Bergwandern am Lappland-Fjäll
Author D.Selzer-McKenzie
Video: http://youtu.be/1woTzLwB6LM
weit oben betrachtet, scheint der Fall eindeutig. Die
Landschafts-Masern sind wieder da. Jahr für Jahr brei¬ten sie sich im
Spätsommer am Lappland-Fjäll aus. Erst sind es nur verein¬zelte, signalfarbene
Sprenkel. Dann wer¬den sie zu Linien, scharen sich zusammen. Wenig später lösen
sie sich in Luft auf.
Die wenigen Menschen, die in der Gebirgstundra zwischen
Nikkaluokta und Abisko umgeben von Moortümpeln und bisweilen schroffen
Granitspitzen woh¬nen, haben sich an den Einfall gewöhnt. Wenn es soweit ist,
machen sie sich ans Werk: erlegen das eine oder andere Ren¬tier, zerteilen das
Fleisch und bieten es als Rentier-Burger oder Geschnetzeltes in ei¬ner
Teigtasche den Fremdlingen dar.
4000 Stiefel im Anmarsch
»Fjällräven Classic« heißt das Geschehen, das sich
alljährlich im Schatten des mit 2104 Metern höchsten schwedischen Berges
Kebnekaise abspielt: ein Weit-Wander-Wettbewerb. Die orangefarbe¬nen
Stoffwimpel tragen die Teilnehmer an ihren Rucksäcken, damit sie nicht verloren
gehen in der Wildnis. Viel¬leicht aber auch, um so etwas wie eine Corporate
Identity beim Mehr-Tage-Lauf herzustellen. Denn Angst vor der Ge¬meinschaft
sollte nicht haben, wer sich zur Teilnahme entschließt. Wer das ein-zigartige
Natur- und Wildnis-Erleben im Norden Europas nicht teilen will, sollte sich
eine andere Woche zum Wandern in Lapplands Bergen aussuchen. Schlie߬lich gehen
im Laufe von drei Starttagen mehr als 2000 Paar Trekking-Stiefel auf die
110-Kilometer-Distanz.
Der Start: Am Ende einer winzigen Straße, mitten im
Nirgendwo Schwe¬disch-Lapplands. Rundherum von den diversen Eiszeiten
malträtierte Wildnis: Weite Trogtäler mit dunkelblauen Se¬en darin,
glattgeschliffene Berge, nur manchmal spitzt eine schroffe, braune Felsspitze
hervor. Die Stimmung am Startplatz: wie bei einem Volkslauf. Die gemächlicheren
Wanderer stopfen ihre Habseligkeiten in riesige Rucksäcke, die Läufer bereiten
sich mit Dehnübungen auf die Mega-Distanz vor. Der Schnellste wird in diesem
Jahr die knapp 110 Kilo¬meter in nicht mal 14 Stunden zurückle-
Der Schnellste wird die 110 Kilometer in 14 Stunden am Stück
zurücklegen, der langsamste in 166 - fast eine ganze Woche,
gen — am Stück. Mit Gemütlichkeit ver¬sucht es ein anderer:
In 166 Stunden, also fast einer vollen Woche, absolviert der langsamste
Wett-Trekker die Überque¬rung des Fjälls. Die meisten Teilnehmer nehmen sich
drei, vier oder fünf Tage Zeit für die Strecke. Volkswandertage mit Schlafsack,
Isomatte und Zelt.
Uhrzeit zweitrangig
So blickt auch kaum jemand auf die Uhr, als das rot-weiße
Flatterband vor der ers¬ten Startergruppe auf den Boden fällt. Nach nicht mal
fünf Kilometern der erste Stopp: Auf einem großen Grill bereiten die
Rentierhalter heimische Kost. Im Akkord stopfen die samischen Frauen am »Lap
Dänalds« Rentier-Buletten in aufgeschnit¬tene Brötchen. Ein Verkaufsschlager
an¬gesichts der Tüten-Trocken-Nahrung, die es in den kommenden Tagen geben
wird.
Der Marsch führt durch eine men-schenleere
Gebirgslandschaft. Die Begeg-nung mit den Ureinwohnern Lapplands ist dabei
unvermeidlich. Besonders in einem nassen und kühlen Sommer wie diesem. Der
verhilft nämlich Myriaden von Mücken zum Leben. Wildnisführer Mattias Tarestad,
der eine Gruppe bei dem Rennen begleitet, flucht: »Es gibt viel mehr Moskitos
als normal, weil wir im Juli starke Regenfälle hatten. Wasser mögen die Mücken.
Aber noch mehr mögen sie Blut. Von Rentieren, und am liebsten von Menschen.«
Der gierigen Plagegeister kann man sich auf manchen Etappen kaum erwehren. Immerhin
gibt es auf den höher gelegenen Wegabschnit¬ten Ruhe vor den kleinen
Blutsaugern.
