Montag, 24. August 2015

Das Dorf


Das Dorf

Author D.Selzer-McKenzie

Video: http://youtu.be/1S2NF-5Pl5g

Stirbt sie oder stirbt sie nicht, die deutsche Provinz? Die Prognosen sind schlecht,

aber das sind sie schon seit Jahrzehnten, und doch fanden GEO-Reporter auf einer Reise

über Land kräftige, zukunftsfrohe Dörfer. Und kämpferische. Überall trafen sie

auch auf existenzielle Fragen: Sollten wir schwache Regionen um jeden Preis beleben?

Oder sie aufgeben und menschenleere Naturparadiese schaffen?

Das soll ein Dorf sein? Nicht eine Milchkuh lebt mehr in Bockholte, es kräht kein Hahn. Katzen schnurren auf Fenstersimsen, statt Mäuse aus Scheunen zu jagen. Die wurden längst abgerissen, nur ein Bauernhof blieb im Dorfkern. Tagsüber ist es still. Kein Laden, kein Arzt, kein Cafe zieht Men-schen an. Rentner schnippeln an ihren Hecken und beäugen jedes vorbeifahrende Auto. Selbst die Kirche öffnet nur noch sporadisch, das Wirtshaus, vor dem die Bau¬ern früher auf dem Rückweg vom Feld ihre Traktoren parkten, im¬merhin am Wochenende.

Dörfer waren einst stolz auf ihre Eigenständigkeit, Bockholte im Emsland ist stolz, am Leben zu sein, und zwar in voller Pracht: 622 Einwohner, gut ein Viertel mehr als vor 20 Jahren, Tendenz steigend - und das in Zeiten, in denen alle Welt vom „Sterben der Dörfer" spricht. In Bockholte sind die Klinkerhäuser großzügig, die Buchsbäumchen davor in Herz¬form frisiert, aus Gemüse- sind Ziergärten geworden.

Die Landwirtschaft, die jahr-hundertelang das Leben in Bock-holte wie in allen Dörfern geprägt hat, ist weitestgehend aus dem Ortskern verschwunden. Elf Land¬wirte mästen außerhalb Zehntau¬sende Ferkel, Hühner, Puten in Hightech-Ställen mit Entlüftungs¬rohren auf dem Dach. Das Wort „Massentierhaltung" nimmt indes kein Dorfbewohner in den Mund. Wenn überhaupt sticheln sie: Wer nicht einmal sein eigenes Stroh fürs

 

Futter einbringt, sei kein echter Bauer mehr. Um den Ort herum wächst Mais, meterhoch, bis zum Horizont.

Die meisten Bockholter arbeiten in der Industrie, bei Krone im Nachbarort, der dort Lastwagenanhänger produziert. Oder sind angestellt bei Firmen, die Futter zu Fleisch „veredeln": sprich in der Viehzucht oder Wurstherstellung, im Stallbau oder dem Vertrieb von Tierpharmazie. „Deren Boom hat uns gerettet", sagt Wilhelm Lünswilken, Bauernsohn, ehemaliger Milch¬bauer, heute Metallbauer. Er weiß genau, wie elend Bockholte früher aussah.

1952 drückten sich im Ort 69 Gehöfte mit jeweils ein paar Schweinen, Hühnern und Kartoffeläckern um den Dorfbrink, elf der 449 Bewohner verdienten ihr Geld mit Handel oder Handwerk. In drei Häusern stand eine Bade¬wanne. Jedes vierte Kind hatte faule Zähne. Laken waren pro Bett je zwei vorhanden, „jedoch wenig gepflegt".

Das alles hat ein Experte gezählt, der damals für eine Studie des Bundeslandwirtschaftsministers den Alltag in Bockholte erforschte. Sein Resümee: Es gebe Orte, „die sich in jeder Hinsicht aufgeschlossen zeigen (...), aber auch solche, die als rückständig anzusprechen sind" - wie etwa Bockholte. Der Nachbarort lästerte gar über das Dorf, es sei „ein mit Bibeln zugeschissener Misthaufen".

Heute ist Bockholte eines der wenigen Dörfer in Deutschland, das wächst. Gerade attestierten Experten des Ministeriums, die erneut für die „Dorfstudie" vor¬beikamen, den Bewohnern, für die Zukunft gut aufge¬stellt zu sein.

