Trading: Seismograph als Volatilität
Author D.Selzer-McKenzie
Video: https://youtu.be/8sv35Q3-ayw
Der Seismograph der Volatilität
Die Average True Range (ATR) berücksichtigt Kursdifferenzen
zwischen zwei Handelstagen. Der Indikator lässt sich hervorragend für das
richtige Setzen von Stopps und den Aufbau von Positionen nutzen.
Deutsche Anleger gelten gemeinhin als ähnlich risikoscheu
wie Rehe, die erstmals einen Menschen zu Gesicht bekom¬men. Das gilt natürlich
nicht pauschal; auch hierzulande gibt es Anleger, die Risiken eingehen und sich
eher wie ein frecher Spatz denn ein scheues Reh verhalten. Man¬che sind sich
dessen bewusst, denn sie erwarten dafür eine höhere Rendite für ihr Investment.
Andere wiederum gehen die Risiken fahrlässig ein und müssen nicht selten hohe
Verluste hinnehmen.
Ein häufig gewähltes Maß für das Risiko ist die Volati-lität
(siehe lnfobox). Kritiker werden sogleich einwenden, dass die Schwankungsbreite
von Märkten ein zweischnei¬diges Schwert ist. Denn bei hoher Volatilität kann
es — je nach Einstiegszeitpunkt — stark nach oben oder nach unten gehen. Ein
positives.Risiko gibt es jedoch naturge¬mäß nicht. In diesem Fall spricht man
von Gewinnchan¬cen, die bei hoher Volatilität eben auch höher sind als bei
einer niedrigen Schwankungsbreite. Nichtsdestotrotz ist die
Volatilität gerade für historische Kursverläufe ein gutes Risikomaß. Denn
rückblickend sind die Höchststände bekannt — und so lassen sich die
potenziellen Drawdowns für die Zukunft berechnen.
ATR berücksichtigt Erwartungen über Nacht
Ein Seismograph für die Volatilität ist die Average True
Range (ATR). Die Range als solches ist in diesem Zusam¬menhang nichts anderes
als die Differenz zwischen dem Hoch und dem Tief eines Kursverlaufs an einem
Handels¬tag. Eröffnungs- und Schlusskurs sind hierbei allenfalls zufällig die
entscheidenden Größen.
Anders sieht es bei derTrue Range aus: Deren Berech¬nung
berücksichtigt neben den Schwankungen während der geöffneten Börsen auch
etwaige Unterschiede zwi¬schen dem Schlusskurs und den Höchst- beziehungsweise
Tiefstständen tags darauf. Dass deren Einbeziehung durchaus
sinn-voll sein kann, liegt auf der Hand. Denn Anleger bilden auch am Abend,
über Nacht, am frühen Morgen oder am Wochenende künftige Erwar¬tungen heraus,
die sich anschlie§end in der Differenz zwischen dem Schlusskurs und dem
Eröffnungs¬kurs des darauffolgenden Handels¬tages widerspiegeln.
Ein leicht nachvollziehbarer Indikator Es entstehen also
sozusagen zwi¬schen zwei Handelstagen mehr oder weniger große Kurslücken,
welche einfache arithmetische Mittel der Tageshandelsspanne und andere Maße
schlichtweg nicht berücksich¬tigen. Das war einer der Gründe, warum Welles
Wilder in den 1970er Jahren unter anderem die ATR entwickelte. Ein anderer war,
dass für Ternninkon-trakte auf Rohstoffmärkten — für die sich der
US-Amerika¬ner brennend interessierte — keine Höchst- undTiefstkurse gestellt
werden können, sofern diese am Limit gehandelt werden. Wilder arbeitete
zunächst für einige Jahre als Maschinenbauingenieur, ehe er sich immer stärker
der Technischen Analyse widmete und sein Hobby schließlich zum Beruf machte.
