Mittwoch, 2. September 2015

Was ist Schizophrenie?


Was ist Schizophrenie?

Author D.Selzer-McKenzie

Video: http://youtu.be/ORI9Y_aJYag

mAnfang waren es nur ein paar kurze Halluzinationen. Nacht für Nacht wachte Maria K. auf und sah, dass die Rollladen an ihrem Fenster, wie von Geis¬terhand bewegt, auf- und zugingen. Das sei nur der Stress, meinte ihr Freund. Auch ihre Kopfschmerzen, ihre ungewohnten Launen und ihre Ori-entierungsstörungen schoben die beiden auf die harte 50-Stunden-Woche, die sie im Betrieb zu leisten hatte. Bis Maria zwei Monate später in der Firma mit ei¬nem epileptischen Anfall unter dem Tisch zusammenbrach. Das war im Janu¬ar 2009.

Danach klafft im Gedächtnis der jun¬gen Frau ein schwarzes Loch. Von ihren Psychiatrieaufenthalten als angeblich Schizophreniekranke in Rottweil, Ulm, Ravensburg und Tübingen sind in ihrem Kopf nur noch Bruchstücke vorhanden. Die Tobsuchtsanfälle und die damit ver-bundenen Zwangsfixierungen kennt sie nur aus Erzählungen. Dumpf ist auch nur die Erinnerung an die zahlreichen Psychopharmaka, die sie schlucken muss¬te, und an die Halluzinationen, bei de¬nen sich die Menschen um sie herum auf¬zulösen schienen.

Nachdenklich beim Anblick der Frau Anfang 3o, die mit einem eingefrorenen LäCheln, wie zur Wachsfigur erstarrt, vor ihnen saß, wurden erst die Ärzte an der Univ9rsitätsklinik Freiburg. „Die An¬fälle, das Verhalten, die Diagnose - das alles wollte nicht so richtig zusammenpas¬sen", erinnert sich Ludger Tebartz van Elst, einer ihrer damaligen Ärzte. Eine Spezialuntersuchung ihrer Hirnflüssig¬keit in Großbritannien brachte es schlie߬lich an den Tag: Maria K. war gar nicht schizophren. Sie hatte ein körperliches Leiden. Antikörper des eigenen Immun¬systems hatten in ihrem Kopf sogenann¬te NMDA-Botenstoff-Rezeptoren atta¬ckiert, dadurch eine Gehirnentzündung ausgelöst und die Nervenzellen der Pa¬tientin verrückt spielen lassen. Dank Blutwäsche und der Einnahme von Korn-sonpräparaten lebt sie heute wieder ein einigermaßen normales Leben.

Das sei kein Einzelfall, sagt der Neuro¬loge Harald Prüß, in dessen Berliner Charit-Ambulanz immer wieder solche angeblichen Schizophreniekranken, Hys¬teriepatienten oder Drogenpsychotiker auftauchen, die sich bei näherem Hinse¬hen als Autoimmunkranke entpuppen. In einer Studie in der Fachzeitung Jama Psychiatry berichteten Wissenschaftler der Universitätsklinik Magdeburg vor zwei Jahren, sie hätten in einer Stichpro¬be von 120 neu diagnostizierten Schizo-phreniepatienten bei jedem zehnten der¬artige NMDA-Rezeptor-Antikörper ge-

 

funden. „Und wir entdecken alle paar Monate einen neuen Antikörper, der ähn¬liche Symptome auslöst", sagt Prüß. Un¬ter den schätzungsweise 700 000 dia¬gnostizierten Schizophreniekranken in Deutschland sieht der Neurologe noch viele solcher unentdeckten Fälle schlum¬mern; auf ein bis zwei Prozent schätzt er ihren Anteil. Vergangene Woche berich¬teten Prüß und seine Koautoren vom Berliner Leibniz-Iiigtitut für Zoo- und Wildtierforschung und dem Berliner Zoo in Nature Scientific Reports, dass sie die verdächtigen Antikörper nun erst¬mals auch bei einem Tier gefunden hät¬ten (siehe „Knut, das war nicht nötig").