Wie schafft ein rückständiges Dorf einen solchen Entwicklungssprung? Gesunde Bevölkerungspyramide, kaum Arbeitslose, zahlreiche Kinder, reges Vereinsle¬ben. Bockholte wächst, während im Rest des Landes zwischen 2006 und 2011 fast drei Viertel aller ländlichen Gemeinden Einwohner verloren haben - so eine jüngst veröffentlichte Studie des Berlin-Instituts für Bevölke¬rung und Entwicklung. Ist Bockholte ein Vorbild für an¬dere Dörfer? Ist es repräsentativ? Oder eine Rarität?

Was eigentlich ist

ein Dorf heute?

Die Frage ist so vertrackt wie unser Dorfbild verzerrt; einerseits pflegen wir das rosarote Idyll der Landlust-Magazine, andererseits kursieren Horrormeldungen: Dör-fer seien Notstandsgebiete, wo die Jungen wegziehen, die Alten vergebens auf den Notarzt warten. Der Wert der Immobilien zerbröselt, weil keiner mehr die Häuser braucht. Arbeitsplätze, Schulen, Perspektiven fehlen, dafür steigen die Kosten für Mobilität, Wasser und Müll.

Tatsächlich leben heute noch etwa 17 Millionen Menschen in Deutschland ländlich, in mehr oder weni¬ger großen Dörfern. Doch vor allem dort, wo ohnehin wenige Menschen leben, führt der demografische Trend laut einer Prognose des Berlin-Instituts steil abwärts.

Hauptsächlich Metropolen und Universitätsstädte prosperieren -auch weil sie die bildungshungrige Landjugend anziehen. Und derzeit wachsen erstmals mehr Kleinkin¬der in Städten heran als draußen im Grünen. Ein Wendepunkt, der das Land mit Wucht verändern wird. Und die nächste Frage noch vertrackter macht:

Wie sieht die Zukunft des Dorfes aus?

Das Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz lässt seit den 195oer Jahren das Wesen der Dör¬fer in einer einzigartigen Lang¬zeitstudie erkunden. Wie in Bock-holte untersuchen Experten alle 20 Jahre aufs Neue 14 Dörfer ¬vom Emsland über den Kaiser¬stuhl bis ans Ufer der Oder (siehe Karte Seite 7o). Sie erfassen deren Wandel, der ja nicht neulich erst begann, sondern seit Jahrzehnten im Gange ist.

Sorgte sich die Politik 1952 noch, ob die kleinbäuerlichen Betriebe die Nahrungssicherheit Deutschlands garantieren können, schwand deren Bedeutung seither dahin wie Morgennebel über dem Feld. „Wachsen oder weichen" hieß es in der Landwirtschaft, da¬her stand 1972 der Strukturwandel im Fokus der Studie; 1993 kamen vier ostdeutsche Dörfer hinzu.

Wichtigstes Thema der lau-fenden, vierten Befragung: der de-mografische Wandel. Was hält Dörfer am Leben? Und was macht sie labil - womöglich so sehr, dass alle Mühen um ihren Erhalt ver¬gebens sind? Wenn die Kassen leer, die Schlaglöcher bodenlos, die Bewohner ausgebrannt, kurz: kein Happy End mehr in Sicht ist ¬und ein Plan B her muss.

Aber gibt es für das dörfliche Potpourri der deutschen Provinz überhaupt den Plan?

Schon unter den Untersu-chungsdörfern gleicht keines dem anderen: Schlafdörfer sind darun¬ter, Touristennester, von der Stadt angefressene Vororte, Leerstands-

 

käffer. Sie liegen nah oder fern einer Autobahn oder Großstadt, haben Arbeitsplätze, Schulen oder keine, ein lahmes DSL oder regen Dorfklatsch oder alles genau an¬dersherum. Wie soll man da bloß verallgemeinern?

Heinrich Becker, Agrarsoziologe am Braunschwei-ger Thünen-Institut für Ländliche Räume, koordiniert die „Dorfstudie" zum zweiten Mal und ist erneut kreuz und quer durch die Republik gereist, hat zusammen mit Kollegen aus sechs weiteren Hochschulinstituten Fach-gespräche geführt, Tausende Bewohner befragt, Bevöl-kerungsregister ausgewertet. Und all jene enttäuscht, die von ihm eine Formel erhofften, wie die Zukunft der Dörfer zu gestalten sei.