Die ATR publizierte Wilder 1978 — neben anderen Indika¬toren
— in seinem häufig zitierten Aufsatz „New Concepts in Technical Trading
Systems" (Trend Research). Es war noch eine Zeit, in der so gut wie kein
Anleger auf einen Com¬puter als Unterstützung für das eigene Trading
zurückgrei¬fen konnte. Heutzutage übernehmen solche Berechnungen moderne
Programme. Dafür basieren die Wilder-Indika¬toren wie die ATR auf Daten, die
auch weniger ambitio-nierteTrader nachvollziehen und erheben können.
Demnach ist dieTrue Range die größte Spanne der drei
folgenden Varianten:
1. Die Differenz
zwischen dem Höchst- und Tiefststand desselben Tages
2. Die Differenz
zwischen dem Schlusskurs des Vorabends und dem Höchststand tags darauf
3. Die Differenz
zwischen dem Schlusskurs desVorabends und dem Tiefststand tags darauf
Nach diesem Vorgehen erhält man für jeden Tag einen
konkreten Wert. Die ATR ist dann der Durchschnitt dieser Werte über einen
beliebig wählbaren Zeitraum, häufig 14 Tage. Das Besondere an diesem
Volatilitätsmaß ist die Berücksichtigung von Erwartungen außerhalb der
offizi¬ellen Handelszeiten. Nicht selten werden gerade in dieser Zeit wichtige
Unternehmensnachrichten bekannt, da das Management vermeiden will, dass es zu
Kursturbulenzen während des Handelstages kommt. Extreme Sprünge im Aktienkurs
sind zwar bei bedeutenden Ad-hoc-Meldungen am frühen Morgen/späten Abend oder
am Wochenendeauch nicht ausgeschlossen, da die Börsen früher oder spä¬ter
ohnehin öffnen. Durch diese Strategie - so zumindest die Hoffnung des
Unternehmens - reagieren die Anleger aber nicht panisch, sondern haben etwas
Zeit, um die Mel¬dung sacken zu lassen und zu bewerten.
So lässt sich die ATR für Stopps nutzen
Wie kann man sich die ATR nun für das eigene Trading zunutze
machen? Zunächst einmal ist dieses Maß ein guter Grad-je nach Blickwinkel -für
die Risiken und Chancen, die man mit einem möglichen Investment eingeht. Je
höher die ATR in der Vergangenheit, desto höher ist die Wahrschein-lichkeit für
größere Kursbewegungen in der Zukunft. Da ein
fvAverage True Range [14] 211,64 -1,3 -0,61% {.DAX}
Abstand als solches immer positiv ist, nimmt auch die ATR
stets positive Werte an. Gibt es nur sehr geringe Schwan¬kungen, liegt derWert
nahe Null.
Ganz konkret einsetzen kann man die ATR beim Setzen von
Stopps, die für einen erfolgreichen Trader unabding¬bar sind. Angenommen die
tägliche Schwankungsbreite eines Kurses beträgt nach der ATR-Berechnungsmethode
durchschnittlich 7,5 Punkte. Wenn ein Daytrader nun seine Position mit einem
Stopp in Höhe von fünf Punkten unter seinem Einstiegskurs absichern möchte,
läuft er Gefahr ausgestoppt zu werden, ohne dass etwas Außergewöhn-liches
passiert wäre. Denn Kursschwankungen von bis zu 7,5 (oder etwas darüber) sind
bei diesem Wert an derTages-ordnung. Folglich wäre es in diesem Fall
sinnvoller, den Stopp beispiels¬weise zehn Punkte unter dem Ein-stiegskurs
anzusetzen oder den Trade erst gar nicht einzugehen.
Die geglättete Variante der True
11000,00 Range ist
insofern ein sinnvolles
10500,00 Instrument
für das richtige Risiko-
10000,00 und
Money-Management in jed-
9500,00 weder
Marktphase. Das zeigt auch
der Kursverlauf in Bild 2. Der obere
9000.00
Chart zeigt die Entwicklung des deut-
8500,00
schen Leitindex in den vergangenen
8000,00 drei
Jahren (Frühjahr 2012 bis Früh-
7500,00 jahr
2015). Während dieses Zeit-
7000,00 raums
unterlag der DAX in beiden
6500,00 Richtungen
größeren Kursschwan-
6000,00 kungen.
