Mittwoch, 14. Oktober 2015

Die Welt in Bewegung


Die Welt in Bewegung

Author D.Selzer-McKenzie

Video: https://youtu.be/tJZbyFHoui0

Rund um den Globus sind so viele Menschen in Bewegung wie sel¬ten zuvor. Länder, denen es gelingt, qualifizierte Zuwanderer anzu¬ziehen, können aus diesem Trend zahlreiche Vorteile gewinnen: Die neuen Mitbürger sorgen für Innovationen, mehr Wirtschafts¬wachstum und helfen dabei, demographische Probleme besser in den Griff zu bekommen.

 

Dass Menschen, häufig aufgrund von per-sönlichen Notlagen, ihre Heimat verlassen, ist kein aktuelles Phänomen. Schon seit Jahrzehnten oder gar Jahrhunderten sind solche Entwicklungen zu beobachten. Der „American Dream" etwa brachte im 19. Jahrhundert Millionen Europäer in die USA. Auch das 20. Jahrhundert sah große Zuströme an qualifizierten und auch un¬qualifizierten Arbeitskräften. Die Neuan¬kömmlinge sorgten für einen Innovations-schub in den USA. Im Technologie-Mekka Silicon Valley beispielsweise sind mehr als 45 Prozent der Einwohner im Ausland ge¬boren.

Aktuell versuchen in Europa viele junge Menschen aus den südlichen Ländern ihr Glück weiter nördlich. Die Eurokrise hat zu einer sehr hohen Arbeitslosigkeit in Griechenland, Spanien oder Portugal ge¬führt. Viele suchen daher ihre Zukunft im Ausland. Der Wegzug von jungen Fach¬kräften kann für die Mittelmeeranrainer zum Problem werden, während nördlichere

 

Metropolen wie London, Berlin oder Stockholm davon wohl profitieren werden.

Den Schwellenländern fällt es generell schwer, Hochqualifizierte im Land zu be¬halten. Neben der Abwanderung in andere Länder ist auch die Binnenwanderung von großer Bedeutung, wie das Beispiel China gezeigt hat. Während innerhalb der Schwellenländer der Trend zu noch mehr Urbanisierung anhält, findet in den west¬lichen Ländern eine Konkurrenz der Standorte statt. Städte wie Detroit, dessen Autoindustrie den Zenit überschritten hat, leiden, während Standorte mit Wachs-tumsindustrien oder gefragten Bildungs¬einrichtungen florieren.

Die Beispiele zeigen: Länder oder Städte, denen es gelingt, junge Talente anzuzie¬hen, könnten längerfristig erhebliche Vor¬teile haben. Denn der Erfolg eines Landes und seine Fähigkeit, junge und unterneh-mungslustige Talente aus anderen Teilen der Welt anzuziehen, sind eng miteinander verflochten. Die Menschen streben in Länder, die wirtschaftliche Chancen und soziale Mobilität bieten. Und dies wieder¬um führt zu neuen Ideen, zum Aufbau neuer Unternehmen und auch zu Wachs¬tum und Steuereinnahmen — ein Vorteil für Einwanderungsländer und die dort ansäs-sigen Unternehmen.

Auf der anderen Seite ist der Talentabfluss für Schwellenländer von immer größerer Bedeutung. Ohne Fachkräfte wird es jeden-falls schwieriger, auf der Wertschöpfungs-kurve nach oben zu klettern und die Volkswirtschaft fit für nachhaltiges Wachstum zu machen. Auf der Mikro¬ebene hat die Zu- und Abwanderung von Menschen Einfluss auf Investitionen, Ur¬banisierung, die Nachfrage nach Woh¬nungen, Infrastruktur, Dienstleistungen und auch Finanzdienstleistungen.

WOHER SIE KOMMEN, WOHIN SIE GEHEN Migranten machen inzwischen 3,2 Prozent der Weltbevölkerung aus. Zu Beginn dieses Jahrzehnts waren es nur 2,8 Prozent. Wür¬de man die Einwanderer der Welt zusam-menfassen, würden sie mit rund 225 Mil-lionen das fünftgrößte Land der Welt bilden.

Die USA gelten als das begehrteste Ein-wanderungsziel. Die Zahl ihrer Migranten ist beispielsweise viermal größer als die Zahl der Migranten in Russland, dem zweitgrößten Aufnahmeland. Relativ zur einheimischen Bevölkerung jedoch stehen große Volkswirtschaften im Nahen Osten oben auf der Liste, wo die Migranten einen hohen und wachsenden Anteil der Bevöl¬kerung ausmachen. Das gleiche trifft auf die Schweiz, Australien, Schweden, Spanien und Großbritannien zu.

 

Wo kommen die Einwanderer her? Indien führt die Tabelle mit mehr als 14 Millionen Emigranten an, die auf der ganzen Welt verteilt sind, dicht gefolgt von Mexiko. Mexikanische Auswanderer machen mehr als 10 Prozent der Bevölkerung des Lan¬des aus, von denen fast alle in die benach¬barten USA gegangen sind. China, Bangla¬desch, Pakistan und die Philippinen gehö¬ren ebenfalls zu den Ländern, die große „Nettoabflüsse" in den letzten Jahrzehn¬ten zu verzeichnen hatten. Diese Zahlen umfassen noch nicht die jüngsten Zahlen von Flüchtlingen aus dem Nahen Osten, die nach Europa streben.