„Jedes Dorf ist ein ganz normaler Ausnahmefall", sagt Becker. In die Abgesänge aufs Dorf will er daher nicht einstimmen, vom „Sterben der Dörfer" erst recht nicht reden. Aber für viele Orte, das steht fest, ist die Zu¬kunft ungewiss. So auch für Freienseen in Hessen.

Vom Kampf gegen

den Bevölkerungsschwund

In der Dorfmitte gruppieren sich Fachwerkhäuser um eine Kirche, so wie es sich gehört. Freienseen liegt um¬geben von grünen Hügeln am Fuße des Vogelsbergs, eine der am stärksten schrumpfenden Gegenden West¬deutschlands. Am Dorfrand serviert die Waldschenke Rindernieren in Apfelschnaps, allerdings hauptsächlich für Wochenendgäste auf Wandertour.

Freienseen war einst ein 1100 Seelen starkes Weber¬dorf. Heute kämpft es um jeden Einwohner.

Von Niedergang spricht niemand gern, auch Hein¬rich Becker nicht, der Soziologe, als er den Dorfbe¬wohnern in ihrer Sporthalle erste Studienergebnisse vorstellt. Stattdessen sagt er: „Freienseen ist ein Pend-lerdorf - und für viele Bewohner ist das Auto ihr zweites Wohnzimmer." Jeder Dritte braucht eine Stunde oder mehr zum Arbeitsplatz, jeder Zehnte fährt zum Teil bis Gießen oder Frankfurt; bei Stau kann das auch mal zwei Stunden dauern.

Zum strapaziösen Pendeln muss man sich entschlie¬ßen, und das tun immer weniger Menschen. Das Lebens¬modell mit Häuschen im Grünen - basierend auf der Idee unerschöpflicher fossiler Energien, grenzenloser Mobilität und der traditionellen Kleinfamilie mit (meist) der Mutter als Hausfrau oder Zuverdienerin - dieses Modell läuft deutschlandweit aus. Laut Berlin-Institut haben westdeutsche Dörfer, von denen man länger als 4o Minuten in die nächste Großstadt fährt, von 2003 bis 2008 mindestens doppelt so viele Einwohner ein-gebüßt wie Dörfer nahe den Speckgürteln. Im Osten be¬trug der Schwund fern der Citys rund sieben Prozent, Tendenz steigend.

Der Exodus folgt einer Regel: Die geografische be-stimmt die demografische Lage.

 

Freienseen hat seit 2006 sie-ben Prozent seiner Einwohner ver¬loren. Die Gemeinde Laubach, zu der Freienseen zählt, schrumpft ebenso schnell - und ist so pleite, dass sie 2012 unter den kommu¬nalen Rettungsschirm des La4des Hessen schlüpfte. Die Grur n.t- und Gewerbesteuern wurden erhöht, die Abwasserkosten steigen. Als das Rathaus um ein Uhr nachts das Straßenlicht ausschalten ließ, tobten die Einwohner.

Laubach dreht sich im Teu-felskreis. Der Schwund verursacht eine finanzielle Misere, die die abgelegene Gemeinde erst recht unattraktiv macht. Der vertraute Versorgungsstandard ist bei gerin¬gerer Größe schlicht nicht haltbar.

„Man kann uns doch nicht im Stich lassen!", schimpft ein Freien-seener. „Der Staat muss für glei¬che Lebensverhältnisse sorgen." Diese Forderung ist verständlich für einen Mann, der seine Heimat liebt.

Aber ist sie auch vernünftig?

Muss der Staat bei knappen Kassen jedem Nest weiterhin eine Müllabfuhr, jedem Landlustigen die Pendlerpauschale nebst Was-serleitung bezahlen? Und wäre es nicht sinnvoller, schwächelnde Re¬gionen aufzugeben und stattdes¬sen mehr Geld in Gebiete zu inves¬tieren, in denen mehr Menschen leben? Vermutlich schon.

Nur: Wie ist das den Men-schen in den sich leerenden Dör-fern zu vermitteln? Was sollen die 796 Freienseener machen? Aufge¬ben? Wegziehen? Wohin?

