Das Dorf
Author D.Selzer-McKenzie
Video: http://youtu.be/1S2NF-5Pl5g
Stirbt sie oder stirbt sie nicht, die deutsche Provinz? Die
Prognosen sind schlecht,
aber das sind sie schon seit Jahrzehnten, und doch fanden
GEO-Reporter auf einer Reise
über Land kräftige, zukunftsfrohe Dörfer. Und kämpferische.
Überall trafen sie
auch auf existenzielle Fragen: Sollten wir schwache Regionen
um jeden Preis beleben?
Oder sie aufgeben und menschenleere Naturparadiese schaffen?
Das soll ein Dorf sein? Nicht eine Milchkuh lebt mehr in
Bockholte, es kräht kein Hahn. Katzen schnurren auf Fenstersimsen, statt Mäuse
aus Scheunen zu jagen. Die wurden längst abgerissen, nur ein Bauernhof blieb im
Dorfkern. Tagsüber ist es still. Kein Laden, kein Arzt, kein Cafe zieht
Men-schen an. Rentner schnippeln an ihren Hecken und beäugen jedes
vorbeifahrende Auto. Selbst die Kirche öffnet nur noch sporadisch, das
Wirtshaus, vor dem die Bau¬ern früher auf dem Rückweg vom Feld ihre Traktoren
parkten, im¬merhin am Wochenende.
Dörfer waren einst stolz auf ihre Eigenständigkeit,
Bockholte im Emsland ist stolz, am Leben zu sein, und zwar in voller Pracht:
622 Einwohner, gut ein Viertel mehr als vor 20 Jahren, Tendenz steigend - und
das in Zeiten, in denen alle Welt vom „Sterben der Dörfer" spricht. In
Bockholte sind die Klinkerhäuser großzügig, die Buchsbäumchen davor in
Herz¬form frisiert, aus Gemüse- sind Ziergärten geworden.
Die Landwirtschaft, die jahr-hundertelang das Leben in
Bock-holte wie in allen Dörfern geprägt hat, ist weitestgehend aus dem Ortskern
verschwunden. Elf Land¬wirte mästen außerhalb Zehntau¬sende Ferkel, Hühner,
Puten in Hightech-Ställen mit Entlüftungs¬rohren auf dem Dach. Das Wort
„Massentierhaltung" nimmt indes kein Dorfbewohner in den Mund. Wenn überhaupt
sticheln sie: Wer nicht einmal sein eigenes Stroh fürs
Futter einbringt, sei kein echter Bauer mehr. Um den Ort
herum wächst Mais, meterhoch, bis zum Horizont.
Die meisten Bockholter arbeiten in der Industrie, bei Krone
im Nachbarort, der dort Lastwagenanhänger produziert. Oder sind angestellt bei
Firmen, die Futter zu Fleisch „veredeln": sprich in der Viehzucht oder
Wurstherstellung, im Stallbau oder dem Vertrieb von Tierpharmazie. „Deren Boom
hat uns gerettet", sagt Wilhelm Lünswilken, Bauernsohn, ehemaliger
Milch¬bauer, heute Metallbauer. Er weiß genau, wie elend Bockholte früher
aussah.
1952 drückten sich im Ort 69 Gehöfte mit jeweils ein paar
Schweinen, Hühnern und Kartoffeläckern um den Dorfbrink, elf der 449 Bewohner
verdienten ihr Geld mit Handel oder Handwerk. In drei Häusern stand eine
Bade¬wanne. Jedes vierte Kind hatte faule Zähne. Laken waren pro Bett je zwei
vorhanden, „jedoch wenig gepflegt".
Das alles hat ein Experte gezählt, der damals für eine
Studie des Bundeslandwirtschaftsministers den Alltag in Bockholte erforschte.
Sein Resümee: Es gebe Orte, „die sich in jeder Hinsicht aufgeschlossen zeigen
(...), aber auch solche, die als rückständig anzusprechen sind" - wie etwa
Bockholte. Der Nachbarort lästerte gar über das Dorf, es sei „ein mit Bibeln
zugeschissener Misthaufen".
Heute ist Bockholte eines der wenigen Dörfer in Deutschland,
das wächst. Gerade attestierten Experten des Ministeriums, die erneut für die
„Dorfstudie" vor¬beikamen, den Bewohnern, für die Zukunft gut aufge¬stellt
zu sein.
