Nach Unfall neues Gesicht gespendet
Author D.Selzer-McKenzie
Video: http://youtu.be/k7lpMguAg4s
Richard Norris war 22 Jahre alt, als er sich ins Gesicht
schoss. Das war 1997. Er weiß nicht mehr, wie und weshalb es passierte, aber
seine Mutter, die einen Meter von ihm entfernt stand, sagt, es sei ein Un¬fall
gewesen. Sie erinnert sich, dass Teile von Richards Gesicht auf sie
einprasselten. Mitten in ihrem Wohn¬zimmer. Der Schuss hatte seine Nase,
Wangenknochen, Lippen, Zunge, Zähne, Kiefer und sein Kinn förmlich
weggesprengt. Übrig blieben nur seine großen braunen Augen und ein grotesk
verformter Klumpen Fleisch.
So grausig diese Geschichte beginnt, sie handelt von einem
Wunder. Und wie die meisten Wundergeschichten hat sie, durch häufiges Erzählen,
im Laufe der Jahre immer mehr an Farbigkeit und Klarheit gewonnen. Ihre
Schattenseiten sind dagegen weit¬gehend ausgeblendet worden.
Aus Scham über seine Entstellung zog sich Norris nach dem
Unfall völlig zurück. Fast zehn Jahre lang lebte er mit seinen Eltern auf einem
nebelverhangenen Berggipfel im ländlichen Virginia. Sie verhängten alle
Spiegel, um ihm den Anblick seines verwüsteten Gesichts zu ersparen. Sein
Zimmer verließ er meist nicht einmal zum Essen, und wenn er, selten genug,
außer Haus ging, legte er eine schwarze Maske an. Einmal, so erzählt er, wurde
er mit vorgehaltener Pistole von Polizisten angehalten, die ihn für einen
Räuber hielten.
Eines Tages, so geht die Geschichte weiter, entdeckte
Norris' Mutter im Internet Eduardo Rodriguez, einen Gesichtschirurgen aus
Baltimore. Er versprach, aus Richard Norris wieder einen normalen Menschen zu
machen. In den folgenden Jahren ope¬rierte der Chirurg Norris einige Dutzend
Male, wobei er jeweils körpereigenes Gewebe des Patienten nutzte, um Teile
seines Gesichts zu rekonstruieren. Aus Teilen des Unterarms formte er eine Art
Nase, aus Schenkelfleisch ein kleines Kinn. Doch das Ergebnis war allenfalls
eine grobe Annäherung an das, was man „normal" hätte nennen können.
Rodriguez hatte ohnehin Größeres im Sinn. Schon seit
eini¬ger Zeit erprobte er an Leichnamen das Transplantieren ganzer Gesichter.
Richard Norris sollte, als einer der ersten Patienten in den USA, ein völlig
neues Gesicht bekommen.
An einem Tag im März 2012 sagte Eduardo Rodriguez: „It's
showtime."
„Sie sind mein Himmelsgeschenk", sagte Richards Mutter.
„Legen wir los", sagte Richard.
Die Operation begann am 19. März frühmorgens. Zwei Chirurgen
entfernten das Gesicht eines 21-jährigen Unfallopfers in einem Stück, mitsamt
Haut, Muskeln, Knochen, Nerven, Blut¬gefäßen und Zunge. Drei weitere Ärzte
trugen, was von Norris' Gesicht übrig war, bis auf die Knochen ab. Rodriguez
befestigte die obere Partie des Spendergesichts mitten auf der Kopfhaut,
fixierte sie mit Schrauben, fügte dann die Kiefer zusammen und verband
sämtliche Adern und Nervenstränge miteinander. Schließlich nähte er die Haut
fest, so wie man einen Flicken auf eine Jeans setzt. Rodriguez und sein Team
arbeiteten 36 Stunden lang nonstop.
