Was ist Schizophrenie?
Author D.Selzer-McKenzie
Video: http://youtu.be/ORI9Y_aJYag
mAnfang waren es nur ein paar kurze Halluzinationen. Nacht
für Nacht wachte Maria K. auf und sah, dass die Rollladen an ihrem Fenster, wie
von Geis¬terhand bewegt, auf- und zugingen. Das sei nur der Stress, meinte ihr
Freund. Auch ihre Kopfschmerzen, ihre ungewohnten Launen und ihre
Ori-entierungsstörungen schoben die beiden auf die harte 50-Stunden-Woche, die
sie im Betrieb zu leisten hatte. Bis Maria zwei Monate später in der Firma mit
ei¬nem epileptischen Anfall unter dem Tisch zusammenbrach. Das war im Janu¬ar
2009.
Danach klafft im Gedächtnis der jun¬gen Frau ein schwarzes
Loch. Von ihren Psychiatrieaufenthalten als angeblich Schizophreniekranke in
Rottweil, Ulm, Ravensburg und Tübingen sind in ihrem Kopf nur noch Bruchstücke
vorhanden. Die Tobsuchtsanfälle und die damit ver-bundenen Zwangsfixierungen
kennt sie nur aus Erzählungen. Dumpf ist auch nur die Erinnerung an die
zahlreichen Psychopharmaka, die sie schlucken muss¬te, und an die
Halluzinationen, bei de¬nen sich die Menschen um sie herum auf¬zulösen
schienen.
Nachdenklich beim Anblick der Frau Anfang 3o, die mit einem
eingefrorenen LäCheln, wie zur Wachsfigur erstarrt, vor ihnen saß, wurden erst
die Ärzte an der Univ9rsitätsklinik Freiburg. „Die An¬fälle, das Verhalten, die
Diagnose - das alles wollte nicht so richtig zusammenpas¬sen", erinnert
sich Ludger Tebartz van Elst, einer ihrer damaligen Ärzte. Eine
Spezialuntersuchung ihrer Hirnflüssig¬keit in Großbritannien brachte es
schlie߬lich an den Tag: Maria K. war gar nicht schizophren. Sie hatte ein
körperliches Leiden. Antikörper des eigenen Immun¬systems hatten in ihrem Kopf
sogenann¬te NMDA-Botenstoff-Rezeptoren atta¬ckiert, dadurch eine Gehirnentzündung
ausgelöst und die Nervenzellen der Pa¬tientin verrückt spielen lassen. Dank
Blutwäsche und der Einnahme von Korn-sonpräparaten lebt sie heute wieder ein
einigermaßen normales Leben.
Das sei kein Einzelfall, sagt der Neuro¬loge Harald Prüß, in
dessen Berliner Charit-Ambulanz immer wieder solche angeblichen
Schizophreniekranken, Hys¬teriepatienten oder Drogenpsychotiker auftauchen, die
sich bei näherem Hinse¬hen als Autoimmunkranke entpuppen. In einer Studie in
der Fachzeitung Jama Psychiatry berichteten Wissenschaftler der
Universitätsklinik Magdeburg vor zwei Jahren, sie hätten in einer Stichpro¬be
von 120 neu diagnostizierten Schizo-phreniepatienten bei jedem zehnten
der¬artige NMDA-Rezeptor-Antikörper ge-
funden. „Und wir entdecken alle paar Monate einen neuen
Antikörper, der ähn¬liche Symptome auslöst", sagt Prüß. Un¬ter den
schätzungsweise 700 000 dia¬gnostizierten Schizophreniekranken in Deutschland
sieht der Neurologe noch viele solcher unentdeckten Fälle schlum¬mern; auf ein
bis zwei Prozent schätzt er ihren Anteil. Vergangene Woche berich¬teten Prüß
und seine Koautoren vom Berliner Leibniz-Iiigtitut für Zoo- und
Wildtierforschung und dem Berliner Zoo in Nature Scientific Reports, dass sie
die verdächtigen Antikörper nun erst¬mals auch bei einem Tier gefunden hät¬ten
(siehe „Knut, das war nicht nötig").