Wie schafft ein rückständiges Dorf einen solchen
Entwicklungssprung? Gesunde Bevölkerungspyramide, kaum Arbeitslose, zahlreiche
Kinder, reges Vereinsle¬ben. Bockholte wächst, während im Rest des Landes
zwischen 2006 und 2011 fast drei Viertel aller ländlichen Gemeinden Einwohner
verloren haben - so eine jüngst veröffentlichte Studie des Berlin-Instituts für
Bevölke¬rung und Entwicklung. Ist Bockholte ein Vorbild für an¬dere Dörfer? Ist
es repräsentativ? Oder eine Rarität?
Was eigentlich ist
ein Dorf heute?
Die Frage ist so vertrackt wie unser Dorfbild verzerrt;
einerseits pflegen wir das rosarote Idyll der Landlust-Magazine, andererseits
kursieren Horrormeldungen: Dör-fer seien Notstandsgebiete, wo die Jungen
wegziehen, die Alten vergebens auf den Notarzt warten. Der Wert der Immobilien
zerbröselt, weil keiner mehr die Häuser braucht. Arbeitsplätze, Schulen,
Perspektiven fehlen, dafür steigen die Kosten für Mobilität, Wasser und Müll.
Tatsächlich leben heute noch etwa 17 Millionen Menschen in
Deutschland ländlich, in mehr oder weni¬ger großen Dörfern. Doch vor allem
dort, wo ohnehin wenige Menschen leben, führt der demografische Trend laut
einer Prognose des Berlin-Instituts steil abwärts.
Hauptsächlich Metropolen und Universitätsstädte prosperieren
-auch weil sie die bildungshungrige Landjugend anziehen. Und derzeit wachsen
erstmals mehr Kleinkin¬der in Städten heran als draußen im Grünen. Ein
Wendepunkt, der das Land mit Wucht verändern wird. Und die nächste Frage noch
vertrackter macht:
Wie sieht die Zukunft des Dorfes aus?
Das Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz lässt seit den 195oer Jahren das Wesen der Dör¬fer in einer
einzigartigen Lang¬zeitstudie erkunden. Wie in Bock-holte untersuchen Experten
alle 20 Jahre aufs Neue 14 Dörfer ¬vom Emsland über den Kaiser¬stuhl bis ans
Ufer der Oder (siehe Karte Seite 7o). Sie erfassen deren Wandel, der ja nicht
neulich erst begann, sondern seit Jahrzehnten im Gange ist.
Sorgte sich die Politik 1952 noch, ob die kleinbäuerlichen
Betriebe die Nahrungssicherheit Deutschlands garantieren können, schwand deren
Bedeutung seither dahin wie Morgennebel über dem Feld. „Wachsen oder
weichen" hieß es in der Landwirtschaft, da¬her stand 1972 der
Strukturwandel im Fokus der Studie; 1993 kamen vier ostdeutsche Dörfer hinzu.
Wichtigstes Thema der lau-fenden, vierten Befragung: der
de-mografische Wandel. Was hält Dörfer am Leben? Und was macht sie labil -
womöglich so sehr, dass alle Mühen um ihren Erhalt ver¬gebens sind? Wenn die
Kassen leer, die Schlaglöcher bodenlos, die Bewohner ausgebrannt, kurz: kein
Happy End mehr in Sicht ist ¬und ein Plan B her muss.
Aber gibt es für das dörfliche Potpourri der deutschen
Provinz überhaupt den Plan?
Schon unter den Untersu-chungsdörfern gleicht keines dem
anderen: Schlafdörfer sind darun¬ter, Touristennester, von der Stadt
angefressene Vororte, Leerstands-
käffer. Sie liegen nah oder fern einer Autobahn oder
Großstadt, haben Arbeitsplätze, Schulen oder keine, ein lahmes DSL oder regen
Dorfklatsch oder alles genau an¬dersherum. Wie soll man da bloß
verallgemeinern?
Heinrich Becker, Agrarsoziologe am Braunschwei-ger
Thünen-Institut für Ländliche Räume, koordiniert die „Dorfstudie" zum
zweiten Mal und ist erneut kreuz und quer durch die Republik gereist, hat
zusammen mit Kollegen aus sechs weiteren Hochschulinstituten Fach-gespräche
geführt, Tausende Bewohner befragt, Bevöl-kerungsregister ausgewertet. Und all
jene enttäuscht, die von ihm eine Formel erhofften, wie die Zukunft der Dörfer
zu gestalten sei.
