Kongo
Ein Reisebericht von D.Selzer-McKenzie
Video: https://youtu.be/GQjF1AJh9X0
Der Flughafen N'djili in Kinshasa genießt keinen guten Ruf.
Berichte über böse Erfahrungen europäischer Einreisender liegen im Übermaß vor.
Ich habe mich im Vorfeld der Reise darauf vorbereitet, bin auf das Schlimmste
gefasst: schlep-pende Abfertigung, raffgierige Zöllner, willkürliche
Durch-suchungen des Gepäcks (natürlich mit der Möglichkeit, dass anschließend
etwas fehlt), entwendete Pässe (die nur noch gegen Zahlung irgendwelcher
Gebühren zurückerstattet werden), fehlendes Gepäck (das erst mithilfe von ein
paar Dollars auftaucht), Vertreter der Gesundheitsbehörde, die den Nachweis der
Gelbfieberimpfung nicht anerkennen wollen usw. Das alles in einer engen,
stickigen und he¬runtergekommenen Ankunftshalle. Es ist das alte Lied: Der
weiße Flugreisende als willkommenes Opfer! Aber es gibt Wunder in Afrika, und
zwar in beide Richtungen — gut wie übel.Jedenfalls staune ich nicht schlecht:
eine problemlose Einreise, keine Abzocke, keine nervige Anmache. Auch das
Gepäck wird zeitnah ausgeliefert.
Wie eine Schlange im Herzen Afrikas
Ich bin mit einer Gruppe von sechs Touristen in Kinshasa
an¬gekommen. Zwar hat uns der deutsche Reiseleiter im Stich gelassen, aber wir
sind nicht auf uns allein gestellt. Die ein¬heimischen Reiseführer Daballa und
Sambo haben es—aus Kamerun kommend — gerade noch rechtzeitig hierher
ge¬schafft, um uns in Empfang zu nehmen. Sie werden in den nächsten zwei Wochen
besorgte und wertvolle Begleiter sein. Es folgt eine nächtliche Autofahrt in
das 3o Kilometer ent¬fernte Zentrum von Kinshasa, genauer in die Sicherheit der
katholischen Missionsstation Sainte Anne. Die Unterkunft ist beliebt bei den
Angehörigen von Hilfsorganisationen. Günstig gelegen, bietet sie zwar einfache,
aber preiswerte und saubere Zimmer. Eine kleine Bar dient als abendlicher
Treffpunkt. In meinen Kindertagen, als ich anfing, mich für die Weite der Welt
zu interessieren, hieß die Stadt noch Leo¬poldville. Und das dazugehörige Land
Belgisch-Kongo. Der mächtige Kongo-Fluss beflügelte zusätzlich meine Fantasie.
Denn wie eine Schlange windet sich dieser zweitlängste Fluss Afrikas durch das
Herz des Kontinents. Mit einem Schwanz, der tief in den Süden hinunter baumelt,
einem Mittelstück, das sich nach Norden aufbäumt, und mit einem Kopf, der
westlich von Kinshasa den Südatlantik erreicht.
Nicht Stadt, nicht Dorf
Die geschätzt neun Millionen Einwohner machen Kinshasa zur
drittgrößten Stadt Afrikas (nach Kairo und Lagos). Aber eine Stadt im Sinne
europäischer Metropolen ist Kinshasa eigentlich nicht. Am Boulevard des 3o.
Juni deutet sich so et¬was wie eine großstädtische Bauweise an. Diese
beschränkt sich aber auf wenige Straßenzüge. Selbst im Zentrum sind die
Nebenstraßen unasphaltiert, steinig und unbeleuchtet. Eine Handvoll breiter,
mehrspuriger Schneisen — Avenuen oder Boulevards genannt— bilden die Hauptverkehrsadern
der Stadt. Links und rechts davon ein städtisches Weichbild aus
steinernen Häusern,windschiefen Hütten, Bretterbuden und
irgendwie Zusammengezimmertem. Eine nicht zu definie-rende Gemengelage: nicht
Stadt, nicht Dorf, aber immer und überall voller Menschen. Die Minderheit, die
etwas zu verlie¬ren hat, verschanzt sich in ihren Villen. Hinter hohen Mauern,
versehen mit Stacheldraht und Glasscherben.
In der Fläche erscheint diese Millionenstadt eher wie eine
Ansammlung riesiger Dörfer. Ein Meer von rostigen Well-blechdächern im Grün der
äquatorialen Hügellandschaft. „Kin" — so die ortsübliche Abkürzung — ist
eine Stadt, in der Slums und Armenviertel das Normale sind. Die meis¬ten
Bewohner dieses Molochs leben sprichwörtlich von der Hand in den Mund.
