Mittwoch, 2. September 2015

Aufklärungsunterricht heute


Aufklärungsunterricht heute

Author D.Selzer-McKenzie

Video: http://youtu.be/yG7GkD8JqVg

Eigentlich klang die Sache harmlos. „Rio Tipps für eine Hammer-Ausstrah-4

             lung" hatte die Zeitschrift „Bravo" Anfang Juli auf ihrer Internetseite veröffentlicht, die Redaktion riet zu Lipgloss, Rouge, Wim-perntusche und Zahnpflegekaugummis. Aber eben auch zu Verhaltensweisen, die sie als „mädchenhaft und ziemlich süß" bezeichnete. Tipps wie „Ahme seine Gesten nach", „Guck Jungs eher immer leicht von unten an" oder „Stolpere in deinen Schwarm hinein - er wird dich total niedlich finden, weil du ein kleiner Tolpatsch bist" wurden nicht nur auf Face-book und Twitter heftig kritisiert, sondern auch in zahlreichen anderen Medien. „Bravo" nahm den Beitrag schließlich von der Web-site und entschuldigte sich.

Warum? Während die „Bravo"-üblichen Fotos nackter Teenager oder die Sexualaufldä-rung des seit 1969 aktiven „Dr. Sommer Teams" der Zeitschrift längst niemanden mehr aufregen, sind Ratschläge, die auf ein von Ungleichheit geprägtes Geschlechterver-hältnis hinauslaufen, für viele Leser ein rotes Tuch. Anstößig sind nicht mehr die biologi¬schen Tatsachen, sondern die seltsame Vor¬stellung, dass derjenige eher geliebt und ak¬zeptiert wird, der sich klein macht, seinen Schwarm anhimmelt und den süßen Tol-patsch gibt - vor allem, wenn entsprechende Ratschläge mit der Autorität von Erwachse¬nen an junge Leser ergehen.

Wie sensibel diese Diskussion ist, lässt sich besonders gut im Bereich der Schule beobach¬ten. In Baden-Württemberg führte ein The¬senpapier zur „sexuellen Vielfalt", das im Zuge des anstehenden neuen Bildungsplans erstellt worden war, im vergangenen Jahr zu heftigen Protesten und einer vielfach unter¬zeichneten Online-Petition - befürchtet wur¬de das Propagieren einer neuen Sexualmoral, bei der alle Varianten der Sexualität als neue. Norm gelehrt und der Ehe zwischen Mann und Frau gleichgestellt würden. In Venedig ließ der neu gewählte Bürgermeister Luigi Brugnaro dann auch im Sommer Bücher aus Schulbibliotheken entfernen, die gleichge-schlechtliche Paare zeigen, und berief sich da¬bei auf die Mehrheitsmeinung der Bürger.

Beide Seiten, Befürworter wie Gegner von Bildungsplan und Bilderbüchern, haben im¬merhin eines gemeinsam: Sie glauben daran, dass der Unterricht oder das Anschauen von Illustrationen etwas bewirkt - und zwar in ei¬nem Bereich, der den Kern der. Persönlich¬keit betrifft. Andere sind da skeptisch. „Nie¬mand wird wegen des Bildungsplans schwul oder hetero", sagte im vergangenen Jahr der damalige Vorsitzende des Landesschülerbei-rats, Christian Stärk.

Dass es allerdings überhaupt zu dieser Dis¬kussion kommt, liegt am grundlegend gewan¬delten Charakter des Sexualkundeunterrichts, seit dieses Fach 1969, also gleichzeitig mit

 

dem Debüt des Dr.-Sommer-Teams, in den Schulen der Bundesrepublik eingeführt wor¬den ist - in Ostdeutschland war es allerdings schon 22 Jahre früher im Biologieunterricht unter dem Titel „Fortpflanzung" so weit.

Eltern, die sich dagegen wehrten und ihren Kindern die Teilnahme verbieten wollten, scheiterten damit regelmäßig. So stellte im Ja¬nuar 2004 das Hamburger Verwaltungsge¬richt klar, dass niemand aus weltanschauli¬chen Gründen dem Aufklärungsunterricht fernbleiben dürfe. Denn Eltern hätten zwar das Recht, ihre Kinder nach ihren eigenen Vorstellungen zu erziehen, so wie es damals die muslimische Klägerin für ihre beiden Töchter im Teenageralter reklamierte. Und sie müssten auch vor unerwünschter Einfluss¬nahme auf ihre Erziehung von Seiten der Schule geschützt werden. Doch im Interesse der Vermittlung von Wissensstoff sei es den Eltern zuzumuten, partielle Abstriche an ih¬rer Weltanschauung hinzunehmen, heißt es in der Urteilsbegründung. Dabei ist es geblie¬ben, bis heute. Überall sehen die Richtlinien der Kultusministerien zwar vor, dass die El¬tern ausführlich informiert werden, bevor ihre Kinder mit dem Sexualkundeunterricht anfangen. Sie werden auch gehört, wenn sie Einwände haben. Aber am Ende bestimmt die Schule, was im Klassenzimmer geschieht.