„Jedes Dorf ist ein ganz normaler Ausnahmefall", sagt
Becker. In die Abgesänge aufs Dorf will er daher nicht einstimmen, vom „Sterben
der Dörfer" erst recht nicht reden. Aber für viele Orte, das steht fest,
ist die Zu¬kunft ungewiss. So auch für Freienseen in Hessen.
Vom Kampf gegen
den Bevölkerungsschwund
In der Dorfmitte gruppieren sich Fachwerkhäuser um eine
Kirche, so wie es sich gehört. Freienseen liegt um¬geben von grünen Hügeln am
Fuße des Vogelsbergs, eine der am stärksten schrumpfenden Gegenden
West¬deutschlands. Am Dorfrand serviert die Waldschenke Rindernieren in
Apfelschnaps, allerdings hauptsächlich für Wochenendgäste auf Wandertour.
Freienseen war einst ein 1100 Seelen starkes Weber¬dorf.
Heute kämpft es um jeden Einwohner.
Von Niedergang spricht niemand gern, auch Hein¬rich Becker
nicht, der Soziologe, als er den Dorfbe¬wohnern in ihrer Sporthalle erste
Studienergebnisse vorstellt. Stattdessen sagt er: „Freienseen ist ein
Pend-lerdorf - und für viele Bewohner ist das Auto ihr zweites
Wohnzimmer." Jeder Dritte braucht eine Stunde oder mehr zum Arbeitsplatz,
jeder Zehnte fährt zum Teil bis Gießen oder Frankfurt; bei Stau kann das auch
mal zwei Stunden dauern.
Zum strapaziösen Pendeln muss man sich entschlie¬ßen, und
das tun immer weniger Menschen. Das Lebens¬modell mit Häuschen im Grünen -
basierend auf der Idee unerschöpflicher fossiler Energien, grenzenloser
Mobilität und der traditionellen Kleinfamilie mit (meist) der Mutter als
Hausfrau oder Zuverdienerin - dieses Modell läuft deutschlandweit aus. Laut
Berlin-Institut haben westdeutsche Dörfer, von denen man länger als 4o Minuten
in die nächste Großstadt fährt, von 2003 bis 2008 mindestens doppelt so viele
Einwohner ein-gebüßt wie Dörfer nahe den Speckgürteln. Im Osten be¬trug der
Schwund fern der Citys rund sieben Prozent, Tendenz steigend.
Der Exodus folgt einer Regel: Die geografische be-stimmt die
demografische Lage.
Freienseen hat seit 2006 sie-ben Prozent seiner Einwohner
ver¬loren. Die Gemeinde Laubach, zu der Freienseen zählt, schrumpft ebenso
schnell - und ist so pleite, dass sie 2012 unter den kommu¬nalen Rettungsschirm
des La4des Hessen schlüpfte. Die Grur n.t- und Gewerbesteuern wurden erhöht,
die Abwasserkosten steigen. Als das Rathaus um ein Uhr nachts das Straßenlicht
ausschalten ließ, tobten die Einwohner.
Laubach dreht sich im Teu-felskreis. Der Schwund verursacht
eine finanzielle Misere, die die abgelegene Gemeinde erst recht unattraktiv
macht. Der vertraute Versorgungsstandard ist bei gerin¬gerer Größe schlicht
nicht haltbar.
„Man kann uns doch nicht im Stich lassen!", schimpft
ein Freien-seener. „Der Staat muss für glei¬che Lebensverhältnisse
sorgen." Diese Forderung ist verständlich für einen Mann, der seine Heimat
liebt.
Aber ist sie auch vernünftig?
Muss der Staat bei knappen Kassen jedem Nest weiterhin eine
Müllabfuhr, jedem Landlustigen die Pendlerpauschale nebst Was-serleitung
bezahlen? Und wäre es nicht sinnvoller, schwächelnde Re¬gionen aufzugeben und
stattdes¬sen mehr Geld in Gebiete zu inves¬tieren, in denen mehr Menschen
leben? Vermutlich schon.
Nur: Wie ist das den Men-schen in den sich leerenden
Dör-fern zu vermitteln? Was sollen die 796 Freienseener machen? Aufge¬ben?
Wegziehen? Wohin?
