Misstrauen gegen das System
Author D.Selzer-McKenzie
Video: https://youtu.be/R-9O-qNsCqQ
DIE
KOALITIONEN
DER ANGST
Wenn Dienstleistungsproletarier und prekär Wohlhabende sich
in einem diffusen Misstrauen gegen das System verbünden, wird es brenzlig im
Land. Wer in Deutschland kann nicht glauben, dass es uns im Ver¬gleich mit
Frankreich, Großbritannien, Belgien oder Finn¬land unglaublich gutgeht? Wer
kann nicht mehr hören, dass Jahr für Jahr wertvolle neue Arbeitsplätze
geschaffen werden, dass der deutsche Mittelstand als Ausstatter der
Weltwirtschaft zu den großen Gewinnern der Globalisierung gehört und dass wir
ein politisches Sys¬tem haben, in dem im Zweifelsfall das Allgemeininteresse
wichtiger ge¬nommen wird als die Partialinteressen der konkurrierenden gesell¬schaftlichen
Großgruppen? Wer ist der Auffassung, dass von den Proble¬men, die einem das
Leben Tag für Tag schwermachen, in der Presse und in der Politik keine Rede
ist?
Das sind zuerst Angehörige eines
Dienstleistungsproletariats, das in den letzten zwei Jahrzehnten in Deutschland
entstanden ist. Das sind die Leute, die einem die Pakete ins Haus bringen, die
die Gebäude reini¬gen, die im ICE mit dem blauen Plastiksack unterwegs sind,
die bei den Discountern diesen Moment an der Kasse sitzen, im nächsten die
Rega¬le auffüllen und zum Schluss den Laden schließen, und nicht zuletzt
die¬jenigen, die die Pflege der hochbetagten Familienangehörigen überneh¬men.
Man nennt, was sie tun, „einfache Dienstleistung". Das macht ei¬nen Anteil
von 12 bis 15 Prozent der Beschäftigten in der deutschen Volkswirtschaft aus.
Sie besitzen in der Regel ein unbefristetes und voll¬zeitiges
Normalarbeitsverhältnis, aber kommen bei 40 bis 50 Stunden wöchentlicher
Arbeitszeit auf ein monatliches Nettoeinkommen von le¬diglich 900 bis 1100
Euro. Damit kann man in Hamburg, Leipzig oder
München, aber auch in Ingolstadt, Ratingen oder Potsdam
nicht leb und nicht sterben.
Im Vergleich zum Industrieproletariat, das wir aus der
ersten Mod ne der rauchenden Schlote und ratternden Maschinen kennen, aus d(
die Parteien der Arbeiterbewegung, die Industriegewerkschaften u die
arbeiterliche Volkskultur des Fußballs und der Eckkneipen hervoij gangen ist,
ist dieses Dienstleistungsproletariat weiblicher, multieth scher und
qualifikatorisch gestreuter. In der Putzkolonne findet sich ben Jennifer aus
Marzahn ohne Schulabschluss Milva aus Moldawi( die in ihrem früheren Leben
Staatsanwältin war.
Für diese Proletarität der Dienstleistung existiert keine
geschichtlic Mission wie in der alten Arbeiterbewegung. Kein Marx, kein August
bel, keine Rosa Luxemburg nirgends, mit denen man glauben konn dass irgendwann
die Letzten die Ersten sein werden. Das hängt vor lem mit dem gänzlichen Fehlen
von Möglichkeiten des sozialen A stiegs zusammen. Als Putzerin, Transporter
oder Zustellerin bleibt m immer auf derselben Stufe, auf der man angefangen
hat. Vorankomm kann man durch den Erwerb von Zusatzqualifikationen allein in c
Pflege. Mit einem nachgemachten Fachhochschulabschluss kann m die Berechtigung
erwerben, mit dem ärztlichen Personal an ein( Tisch zu sitzen. Ansonsten sind
die Aussichten so, dass man nach zw zig Jahren Paketetragen, Personenheben oder
Bödenwischen körperli am Ende ist. Die Rentenanwartschaft liegt dann nicht über
der Grunc cherung im Alter, die einem auf Antrag gesetzlich zusteht.