Was aber, wenn es gar nicht mehr nur um die Vermittlung von Wissensstoff geht? Schon das Hamburger Gericht hatte seiner¬zeit eingeräumt, die Grenze zwischen reiner Faktenvermittlung und wertender Einstellung zum Thema Sexualität lasse sich schwer zie¬hen. Das gilt besonders, wenn Sexualerzie¬hung als fächerübergreifender Unterricht an¬gelegt ist - in Rheinland-Pfalz etwa in den Fä¬chern Deutsch, Ethik, Sozialkunde, Sport und Biologie. Ausdrücklich dagegen richtet sich dann auch der Protest in Baden-VViirttem-berg: Die Geschlechtererziehung dürfe im neuen Bildungsplan nicht aus dem Biologie¬unterricht in geisteswissenschaftliche Fächer verschoben werden.

Allerdings ist das kaum zu vermeiden, will man, wie in Rheinland-Pfalz, Sexualer¬ziehung ausdrücklich als „Sozialerziehung" durchführen. Ziel eines solchen Unterrichts sei dann nicht nur der Zugang zu dem für ein Leben mit Sexualität notwendigen Wissen ¬also etwa Verhütung oder Schutz vor sexuell übertragbaren Krankheiten. Es gehe gleichzei¬tig darum, dass die Schüler dem Sexualverhal¬ten anderer Menschen Respekt und Toleranz entgegenbringen, auch wenn es sich von der eigenen sexuellen Orientierung unterschei¬det. Und schließlich sollen Schüler Medien¬kompetenz erlangen, um etwa die leicht zu¬gänglichen pornographischen Darstellungen, als Konstrukte einordnen zu können. Auch darauf hatte das Hamburger Gericht in sei¬ner Urteilsbegründung verwiesen - die Klä¬gerin lebe eben nicht in einem luftleeren Raum, sondern in einer Gesellschaft, mit de¬ren Phänomenen auch ihre Töchter konfron¬tiert seien.

Tatsächlich ist dieser Punkt eine überzeu-gende Antwort auf die Frage, warum es ange-sichts einer Flut von Bildern, Filmen und Bü-chern, die allesamt Sexualität in der einen oder anderen Form thematisieren, überhaupt noch Aufklärungsunterricht braucht. Doch ehenso wichtig wie die Entscheidung, was denn im Einzelnen unterrichtet werden soll, ist die über die Form des Unterrichts. Dass es beim Sprechen über Sexualität ziemlich pein¬lich werden kann, wissen Schüler wie Erwach¬sene, und wer etwa permanent das Schamge¬fühl derer verletzt, die er unterrichten will, wird ihnen nicht sehr viel vermitteln können.

Wie sich das vermeiden lässt, hat etwa die Sexualpädagogin Katharina von der Gathen in einem vielbeachteten Projekt mit Grund-schülern gezeigt. Sie stellte eine Box in die Klasse, in die jedes Kind einen Zettel mit ei¬ner Frage zur Sexualität werfen konnte. Ana-nonym - und jede Frage wurde beantwortet. Daraus ist inzwischen ein Buch geworden, so dass sich verfolgen lässt, was die Kinder wis¬sen wollten: „Was ist ein Kondom", „Wie vie¬le Samen Prodozirt der Man" oder „Wie ha¬ben Tiere Sex" waren darunter, aber auch „Was ist sexuelle Belästigung", „Können Les¬ben Kinder kriegen" oder „Können Kinder schwul sein". Die Antworten sind ausführlich, nüchtern und dem Toleranzgedanken ver¬pflichtet. Vor allem aber orientieren sie sich am Horizont der Fragenden.

In eine Diskussion, die von der Angst vie¬ler Eltern geprägt ist, ihre Kinder könnten im Unterricht weltanschaulich indoktriniert werden, müsste ein Ansatz, der umgekehrt

von Schule  fi agen ausgeht und sie möglichst

sachlich beantwortet, eigentlich Rnhe brin¬gen können. Bewährt ist er außerdem_ schlie߬lich setzte schon das Dr.-Sommer-Team der „Bravo" darauf, Leserfragen zur Sexualität öf-fentlich zu beantworten. Bei näherem Hinse-hen sind dann auch die „wo Tipps fier eine Hammer-Ausstrahlung" der Zeitschrift nicht ganz so skandalös, wie es scheint Denn ne¬ben den inkriminierten Ratschlägen. sich un-terzuordnen, finden sich auch ein paar ande¬re: ,Je entspannter du deinem Aussehen ge¬genüber bist, umso schöner wirkst du-, heißt es da oder: "Mach nicht jeden Trend mit!" Der wichtigste Tipp ist der letzte in der Liste: „Sei du selbst!" Wenigstens darauf sollten sich alle Sexualaufklärer einigen können

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