In der Turnhalle ergreift Ulf Häbel das Wort, Pfarrer im
Ruhe¬stand und Ratsmitglied in Lau¬bach. Ein sympathischer, enga¬gierter
Tausendsassa. „Sterben ist für uns keine Option!", stellt er klar. Die
Leute klatschen.
Häbel zog 1990 mit Familie nach Freienseen und renovierte
eine der Fachwerk-Hofreiten, um mit ein paar Ziegen und mit Leib und Seele als
„Dorfmensch" zu leben. Was zu seinem Dorfglück
fehlt, organisiert er her, mit Förderprogrammen und der
Tatkraft seiner Nachbarn.
1999 eröffnete so die Evangelische Grundschule, die derzeit
84 Schüler in altersübergreifenden Klassen unterrichtet. 2002 der
Waldkindergarten. Weil sich zudem der Ortsvorsteher aufopferungsvoll um den
Sportverein kümmert, in dem die Jungs Fußball und die Mädchen Gardetanz
trainieren, zogen mehrere junge Familien zu. 2006 erreichte die Einwohnerzahl
mit 845 einen Peak - freilich nur kurzzeitig.
Seither sterben in Freienseen kontinuierlich mehr Menschen,
als geboren werden. In 31 Häusern wohnt nur noch eine, meist ältere Person.
Zwölf Häuser stehen leer, viele mit engen Treppen und ollen Bädern. Problem¬immobilien,
die keiner haben will.
Keine guten Aussichten.
Trotzdem: Ulf Häbel kämpft weiter. Sein neuestes Projekt:
die „Dorfschmiede". Zwei leer stehende Fach-werkhäuser gegenüber der
Kirche sollen zu altersgerech¬ten Wohnungen hergerichtet werden, einem
Dorfladen und einem Begegnungszentrum, in dem Ärzte Sprech¬stunden abhalten.
2,2 Millionen Euro kostet der Umbau; die Freienseener haben einen Förderverein
gegründet, Häbel quetschte aus jedem Fördertopf Gelder, von der Diakonie bis
zur EU. Sein Slogan „Leben und sterben, wo man zu Hause ist" gefällt den
Gebern.
Die Freienseener tun, was das Berlin-Institut schrumpfenden
Gemeinden empfiehlt - sie übertragen das Prinzip „freiwillige Feuerwehr"
auf die Grundver-sorgung: selbst anpacken. Im Dorf bewässert ein Rent¬ner des
Gartenbauvereins die Blumenkästen. Der Orts¬vorsteher fegt die Turnhalle. Der
Supermarktbesitzer im Nachbarort holt ältere Kunden zum Einkauf ab. Der
Förderverein Dorfschmiede rückt zur Eigenarbeit auf der Baustelle an. Häbel:
„Vital ist ein Dorf, wenn sich viele beteiligen, Komfort ist nicht so
wichtig."
Klingt alles gut. Nur: Was passiert, wenn Häbel nicht mehr
kann? Der Graue-Haare-Anteil der Aktiven ist sehr hoch. Ohne Staffelübergabe an
die nächste Ge¬neration ist ihr Engagement wenig nachhaltig.
Auch am Modellcharakter der Dorfschmiede kann man zweifeln.
2,2 Millionen Euro, welcher Ort kann sich das schon leisten? Altenwohnungen
sind im Neubau meist günstiger. Und warum braucht der Ort einen
sub¬ventionierten Laden, wenn er noch eine Bäckerei hat?
Pragmatische Ideen sind gefragt. Würde man im Dorfkern ein
paar leer stehende Häuser abreißen, wie es ein Bewohner vorschlägt, ließen sich
Licht und Luft gewinnen. Ein Vorteil für die Nachbarn - und Anreiz für potenzielle
Zuzügler. Nur: Der „Dorf-Rückbau" muss natürlich bezahlt, jeder Eigentümer
entschädigt werden. Bislang allerdings wird diese Art der
„Dorfkernsanie-rung" kaum akzeptiert, es fehlt an Vorbildern.
Und was geschieht im schlimmsten Fall? Wenn Ein¬wohnerzahl
und Kosten in keinem Verhältnis mehr ste¬hen? Das Berlin-Institut plädiert für
„Exit-Strategien".
