Sonntag, 4. Oktober 2015

Trading: Seismograph als Volatilität


Trading: Seismograph als Volatilität

Author D.Selzer-McKenzie

Video: https://youtu.be/8sv35Q3-ayw

Der Seismograph der Volatilität

Die Average True Range (ATR) berücksichtigt Kursdifferenzen zwischen zwei Handelstagen. Der Indikator lässt sich hervorragend für das richtige Setzen von Stopps und den Aufbau von Positionen nutzen.

 

Deutsche Anleger gelten gemeinhin als ähnlich risikoscheu wie Rehe, die erstmals einen Menschen zu Gesicht bekom¬men. Das gilt natürlich nicht pauschal; auch hierzulande gibt es Anleger, die Risiken eingehen und sich eher wie ein frecher Spatz denn ein scheues Reh verhalten. Man¬che sind sich dessen bewusst, denn sie erwarten dafür eine höhere Rendite für ihr Investment. Andere wiederum gehen die Risiken fahrlässig ein und müssen nicht selten hohe Verluste hinnehmen.

Ein häufig gewähltes Maß für das Risiko ist die Volati-lität (siehe lnfobox). Kritiker werden sogleich einwenden, dass die Schwankungsbreite von Märkten ein zweischnei¬diges Schwert ist. Denn bei hoher Volatilität kann es — je nach Einstiegszeitpunkt — stark nach oben oder nach unten gehen. Ein positives.Risiko gibt es jedoch naturge¬mäß nicht. In diesem Fall spricht man von Gewinnchan¬cen, die bei hoher Volatilität eben auch höher sind als bei

 

einer niedrigen Schwankungsbreite. Nichtsdestotrotz ist die Volatilität gerade für historische Kursverläufe ein gutes Risikomaß. Denn rückblickend sind die Höchststände bekannt — und so lassen sich die potenziellen Drawdowns für die Zukunft berechnen.

ATR berücksichtigt Erwartungen über Nacht

Ein Seismograph für die Volatilität ist die Average True Range (ATR). Die Range als solches ist in diesem Zusam¬menhang nichts anderes als die Differenz zwischen dem Hoch und dem Tief eines Kursverlaufs an einem Handels¬tag. Eröffnungs- und Schlusskurs sind hierbei allenfalls zufällig die entscheidenden Größen.

Anders sieht es bei derTrue Range aus: Deren Berech¬nung berücksichtigt neben den Schwankungen während der geöffneten Börsen auch etwaige Unterschiede zwi¬schen dem Schlusskurs und den Höchst- beziehungsweise

Tiefstständen tags darauf. Dass deren Einbeziehung durchaus sinn-voll sein kann, liegt auf der Hand. Denn Anleger bilden auch am Abend, über Nacht, am frühen Morgen oder am Wochenende künftige Erwar¬tungen heraus, die sich anschlie¬ßend in der Differenz zwischen dem Schlusskurs und dem Eröffnungs¬kurs des darauffolgenden Handels¬tages widerspiegeln.

 

Ein leicht nachvollziehbarer Indikator Es entstehen also sozusagen zwi¬schen zwei Handelstagen mehr oder weniger große Kurslücken, welche einfache arithmetische Mittel der Tageshandelsspanne und andere Maße schlichtweg nicht berücksich¬tigen. Das war einer der Gründe, warum Welles Wilder in den 1970er Jahren unter anderem die ATR entwickelte. Ein anderer war, dass für Ternninkon-trakte auf Rohstoffmärkten — für die sich der US-Amerika¬ner brennend interessierte — keine Höchst- undTiefstkurse gestellt werden können, sofern diese am Limit gehandelt werden. Wilder arbeitete zunächst für einige Jahre als Maschinenbauingenieur, ehe er sich immer stärker der Technischen Analyse widmete und sein Hobby schließlich zum Beruf machte.

