dornbusch marschieren: Dort steht der Leuchtturm, der über der
Steilküste auch diese Nacht wieder verlässlich gen Ostsee blinken wird. Hier
wie dort wirkt Hiddensee dann als Beruhi-gungsmittel für Reisende, die aus
einer Welt kommen, in der es laut und hektisch zugeht. Auf Hiddensee hüten sie
die Ruhe wie einen Schatz. Bollerwagen und Pferdekutschen statt Privatautos,
kein Lärm, bloß keine Hektik: Das ist das Urlaubsprogramm auf der knapp 18
Qua-dratkilometer großen Insel. Fast alle der knapp 1000 Einwohner leben heute
auf die eine oder andere Weise vom Tourismus: Es gibt inzwi¬schen 3500
Gästebetten. Selbst die Kinder sam¬meln im Herbst den Sanddorn von den
Sträu¬chern, weil sich mit dem vitaminreichen herber Saft ein recht gutes
Taschengeld verdienen lässt Sogar Bürgermeister Thomas Gens macht seiner Job
ehrenamtlich: Im Hauptberuf arbeitet er au-einem Kutter im Hafen von Kloster,
dem char¬mantesten Ort der Insel. Heute hat er Hering
Dorsch und Flunder im Angebot. „Jeden Tag um 11.30 Uhr geht
der Ofen auf. Dann gibt es eine Schlange - ein paar Stunden später ist alles
weg." Heute rühmen die Bewohner der Insel ihre Hei-mat als „dat säte
Länneken", das süße Ländchen. Früher hatten sie indes kein Auge für dessen
wil¬de Schönheit. Der Wald war im Dreißigjährigen Krieg abgefackelt worden. Der
karge, sandige Boden gab kaum etwas her, und das wenige, das wuchs, wurde oft
durch Stürme vernichtet. So hatten die Menschen nur als Fischer ein Aus¬kommen,
und manch ein Junge verließ die Insel und fuhr zur See.
Seit 100 Jahren landen Gäste direkt an
Auch als in Heiligendamm, im ältesten, 1793 ge-gründeten
deutschen Seebad, und etwas später entlang der Bernsteinküste auf Rügen der
Touris-mus in Schwung kam, schlummerte Hiddensee weiter im Dornröschenschlaf
Auf dem Inselchen gab es weder eine Promenade zum Flanieren noch ein Casino zum
Amüsieren, und nur einfa¬che Unterkünfte statt wie anderswo prächtige
Logierhäuser im Villenstil der Bäderarchitektur. Auch die Reise nach Hiddensee
war lange eine Odyssee, denn erst vor etwa hundert Jahren wur¬den in den Orten
Neuendorf und Vitte die ersten Landungsbrücken für Dampfer und Motorboote
gebaut. Zuvor musste man sich vom Tourenschiff in einem Ruderboot abholen
lassen und dann von der Fährinsel zu Fuß durchs flache Wasser nach Hiddensee
waten - die Damen wurden, wenn sie hübsch und leicht waren, getragen.
In der Abgeschiedenheit einer vom Weltengetöse unberührten
Insel zu wohnen, zu arbeiten und mit Freunden Feste zu feiern: Solch ein Leben
faszinierte den Poeten Gerhart Hauptmann. 1885 kam er zum ersten Mal nach
Hiddensee und ver-
fasste sogleich das Gedicht „Mondscheinlerche". Wer
durch die Lektüre seiner Zeilen in einer war¬men Sommernacht Mondschein auf
Wiesen und Feldern schillern sieht und sanfte Wellen auf dem weißen Dünensand,
wer die Lerche trillern hört und das Meer posaunen, der möchte die Idylle
gleich selbst erleben. „Eins der lieblichsten Eilande" sei Hiddensee, ließ
er einen Freund wis¬sen. „Nur stille, stille, dass es nicht etwa ein Welt¬bad
werde." Das wurde es nicht, doch die Intelli¬genzija des frühen 20.
Jahrhunderts war regel¬mäßig hier zu Gast.
Die Schriftsteller Thomas Mann, Joachim Ringel-natz und Hans
Fallada kamen. Erich Heckel und Otto Mueller von der Künstlergruppe
„Brücke" malten die Insel. Dazu gesellten sich Wissen¬schaftler wie Albert
Einstein oder die Puppen- macherin Käthe Kruse. Später zog die Stumm¬film-Ikone
Asta Nielsen hierher: Ihr Haus und die Residenz von Gerhart Hauptmann sind
heute Museen. Der Literaturnobelpreisträger schätzte die Insel derart, dass er
hier begraben werden wollte, und auch in seinem literarischen Werk ist
Hiddensee verewigt. Im Drama „Gabriel Schillings Flucht" möchte die
Protagonistin Lucie Heil um dessen Flair allerdings ein Geheimnis machen: „Es
wäre gar nicht gut, wenn die Insel bekannt würde; dann käme erst mal das ganze
Großstadtgewimmel darüber hereingebrochen, dann wär's mit ihrer Schönheit wohl
aus." Diese Prophezeiung hat sich bislang nicht bewahrheitet. Am Abend,
wenn die Insel zur Ruhe kommt, ist sie immer noch wild¬schön wie vor hundert
Jahren.
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