Ein eleganter Begriff, hinter dem sich eine Provokation
verbirgt: nämlich die Aufgabe ganzer Dör¬fer, inklusive Umzugshilfen für die
letzten Bewohner. In der Schweiz sind solche „Entsiedlungskon-zepte für
potenzialarme Räume" schon weit gereift. „Wildnisge¬biete" sollen
entstehen, auch das kann man übersetzen: Die Dorf¬straßen werden Wildschweinen
und Brombeerbüschen gehören.
Das Stadtparlament ht eine andere Zukunftsvision: bt, will
Windräder am Dorfrand von Frei-enseen errichten. Jedes könnte 35000 Euro Pacht
pro Jahr in die Kassen wehen. Ulf Häbel unter¬stützt den Plan; er weiß, dass
die Rolle als Energielieferant mehre¬ren Dörfern die Existenz sichern kann, ob
mit Windparks, Solar¬energie oder Biogasanlagen.
Windradgegner jedoch laufen Sturm dagegen. Sie sehen Vögel
bedroht, bezweifeln die Rentabili¬tät. Und haben mit ihren Einwän¬den das
Projekt erst mal gestoppt. Auf einmal wird der Ton rau
Freienseen. Die stre 7". --
teien werfen einanf.er -. =7
Dorfgemeinschaft rf :st:
7'2 r.
jenes diffuse Gefühl von gernein-samer Geschichte,
unausweichli¬cher Nähe und Zusammenhalt.
In Freienseen könnte dieser Disput nicht nur das erfolgreich
ge¬sponnene Netz aus Schule, Verei¬nen und Dorfschmiede gefährden. Er könnte am
Ende die Stimmung so vergiften, dass selbst Alteinge¬sessene überlegen: Ist mir
dieser Flecken Heimat wert, jeden Mor¬gen bis zu zwei Stunden auf der A5
unterwegs zu sein? Vier, fünf Fa¬milien weniger - und das Dorfge-füge droht zu
kippen. Irgendwann fehlen der Schule die Schüler, der Sportverein muss mit dem
Rivalen im Nachbardorf fusionieren.
Auch wenn Freienseen viel richtig gemacht hat - darin
gleicht der Ort den meisten entlegenen Dörfern: Sie sind fragile Existen¬zen.
Fragiler als jene mit einem schützenden Riesen in der Nähe.
Am Tropf
der Großstadt
Über den Sonnenblumenfeldern in Mildenberg drehen sich seit
Jahren Windräder, ohne dass dies zu großem Krach geführt hätte. Selbst
Romantiker kämen hier aller¬dings nicht auf die Idee, von einer
„Dorfgemeinschaft" zu schwärmen. Mildenberg in Brandenburg ist tief
ge¬spalten. Untergehen wird es dennoch nicht so bald.
Der Grund: Dank neuer Straßen ist Berlin nur eine knappe
Autostunde entfernt.
Das ursprüngliche Mildenberg reiht sich rechts und links
eines Angers mit märkischer Feldsteinkirche auf, hinter den Häusern liegen
handtuchschmale Grund¬stücke, dahinter freies Feld. Das „andere"
Mildenberg besteht aus zwei Dutzend unverputzten Ziegelhäusern, verstreut
zwischen Wiesen und Feldern. Die Zuwege wurden nicht alle asphaltiert, im
Winter kommt kein Schneepflug vorbei. Die wenigen Kinder müssen weit zu ihren
Spielgefährten radeln.
Der Grund für die Spaltung wird heute von glaskla¬rem Wasser
geflutet: Hier lag Europas größtes Ziegelei-revier, halb Berlin wurde aus
hiesigem Ton erbaut. Noch zu DDR-Zeiten wohnten Hunderte Arbeiter in den
Sied¬lungen nahe den Ringöfen; die Alt-Mildenberger arbei¬teten mehrheitlich
für die LPG - eine Zwei-Klassen-Dorfgesellschaft, wie es sie nicht nur im Osten
gibt.
„Wir haben uns viel geprügelt mit den Bauern",
erin¬nert sich Wilfried Wadepuhl, ehemaliger Ziegeleiarbei-ter, der bis zu
seinem Tod im Dezember 2014 mit seiner Frau in „Siedlung 2" lebte. Seine
Frau sagte: „Ein Dorf¬gefühl kannten wir nie. Weg will ich trotzdem
nicht."