SIE VERHÄNGEN DIE
SPIEGEL. WENN ER DAS HAUS
VERLÄSST, LEGT ER
EINE SCHWARZE MASKE AN
Als Sandra Norris ihren Sohn nach der Operation zum ersten
Mal sah, erschien es ihr, als sei er wiederauferstanden. „Wir haben Richard
wieder!", sagte sie am Telefon zu ihrem Mann, der all die Jahre nicht viel
zu melden gehabt hatte.
Mit seinem neuen Gesicht wurde Richard Norris eine Zeit lang
zu einem Medienstar, zum Helden einer Wundergeschich-te, die immer wieder neu
erzählt wurde. So lange und so oft, bis sie sich in Norris' Vorstellung zu
einer Art kostbarem Juwel verfestigt hatte.
r. Eduardo Rodriguez ist eine eindrucksvolle Er¬scheinung,
groß und kräftig, mit einem tiefen Grübchen im mächtigen Kinn. In Nadelstreifen
gekleidet, offene OP-Galoschen an den Füßen, strahlt er eine stilvoll-zerzauste
Lässigkeit aus. Nach der Operation an Norris, die weltweit Aufsehen erregt hat,
ist er soeben zum Leiter der Plastischen Chirurgie am Universi-tätskrankenhaus
von New York ernannt worden - ein großer Kar-riereschritt: „Es ist, als hätte
man mir gerade den Schlüssel zum Raumschiff Enterprise überreicht", sagt
er.
Als er den neuen Kollegen des Langone Medical Center sei¬nen
Star-Patienten vorstellt, sind etwa 3o Menschen in einem Konferenzraum
versammelt, viele von ihnen tragen weiße Arzt¬kittel. Die Stimmung ist
elektrisiert, wie bei einer Show-Pre¬miere. Sichtlich fasziniert betrachten die
Teilnehmer die Fotos von Richard Norris, die Rodriguez vorführt. Norris selbst
wartet währenddessen in einem Nebenraum. Er ist extra für diesen Termin nach
New York geflogen, aus dem nebelverhangenen Bergdorf, in dem er immer noch
lebt.
„Hier sehen sie die Verbindung zwischen Spendergesicht und
Kopf des Patienten", erklärt Rodriguez. „Der Einschnitt beginnt hier am
Stirnbein, verläuft weiter vor dem Ohr und setzt sich fort bis zum Hals
..."
Rodriguez vergleicht die hochkomplexe Prozedur mit der
ersten Mondlandung. Der an Norris ausgeführte Eingriff war zwar nicht der erste
seiner Art, aber einer der bis zu diesem Zeit¬punkt aufwendigsten.
Einige der in New York versammelten Experten hatten vor der
Konferenz bereits Gelegenheit, Norris genauer zu befragen. Jetzt tragen sie
ihre Eindrücke vor, vor allem von seiner seeli¬schen Verfassung, und diese
klingen verhalten, skeptisch.
Er sieht sehr gut aus; das ästhetische Resultat ist wirklich
exzellent.
Aber er ist nicht leicht zu verstehen.
Er macht keine Übungen, ist auch nicht in
psychotherapeu¬tischer Behandlung.
Er hat eine sehr enge emotionale Bindung an Rodriguez. Was
wird aus ihm werden, wenn der Arzt sich demnächst neuen
Transplantationsprojekten zuwendet?
Auf ein Nicken von Rodriguez hin öffnet sich die Tür, und
Norris schlendert herein, in lilafarbener Football-Jacke mit pas¬sender Kappe.
Seit zwei Jahren lebt er nun mit seinem neuen Gesicht, und er ist zweifellos
attraktiv - glatt rasiert und jugend¬lich, der Typ, den man in einer Firma am
Empfangstresen pos¬tieren würde. Er setzt sich mit ausgebreiteten Armen vors
Publi¬kum, entspannt wie Justin Bieber in einer Spätabend-Talkshow. Alles
starrt ihn an, Hälse recken sich. Er ist das gewöhnt; manch¬mal applaudieren
ihm die Leute sogar. Lächelt er? Sein neues Gesicht ist nicht sehr beweglich. Nur
seine Augen, einzig intakter Teil seines früheren Gesichts, huschen hin und
her, und ich ver¬suche, ihnen zu folgen - in der Hoffnung, etwas zu erraten
über das, was dahinter vorgeht.