Diesem Personenkreis ist recht gleichgültig, was die SPD
beim M destlohn oder was der soziale Flügel der CDU beim Schonvermögen h
ausgeholt hat. Am Ende muss man die paar Euro mehr mit einer Stei; rung der
Arbeitsbelastung bezahlen. Das Hotelzimmer muss in fünf st in sieben Minuten in
einen ansprechenden Zustand gebracht werden
Stolz macht einen das Bewusstsein, dass man sein Geld im
Phil trotz regelmäßiger Aufstockung selbst verdient. Deshalb kann man
„Hartzer", die mit leistungslosen Transfereinkommen jonglieren, nig
sonderlich leiden. Politik für die Schwachen und Armen scheint aus Sicht der
Dienstleistungsproletarier in erster Linie jenen zugutezuko men, die kein
Problem damit haben, vom Amt abhängig zu sein und s als staatsabhängiges
Prekariat betrachten zu lassen.
Die Belange dieser neuen Klasse unserer erweiterten
Serviceökoi mie kommen in den Erzählungen von starker Wirtschaft, robusten
beitsmärkten und einem funktionierenden Sozialstaat nicht vor. Aus c sem Grund
schauen die Leute vom Dienstleistungsproletariat mit nem stillen Argwohn auf
die Masse der Flüchtlinge, die gerade ins Lz
kommen. Denn das sind alles potentielle Konkurrenten, die
trotz stei-genden Bedarfs an Beschäftigten in den Branchen der einfachen Dienst¬leistung
als Reservearmee einsetzbar sind. Die können natürlich nichts dafür, aber das
Gesetz der sozialen Zeit besagt: Privilegiert sind die, die zuerst da waren,
und erst dann kommen die an die Reihe, die später ge¬kommen sind.
Ein anderer, für die Stimmung im Lande vielleicht noch
entscheiden¬derer Brennpunkt der sozialen Kohäsion liegt in der Mitte unserer
Ge¬sellschaft. Hier geht es um eine Gruppe von Personen, die hoch gebildet
sind, relativ gute Berufspositionen bekleiden und mittlere Einkommen beziehen,
aber von dem Gefühl beherrscht sind, dass sie durch Umstän¬de, die sie nicht
beeinflussen konnten, unter ihren Möglichkeiten geblie¬ben sind. Die erregen
sich über die Gentrifizierung der inneren Stadtbe¬zirke, die zur Vertreibung
der angestammten Bevölkerung aus der nivel¬lierten Mittelklasse führt. Sie
geraten in Rage über die Einkommen un¬verantwortlicher Banker, windiger
Unternehmensberater und in die Wirtschaft wechselnder Politiker. Sie halten
sich selbst für leistungsfä¬hig, kompetenzstark und gut informiert, führen
allerdings Beschwerde über eine respektlose Personalpolitik in den Unternehmen
und zeigen sich empört über den deregulierten Pumpkapitalismus.
Wir haben es mit einer Gruppe zu tun, die es erlebt hat, wie
man trotz guter Bildungsvoraussetzungen und hoher Leistungsbereitschaft die
Po¬sition vergleichbarer anderer nicht erreicht. Vielleicht weil sie nicht über
die alerte Ironie in der Selbstdarstellung verfügen oder weil sie auf den
Wiener-take-all-Märkten von Sportmedizinern, Webdesignern oder
Gartenarchitekten auf der Strecke geblieben sind.
Bei Befragungen bilden diese Verbitterten aus der deutschen
Mittel¬klasse eine Gruppe von gut 10 Prozent. Sie geben auf Nachfrage oftmals
eine Situation „prekären Wohlstands" an, wo aufgrund erheblicher
Bil¬dungsinvestitionen für die Kinder spürbare Abstriche bei den Mitteln für
die eigene Lebensführung zu machen sind. Der BMW, der Eames Lounge Chair und
die Fotosafari nach Namibia, die vergleichbare ande¬re sich leisten können,
sind bei ihnen einfach nicht drin.