Als Heinrich Becker 1993 zum ersten Mal hier auf¬tauchte,
waren Wadepuhl und seine Ziegeleikollegen gerade entlassen worden, die LPG
wurde aufgelöst. Die Stimmung war finsterer als der tiefste Tonstich. Die
meis¬ten Erwachsenen suchten neue Jobs und Ziele, während die Dorfjugend in
Springerstiefeln um den Anger zog.
„Mildenberg hat in den 199oer Jahren schmerzliche Verluste
erlitten", umschreibt Becker die Vergangenheit. Seit 2005 ist die
Einwohnerzahl von 83o auf 710 gesun¬ken. Bei der Bewohnerbefragung gab jeder
Fünfte an, der demografische Wandel sei die größte Herausforde-rung Fürs Dorf.
Eigentlich verwunderlich. Denn Mildenberg hat sich im
Vergleich zu entlegeneren Dörfern durchaus konsoli¬diert. Im Dorfkern herrscht
kein Leerstand, der Nachfol¬gebetrieb der LPG beschäftigt wieder Landarbeiter.
Die anderen haben sich im fünf Kilometer entfernten Nach¬barort Zehdenick,
einem vergleichsweise lebhaften Kleinstädtchen, beruflich neu orientiert, viele
fahren nach Berlin. Die preisgekrönte Landfleischerei beliefert die dortigen
Vorstadtmärkte. Beim Milchbauern und im Dorfgasthof übernehmen die Kinder das
Geschäft.
Das Ziegeleirevier mit seinen Teichen und Kanälen führt ein
zweites Leben als Freizeitparadies. Der alte Ringofen
ist dank vieler Fördermil¬lionen als „Industriekulturstätte" auferstanden.
Berliner betreiben nebenan ein gutes Restaurant, ein Yachthafen mit
Bootscharter hat eröffnet, ein Kanuverleih bietet „Biber-Touren" an.
Der Haken am Tourismus: Die Mildenberger haben mit dem
Geschäft wenig am Hut. „Alles vom Feinsten, aber von ui 3 hat keiner einen Job
gekriegt", eagte Wilfried Wadepuhl; aus Protest setzte er zeitlebens
keinen Fuß ins Ziegeleimuseum. Zudem läuft das Geschäft nur bei schönem Wetter,
und selbst da nicht gut genug. Nur wenige Berliner haben vom Tonstich-Paradies
je gehört. Die Mildenberger kehren, wenn überhaupt, in „Berni's Cafe" ein,
das eine Einheimische betreibt.
Heinrich Becker resümiert: Die meisten Bewohner haben sich
ans Pendeln gewöhnt, dennoch nehmen sie ihr Dorf nicht als „Schlafdorf"
wahr - weil ein paar örtliche Betriebe durchaus erfolg¬reich sind. „Halten Sie
sie an:: Le¬ben", rät er den Doribey,
-vielleicht wird aus einet
Flammen lrze7.2.warzt
res Feuer."
Wilfried Wadepuhl. der alte Ziegeleiarbeiter, glaubte nicht
dar¬an. „Das Dorf ist mir egal", sagte er kurz vor seinem Tod. „Sollen
doch nach mir die Wölfe kommen."
Wildnis als Zukunftsoption? Dazu ein paar Attraktionen für
na¬turhungrige Großstädter? Es gibt abgelegenere Orte in Branden¬burg, für die
das Szenario realis¬tischer ist. Denn selbst ohne die Wärme eines lodernden
Feuers bleibt das Dorf, wo es ist: nah am Wasser. Nahe an Zehdenick. Und nah am
stetig wachsenden Berlin.
Selbst Gewinner
können lernen
Rückkehr ins Emsland. Können
schrumpfende Dörfer vom wach-
senden Bockholte lernen? Nun,
der dortige Aufschwung ist kein Zufall, sondern hat zwei
Ursachen. Erstens: Der milliardenschwere Emsland-plan, verabschiedet in den
195oer Jahren, hat die Region über Jahrzehnte mit moderner Infrastruktur
versorgt und wirtschaftlich gepusht. Subventionen in diesem Ausmaß, auf Pump
vom Staat bezahlt, sind jedoch längst nicht mehr mehrheitsfähig.