Tagelang geht es über Stock und Stein, meist entlang dem
legendären Königsweg, dem Kungsleden. Die berühmte Wander¬tour bietet »Wildnis
light«. Denn so tief die Route auch ins schwedische Fjäll
Bei der Schlafplatz-suche herrscht freie Auswahl. Allerdings
muss das Zelt selbsi getragen werden 4
4
- wie auch der Rest.
hineingeht: Immer ist ein kleiner Pfad zu sehen. Wegweiser,
Steinpyramiden oder rote Holzkreuze markieren die Richtung. Und so wird der
»Fjällräven Classic« von vielen Trekkern als Einstieg ins Weitwan-dem genutzt.
Im Schutz der Masse kann man gut erste Erfahrungen machen und nicht jede Panne
wird hier gleich zur Ka-tastrophe. Eines aber muss man wissen: Wer erst mal
gestartet ist, muss aus eige-ner Kraft wieder zurück in die Zivilisation
kommen. Nur per pedes geht es zum Not¬ausgang, dem Start oder Ziel.
Kontrollen in der Wildnis
Übernachtet wird im Zelt, und das muss selbst getragen
werden. Bei der Schlaf-platzsuche herrscht freie Auswahl. Viele Teilnehmer
bevorzugen die großen Wie-sen nahe den Hütten des Schwedischen
Touristenvereins. Dort ist am Abend Ge-selligkeit und internationaler Austausch
geboten. Andere entscheiden sich für Plätze etwas abseits: wildromantisch auf
einem Hügel, einsam auf einer Mini-Landzunge an der Biegung eines Flusses.
Alle paar Stunden gibt's eine Kontroll¬stelle. Hier muss der
Wanderpass gestem¬pelt werden. Immer werden die Ankom¬menden herzlich begrüßt.
Häufig warten kleine Leckerlis, um die Wett-Wanderer
bei Laune zu halten: Suovas — ein Wrap mit Rentierfleisch
und Kartoffelpüree dar-in — oder heiße Waffeln mit Sprühsahne_ Mmmh, so macht
Wildnis Spaß!
Elf Gipfel mit mehr als 2000 Meter stehen in Schweden, alle
in Lappland_ Die meisten rund um den Kebnekaise, az dessen Flanken Teile des
Kungsleden —und damit auch der »Fjällräven Classic< — entlang führen. Die
Natur ist abwechs-lungsreich auf dem Trail. Üppig grüne Gebirgswälder wechseln
sich mit den wei-ßen Fahnen von Wollgras in den moorig-feuchten Niederungen ab.
Über Tage zieht sich der Pfad durch die karge Bergtundra mit seinem gerade
knöchelhohen Ge¬strüpp. Am Ende taucht der Weg in die dichten Birkenwälder der
Seenlandschaft rund um den Torneträsk ein.
Fern der Zivilisation
Einer der zivilisationsfernsten Punkte Schwedens liegt am
Tjäktja-Pass, den die meisten Läufer am dritten Tourentag pas-sieren. »1140
Meter über dem Meer« klärt ein Holzschild am höchsten Punkt der Tour auf.
Mattias Tarestad zeigt auf seine Wanderkarte: »Schaut her, mindestens 50
Kilometer sind es in jede Richtung bis zur nächsten Straße.« Hinter dem Tj
2c-tja-Pass wartet über Stunden erst mal eine Steinwüste. Graue Felsbrocken
zuhauf. Ein beschwerliches Stück Weg, bevor es wieder ein bisschen grüner wird.
Bis zu 30 Kilometer Strecke am Tag machen das Wett-Wandern
für viele zum Gewaltmarsch. Blessuren treten auf, und dann terrorisieren auch
noch Mega-Mü-ckenschwärme die Power-Walker. Doch irgendwann naht die Erlösung.
Die letzte Kontrollstelle noch, dann kommen die sil¬bergrauen Dächer von Abisko
im lichten Birkenwald in Sicht. Und schließlich der Zieleinlauf unter großem
Jubel. Immer¬hin: Eine kleine Belohnung bekommt je¬der nach dem Wildnismarsch —
egal, wie lange er für die 110 Kilometer gebraucht hat. Das goldene Blech am
rot-weißen Bande: kleiner Lohn für die Mühe.
Eine Woche dauert das Spektakel. Danach sind die Mücken
wieder fast die Einzigen, die unter der Nordlandsonne unterwegs sind. Die
Landschaft erholt sich vom Rot-Flecken-Fieber. Die Tupfer sind verschwunden.
Keine Krankheit, al-lenfalls ein Wehwehchen ohne Folgen
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