Die ATR publizierte Wilder 1978 — neben anderen Indika¬toren — in seinem häufig zitierten Aufsatz „New Concepts in Technical Trading Systems" (Trend Research). Es war noch eine Zeit, in der so gut wie kein Anleger auf einen Com¬puter als Unterstützung für das eigene Trading zurückgrei¬fen konnte. Heutzutage übernehmen solche Berechnungen moderne Programme. Dafür basieren die Wilder-Indika¬toren wie die ATR auf Daten, die auch weniger ambitio-nierteTrader nachvollziehen und erheben können.

Demnach ist dieTrue Range die größte Spanne der drei folgenden Varianten:

1.        Die Differenz zwischen dem Höchst- und Tiefststand desselben Tages

2.        Die Differenz zwischen dem Schlusskurs des Vorabends und dem Höchststand tags darauf

3.        Die Differenz zwischen dem Schlusskurs desVorabends und dem Tiefststand tags darauf

 

Nach diesem Vorgehen erhält man für jeden Tag einen konkreten Wert. Die ATR ist dann der Durchschnitt dieser Werte über einen beliebig wählbaren Zeitraum, häufig 14 Tage. Das Besondere an diesem Volatilitätsmaß ist die Berücksichtigung von Erwartungen außerhalb der offizi¬ellen Handelszeiten. Nicht selten werden gerade in dieser Zeit wichtige Unternehmensnachrichten bekannt, da das Management vermeiden will, dass es zu Kursturbulenzen während des Handelstages kommt. Extreme Sprünge im Aktienkurs sind zwar bei bedeutenden Ad-hoc-Meldungen am frühen Morgen/späten Abend oder am Wochenendeauch nicht ausgeschlossen, da die Börsen früher oder spä¬ter ohnehin öffnen. Durch diese Strategie - so zumindest die Hoffnung des Unternehmens - reagieren die Anleger aber nicht panisch, sondern haben etwas Zeit, um die Mel¬dung sacken zu lassen und zu bewerten.

So lässt sich die ATR für Stopps nutzen

Wie kann man sich die ATR nun für das eigene Trading zunutze machen? Zunächst einmal ist dieses Maß ein guter Grad-je nach Blickwinkel -für die Risiken und Chancen, die man mit einem möglichen Investment eingeht. Je höher die ATR in der Vergangenheit, desto höher ist die Wahrschein-lichkeit für größere Kursbewegungen in der Zukunft. Da ein

fvAverage True Range [14] 211,64 -1,3 -0,61% {.DAX}

 

 

Abstand als solches immer positiv ist, nimmt auch die ATR stets positive Werte an. Gibt es nur sehr geringe Schwan¬kungen, liegt derWert nahe Null.

Ganz konkret einsetzen kann man die ATR beim Setzen von Stopps, die für einen erfolgreichen Trader unabding¬bar sind. Angenommen die tägliche Schwankungsbreite eines Kurses beträgt nach der ATR-Berechnungsmethode durchschnittlich 7,5 Punkte. Wenn ein Daytrader nun seine Position mit einem Stopp in Höhe von fünf Punkten unter seinem Einstiegskurs absichern möchte, läuft er Gefahr ausgestoppt zu werden, ohne dass etwas Außergewöhn-liches passiert wäre. Denn Kursschwankungen von bis zu 7,5 (oder etwas darüber) sind bei diesem Wert an derTages-ordnung. Folglich wäre es in diesem Fall sinnvoller, den Stopp beispiels¬weise zehn Punkte unter dem Ein-stiegskurs anzusetzen oder den Trade erst gar nicht einzugehen.