Zweitens: Hier lebt ein „ganz spezieller
Menschen-schlag", der gelernt habe, „aus wenig viel zu machen", wie
das Berlin-Institut konstatiert. „Pragmatisch, bis es kracht", nennt
Heinrich Becker seine Bockholter, die sich innerhalb einer Generation von
Bauerntöchtern und -söhnen zu Industriearbeitern wandelten, ihre Nutztiere
verkauften, die Äcker verpachteten, Kartoffeln im Su¬permarkt kaufen, statt sie
selbst zu ernten. Sprich: einen Umbruch mitmachten, ohne tiefe Gräben zu
schaufeln.
Die jungen Leute sind heimatverbunden, bleiben im Dorf oder
zumindest in der Gegend. Wer Lust auf Gesellschaft hat, trifft sich im
Schützenverein, beim Fußball, im katholischen Jugendclub, in der Kirche, an der
Bushaltestelle oder bei Facebook - über wo Freunde zählt die Bockholte-Gruppe.
Jedes Jahr im August wird natürlich Schützenfest gefeiert. Die CDU erreicht
über 7o Prozent.
Nicht jeder will so leben. Überzeugte Städter bekämen hier
womöglich nach zwei Tagen einen Koller. Aber die Bockholter fühlen sich wohl,
und deshalb bleiben sie.
Lässt sich so eine Stimmung exportieren in andere Dörfer?
Nein. Sie ist historisch gewach¬sen. Wie lange sie anhält: unklar. Denn auch
das stabil erscheinende Bockholte muss an seine Zukunft denken - das heißt
zunächst ein¬mal, es muss aufgeschlossener werden.
Denn Bockholte ist vor allem dank seiner Zuzügler gewachsen:
Russlanddeutschen, die ab Ende der 1.99oer Jahre in Werlte Arbei: fanden und im
Neubaugebiet Häu¬ser bauten. Bei der Bewohnerbefra¬gung vor 20 Jahren sorgte
das für großen Aufruhr, erinnert sich Stu¬dienleiter Heinrich Becker.
Mitt¬lerweile sprechen sie gut deutsch.
frisieren ihre Buchsbäume wie die Nachbarn. Doch mit dem
Schützenverein können sie nichts anfangen, ihre Kinder taufen sie nicht
katholisch, sondern in einer Freikirche, und bleiben, mit Ausnahme einiger
Fußbal¬ler, eher unter sich.
Das wird bei manchen Alteingesessenen nicht son¬derlich
geschätzt. „Wer sich nicht einbringen will ins Dorfleben, soll auch keinen
Bauplatz bekommen", for¬dern gar einige. Heinrich Becker entgegnet: „Alle
meine anderen Dörfer beneiden Sie um Ihre Zuwanderer."
Andere Lebensstile zu akzeptieren, Neu-Zuzügler zu
integrieren - für Orte, die nicht schrumpfen wollen, ist mehr Offenheit die
einzige Zukunftsoption. Zumal sich die Individualisierung der Gesellschaft
selbst im traditionellsten Dorf nicht mehr aufhalten lässt.
Auch in Bockholte stimmten bei der Bewohnerbe¬fragung 42
Prozent dem Satz zu: „Man muss aufpassen, dass man nicht aus der Reihe
tanzt" - eine Kritik an der sozialen Kontrolle im Dorf.
Noch 2012 hat die Bundesregierung in ihrer
De-mografiestrategie als Ziel ausgegeben, in den vom Schrumpfen besonders
betroffenen Regionen neue Ar¬beitsplätze herbeizufördern und irgendwie die
Attrakti¬vität zu erhöhen. Experten wie jene des Berlin-Instituts halten nichts
davon: Selbst jahrzehntelange Förderpra¬xis könne den demografischen Trend
weder umkehren noch schwächen.
Letztlich nicht einmal in Bockholte, vermutlich. Auch hier
macht man sich Sorgen. Für Hochqualifizierte gibt es zu wenige Angebote in der
Region. Fast alle Jobs hängen an zwei Branchen des produzierenden Gewer¬bes.
Schwächelt nur eine, ist der Wohlstand rasch dahin.
Doch bis dahin wird zumindest hier, am Westrand der
Republik, eine Zähigkeit kultiviert, wie sie das Dorf¬leben seit allen Zeiten
auszeichnet. Wilhelm Lünswil-ken, der Bauernsohn, der heute als Metallbauer
arbeitet. spricht sie aus. „Wenn alles zusammenbricht", sagt er in
bedächtigem Ton, „fangen wir eben was Neues an."
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