In der Turnhalle ergreift Ulf Häbel das Wort, Pfarrer im Ruhe¬stand und Ratsmitglied in Lau¬bach. Ein sympathischer, enga¬gierter Tausendsassa. „Sterben ist für uns keine Option!", stellt er klar. Die Leute klatschen.

Häbel zog 1990 mit Familie nach Freienseen und renovierte eine der Fachwerk-Hofreiten, um mit ein paar Ziegen und mit Leib und Seele als „Dorfmensch" zu leben. Was zu seinem Dorfglück

fehlt, organisiert er her, mit Förderprogrammen und der Tatkraft seiner Nachbarn.

1999 eröffnete so die Evangelische Grundschule, die derzeit 84 Schüler in altersübergreifenden Klassen unterrichtet. 2002 der Waldkindergarten. Weil sich zudem der Ortsvorsteher aufopferungsvoll um den Sportverein kümmert, in dem die Jungs Fußball und die Mädchen Gardetanz trainieren, zogen mehrere junge Familien zu. 2006 erreichte die Einwohnerzahl mit 845 einen Peak - freilich nur kurzzeitig.

Seither sterben in Freienseen kontinuierlich mehr Menschen, als geboren werden. In 31 Häusern wohnt nur noch eine, meist ältere Person. Zwölf Häuser stehen leer, viele mit engen Treppen und ollen Bädern. Problem¬immobilien, die keiner haben will.

Keine guten Aussichten.

Trotzdem: Ulf Häbel kämpft weiter. Sein neuestes Projekt: die „Dorfschmiede". Zwei leer stehende Fach-werkhäuser gegenüber der Kirche sollen zu altersgerech¬ten Wohnungen hergerichtet werden, einem Dorfladen und einem Begegnungszentrum, in dem Ärzte Sprech¬stunden abhalten. 2,2 Millionen Euro kostet der Umbau; die Freienseener haben einen Förderverein gegründet, Häbel quetschte aus jedem Fördertopf Gelder, von der Diakonie bis zur EU. Sein Slogan „Leben und sterben, wo man zu Hause ist" gefällt den Gebern.

Die Freienseener tun, was das Berlin-Institut schrumpfenden Gemeinden empfiehlt - sie übertragen das Prinzip „freiwillige Feuerwehr" auf die Grundver-sorgung: selbst anpacken. Im Dorf bewässert ein Rent¬ner des Gartenbauvereins die Blumenkästen. Der Orts¬vorsteher fegt die Turnhalle. Der Supermarktbesitzer im Nachbarort holt ältere Kunden zum Einkauf ab. Der Förderverein Dorfschmiede rückt zur Eigenarbeit auf der Baustelle an. Häbel: „Vital ist ein Dorf, wenn sich viele beteiligen, Komfort ist nicht so wichtig."

Klingt alles gut. Nur: Was passiert, wenn Häbel nicht mehr kann? Der Graue-Haare-Anteil der Aktiven ist sehr hoch. Ohne Staffelübergabe an die nächste Ge¬neration ist ihr Engagement wenig nachhaltig.

Auch am Modellcharakter der Dorfschmiede kann man zweifeln. 2,2 Millionen Euro, welcher Ort kann sich das schon leisten? Altenwohnungen sind im Neubau meist günstiger. Und warum braucht der Ort einen sub¬ventionierten Laden, wenn er noch eine Bäckerei hat?

Pragmatische Ideen sind gefragt. Würde man im Dorfkern ein paar leer stehende Häuser abreißen, wie es ein Bewohner vorschlägt, ließen sich Licht und Luft gewinnen. Ein Vorteil für die Nachbarn - und Anreiz für potenzielle Zuzügler. Nur: Der „Dorf-Rückbau" muss natürlich bezahlt, jeder Eigentümer entschädigt werden. Bislang allerdings wird diese Art der „Dorfkernsanie-rung" kaum akzeptiert, es fehlt an Vorbildern.

Und was geschieht im schlimmsten Fall? Wenn Ein¬wohnerzahl und Kosten in keinem Verhältnis mehr ste¬hen? Das Berlin-Institut plädiert für „Exit-Strategien".