Wenn die Diagnose Schizophrenie ein¬mal gestellt ist, wird sie bislang nur sehr selten hinterfragt. „Stattdessen ruht man sich gern darauf aus", sagt Prüß. „Man braucht heutzutage schon etwas sehr, sehr Handfestes, bevor man so einem Pa¬tienten abnimmt, dass sein Problem nicht rein psychischer Natur ist." In Frei¬burg und Berlin bietet man inzwischen al¬len psychotischen Patienten Antikörper¬tests an. Aber das ist noch die Ausnahme.

Auch in manchen anderen Fällen ist die Diagnose Schizophrenie unzuverläs¬sig. Wahnsymptome oder akustische Hal-

Seine Mutter hatte ihn verstoßen, ein Pfleger zog ihn auf. Eisbär Knut avan¬cierte zum Star des Berliner Zoos. Als er im März zott nach einem epilepti¬schen Anfall ertrank, war die ganze Welt erschüttert. Vier Jahre lang hat man in Gewebeproben nach der To-desursache gesucht. Krankheitserre¬ger wurden nicht gefunden, nun steht fest: Knut war das Opfer einer „Anti-NMDA-Rezeptor-Enzephalitis", bei der das Immunsystem das Gehirn an¬greift. Sie wurde bislang nur beim Menschen diagnostiziert. Es wird ver¬mutet, dass etliche Schizophrenie-Patienten darunter leiden. Kortisonpräparate können sie heilen.           echt

 

luzinationen können beispielsweise ge¬nauso gut eine Folge der erblichen Stoff-wechselerkrankung Morbus Niemann-Pick Typ C sein. Oder von einem epilep¬tischen Anfall, einem Hirntumor oder ei¬ner Hirnentzündung hervorgerufen wer-den. Jedes dieser Symptome reicht für sich genommen schon aus, um einem Pa¬tienten eine Schizophrenie zu attestie¬ren. Das schließt auch das Hören von Stimmen ein. Jeder siebte gesunde Euro¬päer kennt dieses Phänomen aus eigener Erfahrung, hat der niederländische Psychiater und Epidemiologe Jan van Os von der Universität Maastricht ermittelt.

Der Freiburger Ludger Tebartz van Elst, einer der Leiter des Referats Neuro-psychiatrie bei der psychiatrischen Fach¬gesellschaft DGPPN, fordert inzwischen sogar, das schwammige Krankheitskon¬zept der Schizophrenie gleich ganz abzu-schaffen. Schizophrenie sei eigentlich nur ein Sammelbegriff für eine bunte Mixtur ganz verschiedener Syndrome, die in der Regel völlig verschiedene Ursa¬chen hätten. „Das Konzept nützt weder Ärzten noch Patienten", sagt Tebartz van Elst. Die Betroffenen würden nur unnö¬tig stigmatisiert und die Forscher vergeb¬lich nach neuen Heilmethoden für einen bunten Haufen von Auffälligkeiten su¬chen, die nur begrifflich unter einen Hut zu bringen sind. „Kein Wunder, dass wir wissenschaftlich so grandios er-folglos sind", sagt der Mediziner.

Das gilt nicht nur für die Schizophre¬nie. Auch an der Einheitlichkeit anderer

psychiatrischer Krankheitsbilder wie der

Depression oder der bipolaren Störung regen sich Zweifel. Denn moderne Un-

tersuchungsverfahren wie Gensequenzie-

rungen und die bunten Bilder von PET-und MRT-Untersuchungen enthüllen

hier plötzlich ganz unerwartete Ähnlich-

keiten. „Viele genetische Faktoren, die ge¬häuft bei Depressionskranken zu finden