Wenn die Diagnose Schizophrenie ein¬mal gestellt ist, wird
sie bislang nur sehr selten hinterfragt. „Stattdessen ruht man sich gern darauf
aus", sagt Prüß. „Man braucht heutzutage schon etwas sehr, sehr
Handfestes, bevor man so einem Pa¬tienten abnimmt, dass sein Problem nicht rein
psychischer Natur ist." In Frei¬burg und Berlin bietet man inzwischen
al¬len psychotischen Patienten Antikörper¬tests an. Aber das ist noch die
Ausnahme.
Auch in manchen anderen Fällen ist die Diagnose
Schizophrenie unzuverläs¬sig. Wahnsymptome oder akustische Hal-
Seine Mutter hatte ihn verstoßen, ein Pfleger zog ihn auf.
Eisbär Knut avan¬cierte zum Star des Berliner Zoos. Als er im März zott nach
einem epilepti¬schen Anfall ertrank, war die ganze Welt erschüttert. Vier Jahre
lang hat man in Gewebeproben nach der To-desursache gesucht. Krankheitserre¬ger
wurden nicht gefunden, nun steht fest: Knut war das Opfer einer
„Anti-NMDA-Rezeptor-Enzephalitis", bei der das Immunsystem das Gehirn
an¬greift. Sie wurde bislang nur beim Menschen diagnostiziert. Es wird
ver¬mutet, dass etliche Schizophrenie-Patienten darunter leiden.
Kortisonpräparate können sie heilen. echt
luzinationen können beispielsweise ge¬nauso gut eine Folge
der erblichen Stoff-wechselerkrankung Morbus Niemann-Pick Typ C sein. Oder von
einem epilep¬tischen Anfall, einem Hirntumor oder ei¬ner Hirnentzündung
hervorgerufen wer-den. Jedes dieser Symptome reicht für sich genommen schon
aus, um einem Pa¬tienten eine Schizophrenie zu attestie¬ren. Das schließt auch
das Hören von Stimmen ein. Jeder siebte gesunde Euro¬päer kennt dieses Phänomen
aus eigener Erfahrung, hat der niederländische Psychiater und Epidemiologe Jan
van Os von der Universität Maastricht ermittelt.
Der Freiburger Ludger Tebartz van Elst, einer der Leiter des
Referats Neuro-psychiatrie bei der psychiatrischen Fach¬gesellschaft DGPPN,
fordert inzwischen sogar, das schwammige Krankheitskon¬zept der Schizophrenie
gleich ganz abzu-schaffen. Schizophrenie sei eigentlich nur ein Sammelbegriff
für eine bunte Mixtur ganz verschiedener Syndrome, die in der Regel völlig
verschiedene Ursa¬chen hätten. „Das Konzept nützt weder Ärzten noch
Patienten", sagt Tebartz van Elst. Die Betroffenen würden nur unnö¬tig stigmatisiert
und die Forscher vergeb¬lich nach neuen Heilmethoden für einen bunten Haufen
von Auffälligkeiten su¬chen, die nur begrifflich unter einen Hut zu bringen
sind. „Kein Wunder, dass wir wissenschaftlich so grandios er-folglos
sind", sagt der Mediziner.
Das gilt nicht nur für die Schizophre¬nie. Auch an der
Einheitlichkeit anderer
psychiatrischer Krankheitsbilder wie der
Depression oder der bipolaren Störung regen sich Zweifel.