 

Ein eleganter Begriff, hinter dem sich eine Provokation verbirgt: nämlich die Aufgabe ganzer Dör¬fer, inklusive Umzugshilfen für die letzten Bewohner. In der Schweiz sind solche „Entsiedlungskon-zepte für potenzialarme Räume" schon weit gereift. „Wildnisge¬biete" sollen entstehen, auch das kann man übersetzen: Die Dorf¬straßen werden Wildschweinen und Brombeerbüschen gehören.

Das Stadtparlament ht eine andere Zukunftsvision: bt, will Windräder am Dorfrand von Frei-enseen errichten. Jedes könnte 35000 Euro Pacht pro Jahr in die Kassen wehen. Ulf Häbel unter¬stützt den Plan; er weiß, dass die Rolle als Energielieferant mehre¬ren Dörfern die Existenz sichern kann, ob mit Windparks, Solar¬energie oder Biogasanlagen.

Windradgegner jedoch laufen Sturm dagegen. Sie sehen Vögel bedroht, bezweifeln die Rentabili¬tät. Und haben mit ihren Einwän¬den das Projekt erst mal gestoppt. Auf einmal wird der Ton rau

Freienseen. Die stre  7".       --

teien werfen einanf.er -. =7

Dorfgemeinschaft rf :st: 7'2 r.

jenes diffuse Gefühl von gernein-samer Geschichte, unausweichli¬cher Nähe und Zusammenhalt.

In Freienseen könnte dieser Disput nicht nur das erfolgreich ge¬sponnene Netz aus Schule, Verei¬nen und Dorfschmiede gefährden. Er könnte am Ende die Stimmung so vergiften, dass selbst Alteinge¬sessene überlegen: Ist mir dieser Flecken Heimat wert, jeden Mor¬gen bis zu zwei Stunden auf der A5 unterwegs zu sein? Vier, fünf Fa¬milien weniger - und das Dorfge-füge droht zu kippen. Irgendwann fehlen der Schule die Schüler, der Sportverein muss mit dem Rivalen im Nachbardorf fusionieren.

Auch wenn Freienseen viel richtig gemacht hat - darin gleicht der Ort den meisten entlegenen Dörfern: Sie sind fragile Existen¬zen. Fragiler als jene mit einem schützenden Riesen in der Nähe.

Am Tropf

der Großstadt

Über den Sonnenblumenfeldern in Mildenberg drehen sich seit Jahren Windräder, ohne dass dies zu großem Krach geführt hätte. Selbst Romantiker kämen hier aller¬dings nicht auf die Idee, von einer „Dorfgemeinschaft" zu schwärmen. Mildenberg in Brandenburg ist tief ge¬spalten. Untergehen wird es dennoch nicht so bald.

Der Grund: Dank neuer Straßen ist Berlin nur eine knappe Autostunde entfernt.

Das ursprüngliche Mildenberg reiht sich rechts und links eines Angers mit märkischer Feldsteinkirche auf, hinter den Häusern liegen handtuchschmale Grund¬stücke, dahinter freies Feld. Das „andere" Mildenberg besteht aus zwei Dutzend unverputzten Ziegelhäusern, verstreut zwischen Wiesen und Feldern. Die Zuwege wurden nicht alle asphaltiert, im Winter kommt kein Schneepflug vorbei. Die wenigen Kinder müssen weit zu ihren Spielgefährten radeln.

Der Grund für die Spaltung wird heute von glaskla¬rem Wasser geflutet: Hier lag Europas größtes Ziegelei-revier, halb Berlin wurde aus hiesigem Ton erbaut. Noch zu DDR-Zeiten wohnten Hunderte Arbeiter in den Sied¬lungen nahe den Ringöfen; die Alt-Mildenberger arbei¬teten mehrheitlich für die LPG - eine Zwei-Klassen-Dorfgesellschaft, wie es sie nicht nur im Osten gibt.

„Wir haben uns viel geprügelt mit den Bauern", erin¬nert sich Wilfried Wadepuhl, ehemaliger Ziegeleiarbei-ter, der bis zu seinem Tod im Dezember 2014 mit seiner Frau in „Siedlung 2" lebte. Seine Frau sagte: „Ein Dorf¬gefühl kannten wir nie. Weg will ich trotzdem nicht."