sind, scheinen zum Beispiel auch bei der

Entstehung von Autismus, Schizophre¬nie und dem Aufinerksamkeitsdefizitsyn-

drom eine Rolle zu spielen", sagt Markus

Nöthen, Direktor der Humangenetik der Universitätsklinik Bonn. Auch auf

den Hirnscans zeigt sich, dass die Tren-

nungslinien zwischen den verschiedenen Krankheiten nicht immer sauber gesetzt

sind. Die Aktivitäts- und Abbaumuster sind hier häufig nur schwer auseinander¬zuhalten, während sich einzelne Schizo-phreniepatienten erstaunlich voneinan¬der unterscheiden können.

Ernüchternd ist.aber vor allem die Er¬folgsbilanz beim Thema Therapie. Die

meisten psychiatrischen Behandlungsme-

thoden, sagt Sarah Morris vom staatli¬chen Forschungsinstitut National Insti-

tute of Mental Health in den Vereinigten

Staaten, versagten bei der Hälfte der Pa¬tienten: „Das zeigt, dass wir irgendetwas

grundsätzlich falsch machen müssen."

„Der Patient hat Besseres verdient", sagt ihr Chef Tom Insel. Er will nicht nur die

Schizophrenie, sondern gleich den kom¬pletten bislang gültigen Krankheitskata¬log der Psychiatrie abschaffen.

Im Gegensatz zu anderen medizini¬schen Fächern, so lautet jedenfalls seine

Kritik, spiele es bei der Diagnose einer

psychiatrischen Krankheit bisher kaum eine Rolle, welche Ursachen dahinterste-

cken. „Eine Panikstörung beispielsweise

müsste man eigentlich ähnlich einordnen wie Blindheit oder Fieber", sagt Andreas

Meyer Lindenberg, Vorstandsvorsitzen-

der des Zentralinstituts für Seelische Ge¬sundheit in Mannheim. Hinter Fieber

kann sich alles Mögliche verbergen,

Blindheit kann nicht nur die Folge eines Schlaganfalls sein, sondern auch nach ei-ner Ablösung der Netzhaut oder einer Trübung der Linse auftreten. Entspre¬chend unterschiedlich muss dann die Be¬handlung sein.

Die gängige Einteilung psychischer Leiden ist vor allem historisch zu erklä-

ren: Weil sich Psychiater, Psychologen und Psychoanalytiker einst, nicht daraufPraxis aber nur mit großen Abstrichen. Bei jedem fünften Patienten steht der Psychiater heutzutage vor dem Problem, dass die an ihm beobachteten Symptome nicht nur zu einer, sondern mindestens zu zwei weiteren Erkrankungen passen. Immerhin hat man mit der bisherigen Methode erreicht, woran man vorher zum eigenen Erschrecken gescheitert war: sicherzustellen, dass in jedem Kran-kenhaus am selben Patienten einigerma-ßen verlässlich auch dasselbe diagnosti-ziert wird.

Am National Institute of Mental Health hat sich Tom Insel vor zwei Jah-ren zu einem besonders radikalen Schritt entschlossen. „Wir haben uns gefragt: ,Was wäre, wenn wir alle bisherigen Ein¬teilungen über Bord werfen und ganz von vorn anfangen', erzählt seine Mitar¬beiterin Sarah Morris. Im Rahmen eines sogenannten Research Domain Criteria Projects, an dem sie selbst mitwirkt, wer¬den seitdem nicht mehr Schizophrenie, Depression und Aufmerksamkeitsdefizit-syndrom untersucht, sondern funktionel¬le „Domänen" wie kognitive Verarbei-tung, positive beziehungsweise negative Emotionen und soziale Interaktion. „Un¬sere Forscher studieren nicht länger Men¬schen mit dem Symptom Angst", heißt es auf der Instituts-Website, „sie erfor¬schen vielmehr den neuronalen Angst-Regelkreis."