Denn moderne Un-
tersuchungsverfahren wie Gensequenzie-
rungen und die bunten Bilder von PET-und MRT-Untersuchungen
enthüllen
hier plötzlich ganz unerwartete Ähnlich-
keiten. „Viele genetische Faktoren, die ge¬häuft bei
Depressionskranken zu finden
sind, scheinen zum Beispiel auch bei der
Entstehung von Autismus, Schizophre¬nie und dem
Aufinerksamkeitsdefizitsyn-
drom eine Rolle zu spielen", sagt Markus
Nöthen, Direktor der Humangenetik der Universitätsklinik
Bonn. Auch auf
den Hirnscans zeigt sich, dass die Tren-
nungslinien zwischen den verschiedenen Krankheiten nicht
immer sauber gesetzt
sind. Die Aktivitäts- und Abbaumuster sind hier häufig nur
schwer auseinander¬zuhalten, während sich einzelne Schizo-phreniepatienten
erstaunlich voneinan¬der unterscheiden können.
Ernüchternd ist.aber vor allem die Er¬folgsbilanz beim Thema
Therapie. Die
meisten psychiatrischen Behandlungsme-
thoden, sagt Sarah Morris vom staatli¬chen
Forschungsinstitut National Insti-
tute of Mental Health in den Vereinigten
Staaten, versagten bei der Hälfte der Pa¬tienten: „Das
zeigt, dass wir irgendetwas
grundsätzlich falsch machen müssen."
„Der Patient hat Besseres verdient", sagt ihr Chef Tom
Insel. Er will nicht nur die
Schizophrenie, sondern gleich den kom¬pletten bislang
gültigen Krankheitskata¬log der Psychiatrie abschaffen.
Im Gegensatz zu anderen medizini¬schen Fächern, so lautet
jedenfalls seine
Kritik, spiele es bei der Diagnose einer
psychiatrischen Krankheit bisher kaum eine Rolle, welche
Ursachen dahinterste-
cken. „Eine Panikstörung beispielsweise
müsste man eigentlich ähnlich einordnen wie Blindheit oder
Fieber", sagt Andreas
Meyer Lindenberg, Vorstandsvorsitzen-
der des Zentralinstituts für Seelische Ge¬sundheit in
Mannheim. Hinter Fieber
kann sich alles Mögliche verbergen,
Blindheit kann nicht nur die Folge eines Schlaganfalls sein,
sondern auch nach ei-ner Ablösung der Netzhaut oder einer Trübung der Linse
auftreten. Entspre¬chend unterschiedlich muss dann die Be¬handlung sein.
Die gängige Einteilung psychischer Leiden ist vor allem
historisch zu erklä-
ren: Weil sich Psychiater, Psychologen und Psychoanalytiker
einst, nicht daraufPraxis aber nur mit großen Abstrichen. Bei jedem fünften
Patienten steht der Psychiater heutzutage vor dem Problem, dass die an ihm
beobachteten Symptome nicht nur zu einer, sondern mindestens zu zwei weiteren
Erkrankungen passen. Immerhin hat man mit der bisherigen Methode erreicht,
woran man vorher zum eigenen Erschrecken gescheitert war: sicherzustellen, dass
in jedem Kran-kenhaus am selben Patienten einigerma-ßen verlässlich auch
dasselbe diagnosti-ziert wird.
Am National Institute of Mental Health hat sich Tom Insel
vor zwei Jah-ren zu einem besonders radikalen Schritt entschlossen. „Wir haben
uns gefragt: ,Was wäre, wenn wir alle bisherigen Ein¬teilungen über Bord werfen
und ganz von vorn anfangen', erzählt seine Mitar¬beiterin Sarah Morris. Im
Rahmen eines sogenannten Research Domain Criteria Projects, an dem sie selbst
mitwirkt, wer¬den seitdem nicht mehr Schizophrenie, Depression und
Aufmerksamkeitsdefizit-syndrom untersucht, sondern funktionel¬le „Domänen"
wie kognitive Verarbei-tung, positive beziehungsweise negative Emotionen und
soziale Interaktion. „Un¬sere Forscher studieren nicht länger Men¬schen mit dem
Symptom Angst", heißt es auf der Instituts-Website, „sie erfor¬schen
vielmehr den neuronalen Angst-Regelkreis."
