Aufklärungsunterricht heute
Author D.Selzer-McKenzie
Video: http://youtu.be/yG7GkD8JqVg
Eigentlich klang die Sache harmlos. „Rio Tipps für eine
Hammer-Ausstrah-4
lung" hatte die Zeitschrift „Bravo"
Anfang Juli auf ihrer Internetseite veröffentlicht, die Redaktion riet zu
Lipgloss, Rouge, Wim-perntusche und Zahnpflegekaugummis. Aber eben auch zu
Verhaltensweisen, die sie als „mädchenhaft und ziemlich süß" bezeichnete.
Tipps wie „Ahme seine Gesten nach", „Guck Jungs eher immer leicht von
unten an" oder „Stolpere in deinen Schwarm hinein - er wird dich total
niedlich finden, weil du ein kleiner Tolpatsch bist" wurden nicht nur auf
Face-book und Twitter heftig kritisiert, sondern auch in zahlreichen anderen
Medien. „Bravo" nahm den Beitrag schließlich von der Web-site und entschuldigte
sich.
Warum? Während die „Bravo"-üblichen Fotos nackter
Teenager oder die Sexualaufldä-rung des seit 1969 aktiven „Dr. Sommer
Teams" der Zeitschrift längst niemanden mehr aufregen, sind Ratschläge,
die auf ein von Ungleichheit geprägtes Geschlechterver-hältnis hinauslaufen,
für viele Leser ein rotes Tuch. Anstößig sind nicht mehr die biologi¬schen
Tatsachen, sondern die seltsame Vor¬stellung, dass derjenige eher geliebt und
ak¬zeptiert wird, der sich klein macht, seinen Schwarm anhimmelt und den süßen
Tol-patsch gibt - vor allem, wenn entsprechende Ratschläge mit der Autorität
von Erwachse¬nen an junge Leser ergehen.
Wie sensibel diese Diskussion ist, lässt sich besonders gut
im Bereich der Schule beobach¬ten. In Baden-Württemberg führte ein
The¬senpapier zur „sexuellen Vielfalt", das im Zuge des anstehenden neuen
Bildungsplans erstellt worden war, im vergangenen Jahr zu heftigen Protesten
und einer vielfach unter¬zeichneten Online-Petition - befürchtet wur¬de das
Propagieren einer neuen Sexualmoral, bei der alle Varianten der Sexualität als
neue. Norm gelehrt und der Ehe zwischen Mann und Frau gleichgestellt würden. In
Venedig ließ der neu gewählte Bürgermeister Luigi Brugnaro dann auch im Sommer
Bücher aus Schulbibliotheken entfernen, die gleichge-schlechtliche Paare
zeigen, und berief sich da¬bei auf die Mehrheitsmeinung der Bürger.
Beide Seiten, Befürworter wie Gegner von Bildungsplan und
Bilderbüchern, haben im¬merhin eines gemeinsam: Sie glauben daran, dass der
Unterricht oder das Anschauen von Illustrationen etwas bewirkt - und zwar in
ei¬nem Bereich, der den Kern der. Persönlich¬keit betrifft. Andere sind da
skeptisch. „Nie¬mand wird wegen des Bildungsplans schwul oder hetero",
sagte im vergangenen Jahr der damalige Vorsitzende des Landesschülerbei-rats,
Christian Stärk.
Dass es allerdings überhaupt zu dieser Dis¬kussion kommt,
liegt am grundlegend gewan¬delten Charakter des Sexualkundeunterrichts, seit
dieses Fach 1969, also gleichzeitig mit
dem Debüt des Dr.-Sommer-Teams, in den Schulen der Bundesrepublik
eingeführt wor¬den ist - in Ostdeutschland war es allerdings schon 22 Jahre
früher im Biologieunterricht unter dem Titel „Fortpflanzung" so weit.
Eltern, die sich dagegen wehrten und ihren Kindern die
Teilnahme verbieten wollten, scheiterten damit regelmäßig. So stellte im
Ja¬nuar 2004 das Hamburger Verwaltungsge¬richt klar, dass niemand aus
weltanschauli¬chen Gründen dem Aufklärungsunterricht fernbleiben dürfe. Denn
Eltern hätten zwar das Recht, ihre Kinder nach ihren eigenen Vorstellungen zu
erziehen, so wie es damals die muslimische Klägerin für ihre beiden Töchter im
Teenageralter reklamierte. Und sie müssten auch vor unerwünschter
Einfluss¬nahme auf ihre Erziehung von Seiten der Schule geschützt werden. Doch
im Interesse der Vermittlung von Wissensstoff sei es den Eltern zuzumuten,
partielle Abstriche an ih¬rer Weltanschauung hinzunehmen, heißt es in der
Urteilsbegründung. Dabei ist es geblie¬ben, bis heute. Überall sehen die
Richtlinien der Kultusministerien zwar vor, dass die El¬tern ausführlich informiert
werden, bevor ihre Kinder mit dem Sexualkundeunterricht anfangen. Sie werden
auch gehört, wenn sie Einwände haben. Aber am Ende bestimmt die Schule, was im
Klassenzimmer geschieht.