ie fühlt es sich an, mit dem Gesicht eines an¬deren Menschen
herumzulaufen? Mit seinen Zähnen zu essen? Das fragte ich Norris, als ich ihm
zum ersten Mal schrieb. Er sagte, dass alles an seinem neuen Gesicht großartig
sei. Dass er Tausende von Fan-Zuschriften erhalten habe. Darun¬ter von einer
Frau, die jetzt seine Freundin sei. Sie lebe in New Orleans, er plane, sie
demnächst zu treffen. Er sagte, er ginge jetzt aufs College, wolle sich auf die
Schule konzentrieren, dar¬auf, normal zu sein.
Dann lud er mich ein, ihn auf seinem nebelverhangenen Berg
zu besuchen. Der Nebel in seinem Wohnort sei berühmt, sagte er, erst kürzlich
habe er eine Massenkarambolage mit 95 Fahrzeugen verursacht.
Als ich dort ankomme, hat die Morgensonne den Dunst bereits
aufgelöst. Norris' Haus liegt an einer Straße auf halber Hanghöhe. Es ist
klein, gelb mit roten Zierelementen; ein „Zu verkaufen"-Schild steht
davor. Norris öffnet die Windfangtür und bittet mich herein. Er trägt ein
schwarzes Sporthemd zu Cargohosen und er ist schmächtig wie ein alter Mann.
Seine Hal¬tung ist gebeugt nach all den Jahren, in denen er aus Scham über
seine Entstellung den Kopf hängen ließ, und es strengt ihn an, aufrecht zu
stehen.
Er wirkt nervös. Seine Hände zittern, während er eine
Wasserflasche zum Mund führt. Seine Lippen können den Fla¬schenhals nicht
richtig umschließen. Mit einem Handtuch wischt er immer wieder ein Rinnsal ab,
das ihm aus den Mund¬winkeln läuft.
Trotz alldem wirkt sein neues Gesicht, auch aus der Nähe,
wie ein Wunder. Es ist breit und offen, mit markanten Wangen-knochen und dem
faltenfreien Teint eines Jugendlichen. Ein Gesicht, das nicht recht passen will
zu dem Körper eines fast 40-Jährigen. Ich versuche, nicht ständig auf die
Nahtstellen zu starren, an Augenlidern, Hals und vor den Ohren. Die Gesichts-
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züge sind fast starr, es fehlen jene winzigen Bewegungen,
die in normalen Gespräch so viele Nuancen von Empfindungen spie¬geln. Ich
merke, wie schwer es mir fällt, mich in den Menschen hinter diesem Gesicht
hineinzufühlen.
Norris führt mich durchs Wohnzimmer, vorbei an seiner
Mutter, die in einem Fernsehsessel sitzt und auf einen Laptop starrt. Er zeigt
mir sein Zimmer, das so makellos aufgeräumt ist wie eine Hotelsuite. An den
Wänden hängen, gerahmt, sämtliche Presseartikel, die jemals über ihn erschienen
sind.
Ich frage ihn nach der Schule. Wie kommt er mit seinen Mit-1
schülern klar; wissen sie von seinem neuen Gesicht?
„Zurzeit habe ich keinen Unterricht", sagt er. Seine
Stimme klingt dumpf, als käme sie aus dem Inneren seines Kopfes. Neue Lippen,
neue Zunge - es ist erstaunlich, dass er überhaupt verständlich artikulieren
kann. Er habe einige Online-Kurse be¬legt, sagt er. Es klingt vage, wie vieles,
das er von sich erzählt. Seine Freundin: Sie seien „Seelenverwandte". Sie
schickten sich ständig SMS. Aber bislang ist sie nicht viel mehr als eine
Face-book-Bekannte.
Zurück im Wohnzimmer, lässt er mich mit seiner Mutter
allein, die immer noch grimmig auf ihre Tastatur einhackt.