Dieser Ansatz beruht auf einer inzwi-schen etablierten
Erkenntnis- Das Ge-hirn ist in Netzwerken organisiert, in de¬nen einzelne
spezialisierte Zentren zu¬sammengeschaltet sind und unter Auf¬sicht eines
übergeordneten Areals ge¬meinsam Aufgaben wie Emotionsregula-tion, kognitive
Planung, Antrieb und Af¬fektkontrolle erledigen. Ist eine der Un¬tereinheiten
oder auch nur die Verbin¬dung in dem Regelkreis gestört, führt das zu ganz
bestimmten Symptomen.
Hört der Patient zum Beispiel Stim-men, spielt
möglicherweise das Sprach-zentrum verrückt, das im Temporallap-pen angesiedelt
ist. Es kann aber genau-so gut sein, dass die dafür zuständige Kontrollinstanz
im Frontalhirn nicht mehr in der Lage ist, Gedachtes und Ge¬hörtes
auseinanderzuhälten. Der Regel¬
kreis kann auch aus dem Takt ge-
raten, wenn er bei einem Gesun-
den von Geburt an besonders emp-
fmdlich ausgelegt ist. „Wer schon beim Konsum von Marihuana
Stimmen hört", sagt Tebartz van Elst, „dessen Ge¬hirn ist wahrscheinlich
einfach besonders nah am Halluzinieren gebaut."
Allerdings sind sich nicht alle Wissen-schaftler einig,
welches die entscheiden-den Regelkreise sind. Am Zentralinsti¬tut für Seelische
Gesundheit in Mann¬heim hat sich dessen Chef Andreas Meyer-Lindenberg noch
einmal neu auf die Suche gemacht. Viele Risikofak- , toren der psychiatrischen
Krankheiten seien bekannt, sagt er. Man kenne in¬zwischen die entsprechenden
Genvari¬anten und wisse, welche Umwelteinflüs¬se besonders gefährlich sind. So
scheinen zum Beispiel Faktoren wie die Geburt in einer städtischen Umgebung,
sexueller Missbrauch oder ein Migrationshinter-grund der Eltern die Entwicklung
einer Schizophrenie zu begünstigen.
Vom kommenden Jahr an wollen die Mannheimer Wissenschaftler
in einem neuen, von Bund und Land geförderten Zentrum für innovative
Psychiatrie- und Psychotherapieforschung gründlicher studieren, was eigentlich
das Gehirn ei¬nes gesunden, in der Stadt geborenen Menschen oder das eines Schizophrenie-Genlfrägers
von dem eines Menschen ohne diese beiden Risikofaktoren unter¬scheidet.
Hirnzentren und neuronale Verbindungen, die bei diesen Untersu-chungen
besonders häufig ins Auge fal-len, müssten, so jedenfalls die Theorie, auch bei
der Entstehung der entsprechen¬den Krankheit und im zugehörigen Re¬gelkreis
eine entscheidende Rolle spie¬len. Gelänge es erst einmal, diese Struk¬turen zu
sogenannten Konvergenzsyste-men zusämmenzufassen, würde man jene Netzwerke
identifizieren können, die bei der Entstehung der Krankheiten die
ent¬scheidende Rolle spielen.
Diese Vision -teilt Meyer-Lindenberg mit seinem
amerikanischen Kollegen Tom Insel: Beide träumen von einer Psychiatrie, die
statt der bisherigen psychiatrischen Krankheiten nur noch Störungen von funktionellen
Regelkrei-sen behandelt, die sie zuvor mit Hilfe von Bildern und Labormessungen
aufge¬spürt hat. Bis es so weit sei, werde es aber noch Jahre, wenn nicht gar
Jahr¬zehnte dauern: Jedes neue System muss erst einmal beweisen, dass es für
den Pa¬tienten therapeutisch einen Fortschritt bedeutet", sagt
Meyer-Lindenberg „Auch die bisherigen Definitionen wur¬den ja nicht
ausgewürfelt - da steckt eine Menge Wissen und Erfahrung drin." Und eben
der ein oder andere Fehler
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