Kleinhandel dominiert, reguläre Beschäftigungsverhältnisse sind selten. Der
Staat selbst zahlt schlecht und unregelmäßig. Ein Umstand, der die grassierende
Korruption geradezu beflügelt. Kinshasa ist eine Stadt, in der so gut wie
nichts funktioniert, zumin¬dest nach europäischen Maßstäben. Selbst in den
besseren Vierteln der Stadt fällt — oft mehrfach täglich — der Strom aus. Wohl
dem, der sich ein Notstrom-Aggregat leisten kann. Das Wasser sollte man nicht
trinken. Kanalisation und regelmäßige Müllabfuhr sind zu vergessen. Es riecht
nach Kloake und Müllkippe.
Vermutlich gibt es in Kin mehr Handys als Toiletten. Vor
al-lem nach den üblichen tropischen Regenfällen verwandeln sich die städtischen
Feldwege in einen breiigen Morast. Ein funktionierendes Nahverkehrssystem fehlt
weitgehend. Staus sind an der Tagesordnung, zumal auch hier—wie in anderen
afrikanischen Großstädten — die Motorisierung schneller zunimmt, als es der
Ausbau der Infrastruktur ei-gentlich zulässt. Und dennoch: Die größte frankophone
Stadt auf dem Kontinent ist ein Magnet. Kinshasa zählt zu den am schnellsten
wachsenden Städten der Welt. Und das, obwohl die offenkundigen sozialen
Verwerfungen der Nor-malzustand sind.
Wo Europäer
verzweifeln
Millionen Menschen — was tun die eigentlich? Sie fahren,
warten, stehen, sitzen, schlafen. Wovon leben diese Millio-nen? Das Geheimnis
afrikanischer Ökonomie ... Die Produk-tivität ist gleich null. Es gilt, sich
durchzuschlagen mit dem Verkauf von ein paar Packungen Tempotaschentüchern, um
nur ein Beispiel zu nennen. Keine Touristen weit und breit. Die wenigen
Europäer, Amerikaner (und neuerdings Chine-sen) sind praktisch nur als
Geschäftsleute oder als Angehö¬rige von Hilfsorganisationen in Kinshasa
anwesend.
Nichts ist einfach in dieser Stadt und in diesem Land. Man
kann aber den Überlebenswillen, die Lebenskraft und das Improvisationsgeschick
dieser Menschen, die hier leben, nur bewundern. Man kann staunen darüber, wie
die widri-gen Alltagsumstände gemeistert werden. Wo Europäer ver-zweifeln würden,
entwickeln die Kongolesen dennoch eine Lebensfreude, die offenkundig nicht am
Wohlstand hängt. Aber Millionen wollen das Land lieber heute als morgen
ver¬lassen — wenn sie nur könnten.
Kriege, Massaker und Zerstörung
Seit dem Sturz des grausamen Diktators Mobutu im Jahr 1997
nennt sich das zweitgrößte Land Afrikas Demokrati-sche Republik Kongo. Das
Beiwort „demokratisch" hätte man sich schenken können, daran glaubt
ohnehin niemand. Mehr als andere Regionen Afrikas hatte der Kongo unter
kolonialen Verbrechen zu leiden, die einem noch heute den Atem rauben können.
Aber auch nach der Unabhängigkeit 1961 ist dieser „Bauch des afrikanischen
Kontinents" nie zur Ruhe gekom¬men. Im Gegenteil: Eine schier nicht enden
wollende Abfolge von Kriegen, Massakern, Zerstörungen, politischen Morden hat
die Lebens¬grundlage der Menschen zerrüttet.
70 Centaur
Die brauchbare Infrastruktur der Kolonie wurde ruiniert. Und
die Milliarden an Entwicklungshilfe haben sich buchstäblich in Luft aufgelöst.
Auf dem Human Development Index der UNO steht das Land auf dem hintersten Rang.
Die durch¬schnittliche Lebenserwartung liegt bei nur 5o Jahren. Trotz der
Segnungen mit fruchtbaren Böden und mit Rohstoff¬reichtümern regieren bis heute
Armut, erdrückende Korrup¬tion, marodierende Banden und eine unfähige
Politikerkaste nebst ausufernder Staatsbürokratie. Mit anderen Worten: Das Land
ähnelt in vielerlei Hinsicht dem, was man einen zerfallenden Staat nennt.Wer in
die Abgründe der kongolesi¬schen Vergangenheit und Gegenwart eintauchen, wer
mehr über den alltäglichen Irrsinn, aber auch über die Vitalität der
kongolesischen Gesellschaft erfahren möchte, der sei a uf das vorzügliche Buch
„Kongo" des flämischen Historikers David van Reybrouck hingewiesen.