„Ein schönes Haus haben Sie", sage ich zu ihr. „So
gemüt¬lich. Und dieser wunderbare Blick von der Terrasse."
„Wollen Sie es kaufen?", erwidert sie. Es sei ein
Fehler gewe¬sen, hierher zu ziehen. Sie habe das Haus nie gemocht, auch Richard
gefiele es nicht. Das alte hätten sie seiner Schwester überlassen, die Probleme
hatte, ihre Miete zu bezahlen. „Wir leben unterhalb der Armutsgrenze",
sagt sie. „Ich habe Fibro-myalgie. Deshalb brauche ich diese Heizdecken."
Richard kommt zurück, einige Pillendosen in der Hand. Er
müsse täglich fünf Tabletten nehmen, sagt er - bis ans Ende sei¬nes Lebens. Für
seinen Körper wird das neue Gesicht immer ein fremdes Objekt bleiben, weshalb
sein Immunsystem etwa auf die Hälfte seiner normalen Stärke gebremst werden
muss. Das macht Norris anfällig für alle möglichen schweren Krankheiten, Krebs
und Diabetes eingeschlossen.
auchen sollte er nicht", sagt seine Mutter. Außer¬dem
Sonnenbrände und Erkältungen vermeiden. keinen Alkohol trinken und sich
möglichst nicht verletzen - schon eine kleine Schnittwunde kann
eine Abwehrreaktion auslösen. Dann muss Richard sofort ins Krankenhaus
geflogen werden. Eine ungebremste Immunreaktion würde er kaum überleben: Von
seinem altenWomöglich ist er überwältigt von allem.
Gesicht sind nur noch die Augen übrig. „Ich muss aufpassen,
dass sein Gesicht nicht gelb wird", sagt die Mutter. „Bisher hat er zwei
Abstoßungen überstanden."
„Ich lass euch beide mal reden", sagt Norris und geht
vor die Tür, um zu rauchen.
Auf dem Kaminsims stehen zwei Fotos nebeneinander. Das eine
zeigt Norris bei seinem Highschool-Abschluss, das andere Joshua, den Spender,
der mit 21 Jahren bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam.
„Ist die Ähnlichkeit nicht erstaunlich?", fragt Sandra
Nor-ris. Sie habe Joshuas Mutter besucht, erzählt sie. „Grundsolide Leute. Ich
sagte zu ihr, ich mag Ihre Küche. Ich werde dafür sor¬gen, dass Eddie mir auch
so eine baut."
Eddie ist Norris' Vater. Er arbeitete früher als Fernfahrer,
musste den Job aber wegen schwerer Diabetes aufgeben. Er war gegen die
Transplantation. Doktor Rodriguez selbst hatte den Eingriff als extrem riskant
bezeichnet; die Chancen, dass Norris ihn überleben würde, stünden nur 5o zu 5o.
„Ich mag dein Ge¬sicht, so wie es ist", sagte Eddie damals zu seinem Sohn.
Er solle sich raushalten, sagte seine Frau. Es sei Richards Entscheidung.
Ich frage sie, ob ihr Sohn sich seit der Operation auch
psy-chisch verändert habe.
„Ja", sagt sie, „er geht etwas mehr raus als
früher." Viel mehr allerdings nicht. Er darf nicht Auto fahren, weil er
Krampfanfälle bekommen könnte. Sie selbst kann wegen ihrer Fibromyalgie nicht
fahren. Also sitzen beide hier mehr oder weniger fest, auf Eddie angewiesen.
In diesem Moment klingt die Geschichte nicht mehr so
rich¬tig nach einem Wunder.
„Richard ist eine Laborratte", sagt Sandra Norris. „Ich
a-laube nicht, dass er jemals einer normalen Arbeit wird nach¬
gehen können. Dauernd ist er im KI-T.7,-f:: ¬haus, alle
stochern an ihm hem= schen an ihm. Welcher Arbeitgeber 5: schon jemanden ein,
der 99 Proz er:: de: Zeit nicht da ist?"