Zunächst führte unter
5500,00 anderem
das Grassieren der europä-
5000,00 ischen
Staatsschuldenkrise zu deut-
lichen Einbrüchen. Doch dann hellte
4500,00
ATR sich die
konjunkturelle Lage vor
300,00 allem
in Deutschland zunehmend
250,00 auf.
Die Niedrigzinspolitik der Euro-
päischen Zentralbank tat ihr Übriges. Jedenfalls setzte der
Index zu einem beispiellosen Höhenflug an. Die-
50,00 ser Verlauf
spiegelt sich auch in der
ATR wider (Bild 2, unterer Chart). Im Spätsommer 2012 stieg
der Wert auf über 300, was auf eine extrem unru¬hige Marktphase schließen
lässt. In den darauffolgenden Monaten sankdie ATR — unterbrochen von einigen
Gegenbewegungen —kontinuierlich auf deutlich unter 100.
ATR als Indikator für Aufbau von Positionen
Professionelle Anleger reagierten auf den massiven
ATR-Anstieg im Zuge des DAX-Kurseinbruches vermutlich mit einer deutlichen
Verringerung ihrer Positionsgröße und damit ihres Risikos. Dieses sukzessive
Downsizing lässt sich wiederum hervorragend mit dem Setzen von Stopps steuern.
Im Verlauf des dritten Quartals 2012 ist die Vola-tilität im deutschen
Leitindex bei tendenziell weiter fal¬lenden Kursen zurückgegangen, ehe der DAX
im Herbst 2012 seinenTiefststand erreicht hat. Parallel ist die ATR von über
300 auf unter 250 gesunken; sie fiel in der Folgezeit — abgesehen von einigen Rücksetzern
— weiter bis auf etwa 75. Folglich war die ATR in die¬ser Phase ein
hervorragender Indika¬tor, um die Position im DAX wieder peu ä peu aufzubauen
und anschlie-ßend vom breiten Kursaufschwung zu profitieren.
Im Prinzip lässt sich dieses Vor¬gehen auf jeden beliebigen
Kurs¬wert übertragen, wobei zu beachten ist, dass die Grenzwerte, ab denen man
von einer hohen/niedrigen ATR spricht nicht nur von der zugrunde
gelegten Zeitperiode, sondern
auch von der absoluten Kurshöhe abhängt. Ein Index wie der
DAX schwankt nach Punkten natürlich um ein Vielfaches im Vergleich zu einer
seiner Einzelwerte. Die Volkswagen-Aktie, die im April 2015 zeitweise bei über
250 Euro stand, verändert sich täglich — abgesehen von extremen Szenarien —
nach Punkten deutlich stärker als die Infineon Technologies AG, deren Kurs
zuletzt bei lediglich elf Euro notierte.
Der Chart in Bild 3 zeigt den Kurs¬und ATR-Verlauf von
Infineon in den vergangenen drei Jahren. Es gibt augenscheinlich Parallelen
zwischen den Verläufen des DAX und denen von
Infineon — sowohl was den normalen Kurs als auch die ATR
angehen. Doch genau wie sich die Höhe der absoluten Kurs-werte deutlich
unterscheidet, liegen auch die absoluten ATR-Werte weit auseinander. Sie waren
bei Infineon zwischen 0,1 (ruhige Marktphase) und 0,5 (unruhige Marktphase).
Jeder Basiswert mit charakteristischen ATR-Werten
So hat jeder Basiswert seine charakteristischen ATR-Werte,
die es zu berücksichtigen gilt. Wenn dieses Volatilitätsmaß richtig eingesetzt
wird, dann ist es auch für die scheuen Rehe unter den Anlegern ein geeignetes
Instrument, um die Scheuklappen ein Stück weit abzulegen. Eine Garantie
für Gewinne ist die ATR indes auch nicht.
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