Die geglättete Variante der True

11000,00     Range ist insofern ein sinnvolles

10500,00     Instrument für das richtige Risiko-

10000,00     und Money-Management in jed-

9500,00       weder Marktphase. Das zeigt auch

der Kursverlauf in Bild 2. Der obere

9000.00

Chart zeigt die Entwicklung des deut-

8500,00

schen Leitindex in den vergangenen

8000,00       drei Jahren (Frühjahr 2012 bis Früh-

7500,00       jahr 2015). Während dieses Zeit-

7000,00       raums unterlag der DAX in beiden

6500,00       Richtungen größeren Kursschwan-

6000,00       kungen. Zunächst führte unter

5500,00       anderem das Grassieren der europä-

5000,00       ischen Staatsschuldenkrise zu deut-

lichen Einbrüchen. Doch dann hellte

4500,00

ATR    sich die konjunkturelle Lage vor

300,00          allem in Deutschland zunehmend

250,00          auf. Die Niedrigzinspolitik der Euro-

päischen Zentralbank tat ihr Übriges. Jedenfalls setzte der Index zu einem beispiellosen Höhenflug an. Die-

50,00 ser Verlauf spiegelt sich auch in der

ATR wider (Bild 2, unterer Chart). Im Spätsommer 2012 stieg der Wert auf über 300, was auf eine extrem unru¬hige Marktphase schließen lässt. In den darauffolgenden Monaten sankdie ATR — unterbrochen von einigen Gegenbewegungen —kontinuierlich auf deutlich unter 100.

ATR als Indikator für Aufbau von Positionen

Professionelle Anleger reagierten auf den massiven ATR-Anstieg im Zuge des DAX-Kurseinbruches vermutlich mit einer deutlichen Verringerung ihrer Positionsgröße und damit ihres Risikos. Dieses sukzessive Downsizing lässt sich wiederum hervorragend mit dem Setzen von Stopps steuern. Im Verlauf des dritten Quartals 2012 ist die Vola-tilität im deutschen Leitindex bei tendenziell weiter fal¬lenden Kursen zurückgegangen, ehe der DAX im Herbst 2012 seinenTiefststand erreicht hat. Parallel ist die ATR von über 300 auf unter 250 gesunken; sie fiel in der Folgezeit — abgesehen von einigen Rücksetzern — weiter bis auf etwa 75. Folglich war die ATR in die¬ser Phase ein hervorragender Indika¬tor, um die Position im DAX wieder peu ä peu aufzubauen und anschlie-ßend vom breiten Kursaufschwung zu profitieren.

Im Prinzip lässt sich dieses Vor¬gehen auf jeden beliebigen Kurs¬wert übertragen, wobei zu beachten ist, dass die Grenzwerte, ab denen man von einer hohen/niedrigen ATR spricht nicht nur von der zugrunde

gelegten      Zeitperiode,           sondern

auch von der absoluten Kurshöhe abhängt. Ein Index wie der DAX schwankt nach Punkten natürlich um ein Vielfaches im Vergleich zu einer seiner Einzelwerte. Die Volkswagen-Aktie, die im April 2015 zeitweise bei über 250 Euro stand, verändert sich täglich — abgesehen von extremen Szenarien — nach Punkten deutlich stärker als die Infineon Technologies AG, deren Kurs zuletzt bei lediglich elf Euro notierte.

Der Chart in Bild 3 zeigt den Kurs¬und ATR-Verlauf von Infineon in den vergangenen drei Jahren. Es gibt augenscheinlich Parallelen zwischen den Verläufen des DAX und denen von

 

Infineon — sowohl was den normalen Kurs als auch die ATR angehen. Doch genau wie sich die Höhe der absoluten Kurs-werte deutlich unterscheidet, liegen auch die absoluten ATR-Werte weit auseinander. Sie waren bei Infineon zwischen 0,1 (ruhige Marktphase) und 0,5 (unruhige Marktphase).

Jeder Basiswert mit charakteristischen ATR-Werten

So hat jeder Basiswert seine charakteristischen ATR-Werte, die es zu berücksichtigen gilt. Wenn dieses Volatilitätsmaß richtig eingesetzt wird, dann ist es auch für die scheuen Rehe unter den Anlegern ein geeignetes Instrument, um die Scheuklappen ein Stück weit abzulegen. Eine Garantie

für Gewinne ist die ATR indes auch nicht.

 

 

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.