Richard beschwere sich jedoch ni&t darüber, sagt sie.
Für Doktor Rodr_e-;:ez würde er alles tun. Und sie auch.
duardo Rodriguez, 4-
alt, Sohn
kubanischer -
wanderer, harte ursphr nicht vor, berühmt zu W:=_' n
Jedenfalls nicht so be7=::.-=-. Er studierte Zahnmedizin. Wollte e ganz normale
Praxis in Miami
bohren, füllen, kassieren. Aber da wa: e-ser unstillbare
Drang, mehr zu lernen. s e r zu werden, perfekt zu werden.
Nach der Zahnarztausbildung studer-: er Allgemeinmedizin,
spezialisiert sich 2.:± Chirurgie, dann plastische Chirurgie. findet er sich im
weltweiten Mekka der Mikro- und
urgie wieder, dem Chang Gung _7
7 7 -±
Taiwan. 99 OP-Säle, rund um die -_- 7 -
Zehen wieder anzunähen, Geweb - - --a- a_- - -
„Immer das volle Programm'.:_ -
ter, weiter, weiter!"
Zurück in den USA, an der Univers'..:ä-s.,:. - • - Ma
behandelt er vor allem Kriegsveteranen.
neu, die durch Schussverletzungen oder Explosionen ze-5- -
— worden sind. „Die Patienten kommen von
überallher, es heißt. da ist dieser verrückte Doktor in Baltimore, der kann dir
helfen." Doch selbst Rodriguez' Modellierkunst stößt an Grenzen, vor
allem, wenn es um Nasen geht. Man könnte so viel mehr errei¬chen, würde man
eine echte verpflanzen. Aber ein solcher Ein¬griff ist, zu der Zeit noch,
undenkbar.
Ein Gesicht ist kein lebenswichtiges Organ wie Leber oder
Herz. Es besteht aus Muskeln, Nerven, Knochen und Haut, wie eine Hand oder ein
Fuß. Die Verpflanzung eines solchen Körper¬teils rettet kein Leben, sie erhöht
nur dessen Qualität. Und das um den Preis eines erheblichen Gesundheitsrisikos,
das die le¬benslange Einnahme von Immunsuppressiva mit sich bringt. Selbst wenn
die Operation das Leben eines Patienten dramatisch verbessern würde - wäre ein
solches Risiko vertretbar?
1998 stellte sich die Frage erstmals in der Realität. Ein
inter¬nationales Ärzteteam nähte dem Neuseeländer Clint Hallam die Hand eines
Toten an; der 48-Jährige hatte seine eigene durch einen Unfall verloren. Der
Eingriff gelang, doch der Patient emp¬fand seinen neuen Körperteil als
unüberwindbar fremd. Er bat die Ärzte, ihn wieder zu entfernen. Sie lehnten ab.
Daraufhin hörte Hallam auf, seine Medikamente zu nehmen. Einige Mo¬nate später
blieb den Ärzten nichts anderes übrig, als zu tieren, was von der neuen Hand
noch übrig war. Sie bezeichne¬ten Hallam als „Psychopathen". Dass jemand ein
transplantiertes Organ aus seelischen Gründen abstoßen könnte, erschien ihnen
schlicht als Ausdruck einer geistigen Störung.
2003 und 2004 entschieden Ethikkommissionen in England und
Frankreich, dass die Transplantation eines Gesichts, im Ver¬hältnis zum
möglichen Nutzen, zu riskant sei. Umso größer war die Überraschung unter
Chirurgen, als ein Jahr später ausgerech¬net aus dem nordfranzösischen Amiens
die erste erfolgreiche Verpflanzung einer Nasen- und Mundpartie gemeldet wurde.
Nun setzte ein weltweiter Wettbewerb um die erste vollständige
Gesichtstransplantation ein.
Rodriguez war bereit; er hatte den Eingriff nicht nur im
Seziersaal, sondern auch am Computer trainiert, wie ein Pilot am Flugsimulator.