An denen zeigt sich, wie sich unmerklich, aber unaufhörlich
ein Spalt zwischen einem oberen und einem unteren Teil der sozialen Mitte in
Deutschland auftut. Das passiert innerhalb des Blocks, der als Ganzes in
Deutschland trotz notorisch berichteter Befunde über das Abschmel¬zen der
gesellschaftlichen Mitte ziemlich stabil ist. Der Industriemeis¬ter, der mit
einem mittleren Schulabschluss bei Audi Karriere gemacht hat, gehört zu den
Etablierten, die Solounternehmerin aus dem Coachinggewerbe zu den Prekären. Man
muss auf der Hut sein, weil auf
den sukzessiven Statuserwerb im Lebenslauf in der Regel kein
Verlass mehr ist. Durch unvorhersehbare Lebensereignisse wie eine Trennung oder
eine Überschuldung ist man mit einem Mal von der oberen in die untere Mitte
abgerutscht.
In diesem Gefühl, sich auf einem glitschigen Boden zu
bewegen, kön¬nen sich ganz schnell Koalitionen der Angst bilden, die quer durch
die Gesellschaft laufen. Man attackiert zuerst Politiker, von denen ange¬nommen
wird, dass sie sich den Staat als Beute genommen und nichts anderes im Sinn
haben, als wiedergewählt zu werden; dann spießt man Journalisten auf, denen
unterstellt wird, dass sie heimlich auf der Ge¬haltsrolle von Lobbyisten und
Werbern stehen; und schließlich läuft man rot an, wenn Repräsentanten von
Verbänden auf dem Bildschirm erscheinen, die immer nur die erwartbaren
Erklärungen abgeben. Die¬ses ganze Personal der Öffentlichkeitserzeugung kann
zu einem System der Wirklichkeitsverweigerung zusammengefasst werden, in dem
nie-mand mehr den Mut aufbringt, die Dinge beim Namen zu nennen.
So wird diffuses Systemvertrauen, das besagt, dass bei aller
Kritik im Einzelnen im Grunde alles in Ordnung ist, durch ein ebenso diffuses
Systemmisstrauen ersetzt, das trotz positiver Nachrichten über die Rück¬kehr
des sozialen Wohnungsbaus oder den Aufbau einer europäischen Bankenaufsicht
immer nur die Bestätigung für den Eindruck sucht, dass nichts in Ordnung ist.
Kommuniziertes Misstrauen kann dann zu einer Ressource von spontanen Vergemeinschaftungen
werden, bei denen man öffentlich seiner Gereiztheit, seiner Verdrießlichkeit
und seiner Enttäuschtheit Ausdruck verschafft.
Brenzlich kann die Situation dann werden, wenn es zu einem
Kurz-schluss zwischen den beiden Brennpunkten des sozialen Bruchs kommt: wenn
die Ignorierten aus dem Dienstleistungsproletariat sich mit den Verbitterten
aus der gesellschaftlichen Mitte im Blick auf einen Sündenbock verbünden, den
man dafür verantwortlich machen kann, dass alles so schief läuft. Das bereitet
die Bühne für den Auftritt des au¬toritären Rebellen, der seinem Publikum
vermittelt, dass niemand sonst es versteht. Themen, für die Appellwörter wie
„Wirtschaftsflüchtling", „Wohnungseinbrüche" und
„Sozialbetrüger" stehen, bilden das Register des europäischen
Rechtspopulismus. Wenn dann eine Figur kommt, die sagt, ich lasse mich nicht
belügen, ich lasse mir den Mund nicht verbie¬ten, und ich weiß, was ich weiß,
dann ist eine Politik gefordert, die keine Angst vor den Ängsten der Leute hat.
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