Als Heinrich Becker 1993 zum ersten Mal hier auf¬tauchte, waren Wadepuhl und seine Ziegeleikollegen gerade entlassen worden, die LPG wurde aufgelöst. Die Stimmung war finsterer als der tiefste Tonstich. Die meis¬ten Erwachsenen suchten neue Jobs und Ziele, während die Dorfjugend in Springerstiefeln um den Anger zog.

„Mildenberg hat in den 199oer Jahren schmerzliche Verluste erlitten", umschreibt Becker die Vergangenheit. Seit 2005 ist die Einwohnerzahl von 83o auf 710 gesun¬ken. Bei der Bewohnerbefragung gab jeder Fünfte an, der demografische Wandel sei die größte Herausforde-rung Fürs Dorf.

Eigentlich verwunderlich. Denn Mildenberg hat sich im Vergleich zu entlegeneren Dörfern durchaus konsoli¬diert. Im Dorfkern herrscht kein Leerstand, der Nachfol¬gebetrieb der LPG beschäftigt wieder Landarbeiter. Die anderen haben sich im fünf Kilometer entfernten Nach¬barort Zehdenick, einem vergleichsweise lebhaften Kleinstädtchen, beruflich neu orientiert, viele fahren nach Berlin. Die preisgekrönte Landfleischerei beliefert die dortigen Vorstadtmärkte. Beim Milchbauern und im Dorfgasthof übernehmen die Kinder das Geschäft.

Das Ziegeleirevier mit seinen Teichen und Kanälen führt ein zweites Leben als Freizeitparadies. Der alte            Ringofen ist dank vieler Fördermil¬lionen als „Industriekulturstätte" auferstanden. Berliner betreiben nebenan ein gutes Restaurant, ein Yachthafen mit Bootscharter hat eröffnet, ein Kanuverleih bietet „Biber-Touren" an.

Der Haken am Tourismus: Die Mildenberger haben mit dem Geschäft wenig am Hut. „Alles vom Feinsten, aber von ui 3 hat keiner einen Job gekriegt", eagte Wilfried Wadepuhl; aus Protest setzte er zeitlebens keinen Fuß ins Ziegeleimuseum. Zudem läuft das Geschäft nur bei schönem Wetter, und selbst da nicht gut genug. Nur wenige Berliner haben vom Tonstich-Paradies je gehört. Die Mildenberger kehren, wenn überhaupt, in „Berni's Cafe" ein, das eine Einheimische betreibt.

Heinrich Becker resümiert: Die meisten Bewohner haben sich ans Pendeln gewöhnt, dennoch nehmen sie ihr Dorf nicht als „Schlafdorf" wahr - weil ein paar örtliche Betriebe durchaus erfolg¬reich sind. „Halten Sie sie an:: Le¬ben", rät er den Doribey,

-vielleicht wird aus einet

Flammen lrze7.2.warzt

res Feuer."

Wilfried Wadepuhl. der alte Ziegeleiarbeiter, glaubte nicht dar¬an. „Das Dorf ist mir egal", sagte er kurz vor seinem Tod. „Sollen doch nach mir die Wölfe kommen."

Wildnis als Zukunftsoption? Dazu ein paar Attraktionen für na¬turhungrige Großstädter? Es gibt abgelegenere Orte in Branden¬burg, für die das Szenario realis¬tischer ist. Denn selbst ohne die Wärme eines lodernden Feuers bleibt das Dorf, wo es ist: nah am Wasser. Nahe an Zehdenick. Und nah am stetig wachsenden Berlin.

Selbst Gewinner

können lernen

Rückkehr ins Emsland. Können

schrumpfende Dörfer vom wach-

senden Bockholte lernen? Nun,

der dortige Aufschwung ist kein Zufall, sondern hat zwei Ursachen. Erstens: Der milliardenschwere Emsland-plan, verabschiedet in den 195oer Jahren, hat die Region über Jahrzehnte mit moderner Infrastruktur versorgt und wirtschaftlich gepusht. Subventionen in diesem Ausmaß, auf Pump vom Staat bezahlt, sind jedoch längst nicht mehr mehrheitsfähig.