Mehrere mögliche Patienten hatte er in Au-genschein genommen, darunter Richard
Norris. „Aber ich war noch nicht überzeugt", sagte er mir.
Er fliegt nach Paris, um sich mit Pascal Coler zu treffen,
ei¬nem 30-Jährigen, der 2008 ein neues Gesicht bekommen hat. Coler hatte unter
entstellenden Tumoren gelitten. „Und dann sitzt dieser Mann neben mir und kaut
ein riesiges Steak. Als wäre es das Normalste von der Welt. Niemand schaut ihn
an. Er hat einen Job, eine Freundin. Und da denke ich mir, Himmel noch eins,
das ist gigantisch. Wir planen hier nicht nur einen klini¬schen Eingriff, wir
verändern ein Leben."
Bald darauf macht sich in Baltimore ein Chirurgenteam
be¬reit. „Ich sagte, Richard, wenn du die Sache jetzt noch abblasen willst, tu
es. Ich will nicht, dass du dich gedrängt fiihlst. Aber er sagte, los, packen
wir's an."
Rodriguez erzählt weiter, fesselnd, effektvoll: von jenem
entscheidenden Moment, als er das abgetrennte Transplantatzum ersten Mal auf
Norris' Schädel legt. „Völlig Stille im Operationssaal. Jetzt darf nichts
schiefgehen, Himmel noch eins. Das Transplantat muss absolut gerade lie¬gen.
Und dann so schnell wie möglich an den Blutkreislauf des Empfängers
ange¬schlossen werden. Je länger das dauert, desto größer ist die Gefahr einer
Absto¬ßung. Wir verbinden die Arterie, dann die Vene, lösen die Klemmen, lassen
es strö¬men, und dann - wirklich, ein Wunder! Du siehst, wie das Blut vom Hals
in die Lippen fließt, wie die Nase, gerade noch weiß, sich rosa färbt. In
Sekunden. Ich denke, okay, einmal durchatmen, aber schon geht es weiter, jede
Menge Nerven verbinden, das Innere von Mund und Zunge vernä-hen, Augenbrauen,
Lider und Haaransatz ausrichten. i8, zo Stunden am Stück. Ich sage das in aller
Bescheidenheit: So etwas Aufwendiges hatte bis dahin noch nie¬mand
gemacht."
tieren, was von der neuen Hand noch übrig war. Sie
bezeichne¬ten Hallam als „Psychopathen". Dass jemand ein transplantiertes
Organ aus seelischen Gründen abstoßen könnte, erschien ihnen schlicht als
Ausdruck einer geistigen Störung.
2003 und 2004 entschieden Ethikkommissionen in England und
Frankreich, dass die Transplantation eines Gesichts, im Ver¬hältnis zum
möglichen Nutzen, zu riskant sei. Umso größer war die Überraschung unter
Chirurgen, als ein Jahr später ausgerech¬net aus dem nordfranzösischen Amiens
die erste erfolgreiche Verpflanzung einer Nasen- und Mundpartie gemeldet wurde.
Nun setzte ein weltweiter Wettbewerb um die erste vollständige
Gesichtstransplantation ein.
Rodriguez war bereit; er hatte den Eingriff nicht nur im
Seziersaal, sondern auch am Computer trainiert, wie ein Pilot am Flugsimulator.
Mehrere mögliche Patienten hatte er in Au-genschein genommen, darunter Richard
Norris. „Aber ich war noch nicht überzeugt", sagte er mir.
Er fliegt nach Paris, um sich mit Pascal Coler zu treffen,
ei¬nem 30-Jährigen, der 2008 ein neues Gesicht bekommen hat. Coler hatte unter
entstellenden Tumoren gelitten. „Und dann sitzt dieser Mann neben mir und kaut
ein riesiges Steak. Als wäre es das Normalste von der Welt. Niemand schaut ihn
an. Er hat einen Job, eine Freundin. Und da denke ich mir, Himmel noch eins,
das ist gigantisch. Wir planen hier nicht nur einen klini¬schen Eingriff, wir
verändern ein Leben."