Was aber, wenn es gar nicht mehr nur um die Vermittlung von
Wissensstoff geht? Schon das Hamburger Gericht hatte seiner¬zeit eingeräumt,
die Grenze zwischen reiner Faktenvermittlung und wertender Einstellung zum
Thema Sexualität lasse sich schwer zie¬hen. Das gilt besonders, wenn
Sexualerzie¬hung als fächerübergreifender Unterricht an¬gelegt ist - in
Rheinland-Pfalz etwa in den Fä¬chern Deutsch, Ethik, Sozialkunde, Sport und
Biologie. Ausdrücklich dagegen richtet sich dann auch der Protest in
Baden-VViirttem-berg: Die Geschlechtererziehung dürfe im neuen Bildungsplan nicht
aus dem Biologie¬unterricht in geisteswissenschaftliche Fächer verschoben
werden.
Allerdings ist das kaum zu vermeiden, will man, wie in
Rheinland-Pfalz, Sexualer¬ziehung ausdrücklich als „Sozialerziehung"
durchführen. Ziel eines solchen Unterrichts sei dann nicht nur der Zugang zu
dem für ein Leben mit Sexualität notwendigen Wissen ¬also etwa Verhütung oder
Schutz vor sexuell übertragbaren Krankheiten. Es gehe gleichzei¬tig darum, dass
die Schüler dem Sexualverhal¬ten anderer Menschen Respekt und Toleranz
entgegenbringen, auch wenn es sich von der eigenen sexuellen Orientierung
unterschei¬det. Und schließlich sollen Schüler Medien¬kompetenz erlangen, um
etwa die leicht zu¬gänglichen pornographischen Darstellungen, als Konstrukte
einordnen zu können. Auch darauf hatte das Hamburger Gericht in sei¬ner
Urteilsbegründung verwiesen - die Klä¬gerin lebe eben nicht in einem luftleeren
Raum, sondern in einer Gesellschaft, mit de¬ren Phänomenen auch ihre Töchter
konfron¬tiert seien.
Tatsächlich ist dieser Punkt eine überzeu-gende Antwort auf
die Frage, warum es ange-sichts einer Flut von Bildern, Filmen und Bü-chern,
die allesamt Sexualität in der einen oder anderen Form thematisieren, überhaupt
noch Aufklärungsunterricht braucht. Doch ehenso wichtig wie die Entscheidung,
was denn im Einzelnen unterrichtet werden soll, ist die über die Form des
Unterrichts. Dass es beim Sprechen über Sexualität ziemlich pein¬lich werden
kann, wissen Schüler wie Erwach¬sene, und wer etwa permanent das Schamge¬fühl
derer verletzt, die er unterrichten will, wird ihnen nicht sehr viel vermitteln
können.
Wie sich das vermeiden lässt, hat etwa die Sexualpädagogin
Katharina von der Gathen in einem vielbeachteten Projekt mit Grund-schülern
gezeigt. Sie stellte eine Box in die Klasse, in die jedes Kind einen Zettel mit
ei¬ner Frage zur Sexualität werfen konnte. Ana-nonym - und jede Frage wurde
beantwortet. Daraus ist inzwischen ein Buch geworden, so dass sich verfolgen
lässt, was die Kinder wis¬sen wollten: „Was ist ein Kondom", „Wie vie¬le Samen
Prodozirt der Man" oder „Wie ha¬ben Tiere Sex" waren darunter, aber
auch „Was ist sexuelle Belästigung", „Können Les¬ben Kinder kriegen"
oder „Können Kinder schwul sein". Die Antworten sind ausführlich, nüchtern
und dem Toleranzgedanken ver¬pflichtet. Vor allem aber orientieren sie sich am
Horizont der Fragenden.
In eine Diskussion, die von der Angst vie¬ler Eltern geprägt
ist, ihre Kinder könnten im Unterricht weltanschaulich indoktriniert werden,
müsste ein Ansatz, der umgekehrt
von Schule fi agen ausgeht
und sie möglichst
sachlich beantwortet, eigentlich Rnhe brin¬gen können.
Bewährt ist er außerdem_ schlie߬lich setzte schon das Dr.-Sommer-Team der
„Bravo" darauf, Leserfragen zur Sexualität öf-fentlich zu beantworten. Bei
näherem Hinse-hen sind dann auch die „wo Tipps fier eine
Hammer-Ausstrahlung" der Zeitschrift nicht ganz so skandalös, wie es
scheint Denn ne¬ben den inkriminierten Ratschlägen. sich un-terzuordnen, finden
sich auch ein paar ande¬re: ,Je entspannter du deinem Aussehen ge¬genüber bist,
umso schöner wirkst du-, heißt es da oder: "Mach nicht jeden Trend
mit!" Der wichtigste Tipp ist der letzte in der Liste: „Sei du
selbst!" Wenigstens darauf sollten sich alle Sexualaufklärer einigen
können
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen
Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.