Dieser Ansatz beruht auf einer inzwi-schen etablierten Erkenntnis- Das Ge-hirn ist in Netzwerken organisiert, in de¬nen einzelne spezialisierte Zentren zu¬sammengeschaltet sind und unter Auf¬sicht eines übergeordneten Areals ge¬meinsam Aufgaben wie Emotionsregula-tion, kognitive Planung, Antrieb und Af¬fektkontrolle erledigen. Ist eine der Un¬tereinheiten oder auch nur die Verbin¬dung in dem Regelkreis gestört, führt das zu ganz bestimmten Symptomen.

Hört der Patient zum Beispiel Stim-men, spielt möglicherweise das Sprach-zentrum verrückt, das im Temporallap-pen angesiedelt ist. Es kann aber genau-so gut sein, dass die dafür zuständige Kontrollinstanz im Frontalhirn nicht mehr in der Lage ist, Gedachtes und Ge¬hörtes auseinanderzuhälten. Der Regel¬

 

kreis kann auch aus dem Takt ge-

raten, wenn er bei einem Gesun-

den von Geburt an besonders emp-

fmdlich ausgelegt ist. „Wer schon beim Konsum von Marihuana Stimmen hört", sagt Tebartz van Elst, „dessen Ge¬hirn ist wahrscheinlich einfach besonders nah am Halluzinieren gebaut."

Allerdings sind sich nicht alle Wissen-schaftler einig, welches die entscheiden-den Regelkreise sind. Am Zentralinsti¬tut für Seelische Gesundheit in Mann¬heim hat sich dessen Chef Andreas Meyer-Lindenberg noch einmal neu auf die Suche gemacht. Viele Risikofak- , toren der psychiatrischen Krankheiten seien bekannt, sagt er. Man kenne in¬zwischen die entsprechenden Genvari¬anten und wisse, welche Umwelteinflüs¬se besonders gefährlich sind. So scheinen zum Beispiel Faktoren wie die Geburt in einer städtischen Umgebung, sexueller Missbrauch oder ein Migrationshinter-grund der Eltern die Entwicklung einer Schizophrenie zu begünstigen.

Vom kommenden Jahr an wollen die Mannheimer Wissenschaftler in einem neuen, von Bund und Land geförderten Zentrum für innovative Psychiatrie- und Psychotherapieforschung gründlicher studieren, was eigentlich das Gehirn ei¬nes gesunden, in der Stadt geborenen Menschen oder das eines Schizophrenie-Genlfrägers von dem eines Menschen ohne diese beiden Risikofaktoren unter¬scheidet. Hirnzentren und neuronale Verbindungen, die bei diesen Untersu-chungen besonders häufig ins Auge fal-len, müssten, so jedenfalls die Theorie, auch bei der Entstehung der entsprechen¬den Krankheit und im zugehörigen Re¬gelkreis eine entscheidende Rolle spie¬len. Gelänge es erst einmal, diese Struk¬turen zu sogenannten Konvergenzsyste-men zusämmenzufassen, würde man jene Netzwerke identifizieren können, die bei der Entstehung der Krankheiten die ent¬scheidende Rolle spielen.

Diese Vision -teilt Meyer-Lindenberg mit seinem amerikanischen Kollegen Tom Insel: Beide träumen von einer Psychiatrie, die statt der bisherigen psychiatrischen Krankheiten nur noch Störungen von funktionellen Regelkrei-sen behandelt, die sie zuvor mit Hilfe von Bildern und Labormessungen aufge¬spürt hat. Bis es so weit sei, werde es aber noch Jahre, wenn nicht gar Jahr¬zehnte dauern: Jedes neue System muss erst einmal beweisen, dass es für den Pa¬tienten therapeutisch einen Fortschritt bedeutet", sagt Meyer-Lindenberg „Auch die bisherigen Definitionen wur¬den ja nicht ausgewürfelt - da steckt eine Menge Wissen und Erfahrung drin." Und eben der ein oder andere Fehler

 

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