Bald darauf macht sich in Baltimore ein Chirurgenteam
be¬reit. „Ich sagte, Richard, wenn du die Sache jetzt noch abblasen willst, tu
es. Ich will nicht, dass du dich gedrängt fiihlst. Aber er sagte, los, packen
wir's an."
Rodriguez erzählt weiter, fesselnd, effektvoll: von jenem
entscheidenden Moment, als er das abgetrennte Transplantat
ls ich Richard Norris einige Zeit später wieder be¬suche,
beschließen wir spontan, eine Rundfahrt zu machen. Wir wollen seine Schwester
besu¬chen, die etwa eine Autostunde entfernt lebt, in dem Haus, in dem er
aufgewachsen ist und wo vor 15 Jahren das ganze Drama seinen Anfang nahm.
Unterwegs bittet mich Norris, an einem Laden zu halten. „Ich brauch was für
meinen Hals", sagt er. Als er wieder aus dem Laden kommt. trägt er eine
braune Tüte unter dem Arm.
Wir unterhalten uns über iPhones. Er will eine Firma
grün-den, die auf die Reparatur solcher Telefone spezialisiert ist. Wir reden
über sein Leben als „Laborratte". Er empfinde diese Rolle als Ehrenamt,
versichert er. Helfen, anderen Hoffnung geben, das habe er schon immer gern
getan. Schon als Schüler sei er bei der freiwilligen Feuerwehr gewesen. Und
jetzt, mit seinem neuen Gesicht, helfe er den Ärzten, Soldaten mit
komplizierten Schussverletzungen besser zu behandeln.
„Ein Tropfen Hoffnung kann einen Ozean hervorbringen'', sagt
er. „Aber ein Eimer voll Vertrauen erschafft eine ganze Welt." Er mag
solche Sprüche; er hat eine ganze Reihe davon auf Lager.
„Mein Hals." Norris greift in die braune Tasche und
zieht eine Flasche Bourbon heraus. Rezeptfreie Hustenmittel dürfe er nicht
nehmen, sagt er, wegen seiner Immun-Medikamente. Zu riskant. Aus einem
mitgebrachten Rucksack holt er einige Schläuche und eine Spritze heraus, von
der Größe, mit der man üblicherweise Pferden Medizin injiziert.
Er verbindet die Spritze mit den Schläuchen, zieht sein Hemd
hoch. Ein Portkatheter kommt zum Vorschein, der mit seinem Magen verbunden ist.
Norris verbindet Schläuche undKatheter, schraubt die Whiskeyflasche auf und
beginnt, den In¬halt in die Spritze zu füllen.
„Richard, ich glaube nicht, dass Dr. Rodriguez das recht
wäre ..."
All das Gerede über Risiken, Medikamente, und wie wichtig es
ist, nicht zu rauchen, nicht zu trinken, nicht hinzufallen. Eine Laborratte,
ständig unter Beobachtung, jede Regung vermessen, kontrolliert, dokumentiert.
Ja, von wegen.
Der Whiskey fließt nicht. Irgendetwas ist verstopft. Norris
rüttelt an der Spritze. Nichts passiert.
„Könnten Sie mal anhalten?", fragt er.
Er steigt aus, leert die Spritze, kontrolliert die
Schläuche, drückt hier und da, bis etwas Magensaft herausspritzt. Setzt alles
wieder zusammen. Jetzt fließt der Whiskey schnell in ihn hinein, wie Wasser in
einen Abfluss.
„Und das ist für Ihren Hals?"
„Ich darf keine rezeptfreien Hustenmittel nehmen",
wieder¬holt er.
Er füllt die Spritze noch einmal, und noch einmal. Ich denke
an seine Schwester. Wir werden sie heute nicht mehr sehen. Nach fünf Minuten
klappt er zusammen, wie ein angeschossenes Tier, mit offenen Augen. Aus seinem
eingefallenen Körper hängt der Schlauch.