Foto-Erlaubnis für jeden Ort
Der Kongo gilt unter Globetrottern als eines der am
schwie¬rigsten zu bereisenden Länder der Welt. Die fehlende tou¬ristische
Infrastruktur ist dabei das eine, ebenso die nicht zu unterschätzende
Alltagskriminalität und das beständig feucht-heiße Klima, die gesundheitlichen
Herausforderun¬gen. Die fortgesetzte Belästigung durch Uniformträger und
Offiziel¬le ist das andere. Diese sehen im Weißen stets eine günstige
Ge¬legenheit, das knapp bemessene Monatsgehalt aufzubessern.
Ich persönlich habe noch keine Re¬gion erlebt, in der das
Fotografie¬ren dermaßen erschwert wird wie im Kongo, sieht man vielleicht von
der früheren Sowjetunion ab, wo
So stellt man sich dort die Zukunft vor: „Lasst uns die
Steuern für einen modernen Kongo zahlen"
der Spionageverdacht gegenüber dem Fremden allgegen-wärtig
war.Theoretisch braucht man für jeden (!) Ort ein „Foto-Permit", also eine
spezielle Erlaubnis. Kostenpunkt jeweils zo Dollar. So schreibt es Sean Rorison
im „Bradt-Reiseführer". Ich habe die Probe aufs Exempel nicht gemacht. Aber
un¬sere afrikanischen Begleiter haben uns ein ums andere Mal vor dem
Fotografieren gewarnt: keine Uniformträger, keine Offiziellen jeglicher Art,
keine Flughäfen, keine Brücken, kei¬ne Hafenanlagen, keine Grenzabfertigungen,
keine Minis¬terien, keine Botschaften, keinen Präsidentenpalast — und
Militäranlagen sowieso nicht. Man ist also gut beraten, die Kamera möglichst
unauffällig zu nutzen.Aber irgendjemand wird den europäischen Touristen immer
beobachten, aufge¬brachte Reaktionen inbegriffen.
Die Macht des Stempels
Hier am Kongo ist der einzige Ort auf der Welt, wo sich zwei
Hauptstädte gegenseitig ansehen können. Kinshasa auf der südlichen Seite und
Brazzaville, Hauptstadt der Republik Kongo, auf der nördlichen. Dazwischen
liegt der Kongo-Fluss, ungefähr drei bis vier Kilometer breit. Aber wer glaubt,
es sei ein Leichtes, den Fluss zu überqueren, hat sich geirrt. Selbst wenn alle
Papiere vollständig und korrekt sind. Wer glaubt, er könne gegen die
ungeschriebenen Gesetze der
Kong Report
Korruptionskultur verstoßen, der kann lange warten. Ohne
Mittelsmänner läuft nichts. Zwei Stunden vor der Überque-rung werden die Pässe
durch einen Agenten zur Fährstati¬on gebracht. Dort werden die
Grenzformalitäten erledigt. Wer was wo erledigt — man weiß es nicht! Aber was
man weiß: Dass der Stempel in Afrika Macht bedeutet! Kein Of¬fizieller gibt ihn
aus der Hand. Dieser Umstand hemmt die Abwicklung eines jeden bürokratischen
Vorgangs. Was wir Europäer als Missbrauch einer Funktionsstelle verstehen, ist
nach afrikanischen Maßstäben ein Teil der Alltagskultur. Also ganz normal.
Eine kafkaeske Situation: Wir werden durch einen düsteren,
vergitterten Gang geschleust. Wie Gefängniszellen. Dann am Fluss: wieder alles
vergittert. Der Steg in Sichtweite. Von einem fahrplanmäßigen Fährbetrieb, wie
man sich ihn zwi¬schen Millionenstädten vorstellen könnte, keine Spur. Kleine,
private Boote übernehmen die FahrtTeuer! Genauso wie die Abfertigung.
Irgendjemand kommt mit den Pässen. Die ei¬serne Kette am Gittertor wird
geöffnet. Noch einmal werden die Pässe kontrolliert. Dann kann es losgehen.
Aber zu wel¬chem Preis? Die Nichtregierungsorganisation Transparency
International zählt die Demokratische Republik Kongo zu
den korruptesten Ländern der Welt.
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