Zweitens: Hier lebt ein „ganz spezieller Menschen-schlag", der gelernt habe, „aus wenig viel zu machen", wie das Berlin-Institut konstatiert. „Pragmatisch, bis es kracht", nennt Heinrich Becker seine Bockholter, die sich innerhalb einer Generation von Bauerntöchtern und -söhnen zu Industriearbeitern wandelten, ihre Nutztiere verkauften, die Äcker verpachteten, Kartoffeln im Su¬permarkt kaufen, statt sie selbst zu ernten. Sprich: einen Umbruch mitmachten, ohne tiefe Gräben zu schaufeln.

Die jungen Leute sind heimatverbunden, bleiben im Dorf oder zumindest in der Gegend. Wer Lust auf Gesellschaft hat, trifft sich im Schützenverein, beim Fußball, im katholischen Jugendclub, in der Kirche, an der Bushaltestelle oder bei Facebook - über wo Freunde zählt die Bockholte-Gruppe. Jedes Jahr im August wird natürlich Schützenfest gefeiert. Die CDU erreicht über 7o Prozent.

 

Nicht jeder will so leben. Überzeugte Städter bekämen hier womöglich nach zwei Tagen einen Koller. Aber die Bockholter fühlen sich wohl, und deshalb bleiben sie.

Lässt sich so eine Stimmung exportieren in andere Dörfer? Nein. Sie ist historisch gewach¬sen. Wie lange sie anhält: unklar. Denn auch das stabil erscheinende Bockholte muss an seine Zukunft denken - das heißt zunächst ein¬mal, es muss aufgeschlossener werden.

Denn Bockholte ist vor allem dank seiner Zuzügler gewachsen: Russlanddeutschen, die ab Ende der 1.99oer Jahre in Werlte Arbei: fanden und im Neubaugebiet Häu¬ser bauten. Bei der Bewohnerbefra¬gung vor 20 Jahren sorgte das für großen Aufruhr, erinnert sich Stu¬dienleiter Heinrich Becker. Mitt¬lerweile sprechen sie gut deutsch.

frisieren ihre Buchsbäume wie die Nachbarn. Doch mit dem Schützenverein können sie nichts anfangen, ihre Kinder taufen sie nicht katholisch, sondern in einer Freikirche, und bleiben, mit Ausnahme einiger Fußbal¬ler, eher unter sich.

Das wird bei manchen Alteingesessenen nicht son¬derlich geschätzt. „Wer sich nicht einbringen will ins Dorfleben, soll auch keinen Bauplatz bekommen", for¬dern gar einige. Heinrich Becker entgegnet: „Alle meine anderen Dörfer beneiden Sie um Ihre Zuwanderer."

Andere Lebensstile zu akzeptieren, Neu-Zuzügler zu integrieren - für Orte, die nicht schrumpfen wollen, ist mehr Offenheit die einzige Zukunftsoption. Zumal sich die Individualisierung der Gesellschaft selbst im traditionellsten Dorf nicht mehr aufhalten lässt.

Auch in Bockholte stimmten bei der Bewohnerbe¬fragung 42 Prozent dem Satz zu: „Man muss aufpassen, dass man nicht aus der Reihe tanzt" - eine Kritik an der sozialen Kontrolle im Dorf.

Noch 2012 hat die Bundesregierung in ihrer De-mografiestrategie als Ziel ausgegeben, in den vom Schrumpfen besonders betroffenen Regionen neue Ar¬beitsplätze herbeizufördern und irgendwie die Attrakti¬vität zu erhöhen. Experten wie jene des Berlin-Instituts halten nichts davon: Selbst jahrzehntelange Förderpra¬xis könne den demografischen Trend weder umkehren noch schwächen.

Letztlich nicht einmal in Bockholte, vermutlich. Auch hier macht man sich Sorgen. Für Hochqualifizierte gibt es zu wenige Angebote in der Region. Fast alle Jobs hängen an zwei Branchen des produzierenden Gewer¬bes. Schwächelt nur eine, ist der Wohlstand rasch dahin.

Doch bis dahin wird zumindest hier, am Westrand der Republik, eine Zähigkeit kultiviert, wie sie das Dorf¬leben seit allen Zeiten auszeichnet. Wilhelm Lünswil-ken, der Bauernsohn, der heute als Metallbauer arbeitet. spricht sie aus. „Wenn alles zusammenbricht", sagt er in bedächtigem Ton, „fangen wir eben was Neues an."







Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.