MITTEL GEGEN DIE ALTERUNG

Das Wachstum der Bevölkerung im Er-werbsalter stellt häufig einen wichtigen Motor für das Wirtschaftswachstum dar. Ein gesundes Verhältnis von qualifizierten Arbeitskräften und starken Institutionen und das Fehlen von wichtigen Ressourcen-Ungleichgewichten ist in der Regel die Formel für Erfolge auf Länderebene. Doch gerade in vielen entwickelten Ländern, die einer drohenden Überalterung der Bevöl-kerung gegenüberstehen, stellt sich die Schlüsselfrage, ob Zuwanderung die De-mographieprobleme lösen kann.

Diese Frage lässt sich zunächst mit ja be-antworten. Immigranten sind tendenziell jünger als die heimische Bevölkerung. Und für Länder, die in der Lage sind, für ge¬ringe „Investitionen" qualifizierte, steuer¬zahlende Talente anzulocken, ist die Im¬migration ein besonders attraktives Ge¬schäft. Einwanderer stehen beispielsweise für 20 Prozent der 20- bis 55-jährigen Be¬völkerung in der Schweiz, Australien, Schweden und den USA. Auch die Euro-

 

päische Union zählt zu den Gewinnern. In vielen Ländern ist zudem im tertiären Bil-dungsbereich, also bei Menschen mit Uni-versitäts- oder Fachhochschulabschluss, der Anteil der im Ausland Geborenen höher.

Die zunehmende Sorge über das Altern der Bevölkerung hat vielerorts die Politik um-denken lassen. Von 2010 bis 2013 ist bei-spielsweise die Zahl der Länder mit kon-kreten Plänen, das Bevölkerungswachstum durch Zuwanderung zu erreichen, von 10 auf 22 gestiegen. Hinzu kommt, dass im

Schnitt bei Einwanderern auch die Ge-burtenrate höher ist.

Für viele Länder wäre Zuwanderung allerdings nur ein Teil der Lösung. Um die aktuellen Verhältnisse von Pensionären und arbeitenden Menschen aufrechtzuer¬halten, müsste, basierend auf UN-Schät¬zungen, bis 2025 in Westeuropa die Zu¬wanderung sieben bis acht Mal höher sein als bisher, in Japan und Südkorea wäre sogar ein Anstieg um das 26- bzw. 58¬fache nötig.

 

Für Europa allerdings dürften diese Zahlen angesichts der Entwicklung der letzten Jahre bereits überholt sein. Die deutsche Bevölkerung beispielsweise, die bis circa 2010 zurückging, stieg in den letzten fünf Jahren aufgrund der ansteigenden Netto-einwanderung wieder an und liegt jetzt knapp über der Spitzenzahl von 2003 von rund 82,5 Millionen. Die vom Statisti¬schen Bundesamt projizierte Bevölke¬rungszahl für das Jahr 2030 von 77,35 Millionen wurde im Frühjahr 2015 auf 79,23 Millionen revidiert. Zugrunde liegt dieser Projektion eine Nettoeinwande-rung von 100.000, was aber aufgrund der hohen Flüchtlingszahlen des Sommers 2015 inzwischen ebenfalls überholt sein dürfte.

INNOVATIONSEINWANDERUNG

Wo es gelingt, Talente anzuziehen, neigen Unternehmer auch eher zu Investitionen. Im Fall der USA sind ausgereifte Kapital¬märkte, Rechtsstaatlichkeit und die schie¬re Größe des Inlandsmarktes ebenso wich¬tige Faktoren. 2014 waren mehr als 28 Prozent der Jungunternehmer Einwande¬rer, im Jahr 1996 lediglich 14 Prozent. Doch inzwischen sind auch andere Län¬der zunehmend in den Wettbewerb um unternehmerische Fachkräfte eingestiegen. Dreizehn Länder haben jetzt Unterneh-mertum und Start-up-Visaregelungen an Ort und Stelle, zehn davon wurden allein in den letzten zehn Jahren initiiert.

Besonders begehrt sind Einwanderer, die zur Innovation beitragen. Auch hier sind die USA ein übergroßer Nutznießer. Zehn-tausende Patentinhaber strömten im letz¬ten Jahrzehnt in die Vereinigten Staaten, gut die Hälfte von ihnen kamen aus China und Indien.

 

Es besteht allerdings kein Zweifel, dass in den vergangenen zehn Jahren aufgrund des hohen Wirtschaftswachstums auch die Möglichkeiten für Inder und Chinesen im eigenen Land gestiegen sind. Zumindest theoretisch ist die relative Attraktivität der Auswanderung Richtung Westen zurück-gegangen. Es stellt sich jedoch die Frage, ob die wirtschaftlichen Möglichkeiten al¬lein reichen, um die Abwanderung von qualifizierten Arbeitskräften aus den Emerging Markets einzudämmen.

Es gibt in den letzten Jahren wenig Anzei-chen dafür, dass sich die große asiatische Diaspora auf den Weg zurück in ihre Hei-matländer machen wollte. Und es ist auch nicht erkennbar, dass in den Schwellen-ländern der Wunsch nach Emigration nachlässt. Um ihre jungen Talente zu hal¬ten, werden diese Länder weitaus mehr tun müssen, als nur für Wirtschafts¬wachstum zu sorgen. Benötigt werden wirtschaftliche Mobilität, Sicherheit und geordnete Verhältnisse, ein gutes Bil¬dungswesen und steuerliche Anreize. In anderen Worten: Eine gute Lebensqualität ist dafür nicht weniger wichtig als die Ver¬fügbarkeit kurzfristiger wirtschaftlicher Möglichkeiten.



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