„Richard?" Ich rüttele an seiner Schulter. Einen
schreckli-chen Moment lang denke ich, dass er tot ist. Dann höre ich ein
Gurgeln, Atmen. Er lebt noch. Atmet durch die Nase, die einmal einem anderen
gehörte. Eine Nase, mit der er riechen kann, so wie er kauen und essen kann mit
den Zähnen, den Kiefern eines Toten. Das ist, trotz allem, fantastisch.
F---
4 inige
Zeit nach dieser Begegnung frage ich Dr.
' Rodriguez, weshalb er, aus dem Kreis möglicher
Kandidaten, gerade Richard für die Operation aus-
gewählt habe. „Ich hatte bereits ein Vertrauensver-
hältnis zu ihm entwickelt", erwidert er. „Ich wusste,
dass er ein Mensch ist, der dieses Geschenk wirklich zu schätzen weiß. Man darf
ja nie vergessen, dass jemand sterben musste, damit Richard ein neues Gesicht
empfangen konnte. Ich musste also sichergehen, dass er die Bereitschaft
mitbrachte, aus dieser Gabe das Beste zu machen, für sich und für andere."
„Das erfordert ein hohes Maß an Verantwortung", sage
ich. „Ein sehr hohes", stimmt er zu.
In einem Artikel für die Fachzeitschrift „The Lancet"
schreibt Eduardo Rodriguez, dass die Auswahl der Patienten ei¬ner der wichtigsten
Faktoren für den Erfolg einer Transplanta¬tion sei. „Ein multidisziplinäres
Team bestimmt in einem stren¬gen psychologischen und psychiatrischen
Screening-Verfahren jene Patienten, die ausreichend motiviert, stabil und
kooperativ sind. Dieses Verfahren ist der beste Schutz gegen ethische Be¬denken
- und trägt entscheidend zu einer schnellen und sicheren Genesung bei."
Der „Lancet"-Artikel zieht eine Bilanz aller 28 Teil-
und Komplettverpflanzungen von Gesichtern, die bislang weltweit
28 NEUE GESICHTER
Augen, Nase, Lippen, Zunge. 14 Knochen, 26 Muskeln, 17000
Tastrezeptoren, empfänglich für Kälte, Wärme, Berührung und Schmerz, 20 bis 3o
Millionen Riechsinneszellen: Das Gesicht ist nicht nur „Spiegel der
Seele", sondern auch ein zentrales Sinnes-organ. Schon ein flüchtiger
Blick auf seine Anatomie zeigt, wie verheerend sich sein Verlust, ganz oder
auch nur in Teilen, aus-wirkt - auf Kommunikation, Wahrnehmung,
Selbstbewusstsein.
Die Frau, die sich im Sommer 20 05 in der
Universitäts¬klinik von Amiens vorstellte, war schwer zu verstehen, denn ihr
Mund, oder was davon übrig war, ließ sich kaum öffnen. Sie wurde seit Wochen
künstlich ernährt, wagte sich kaum vor die Tür. Schuld war ein bizarrer Unfall:
Ihr Hund hatte Teile ihres Gesichts weggebissen, als sie nach der Einnahme
einer Überdosis Schlaf-tabletten bewusstlos geworden war.
Die Verzweiflung der 38-jährigen Patientin war so groß, dass
die Chirurgen der Klinik ethische Bedenken beiseiteschoben und sich zu einem
Eingriff entschlossen, der wenige Jahre zuvor noch als medizinische
Science-Fiction gegolten hatte.
ÄRZTE OPERIEREN UM DIE WETTE
Am 27. November 2005 wurden der Französin Isabelle Dinoire,
als erstem Menschen der Welt, Teile eines fremden Gesichts ver-pflanzt - von
einer Spenderin, die Suizid begangen hatte. Wenige Wochen nach der Operation
präsentierte sich Dinoire mit ihren Ärzten erstmals der Öffentlichkeit.
Die Transplantation erregte nicht nur weltweit Aufsehen, sie
spornte auch viele Chirurgen an, die ähnliche Eingriffe bereits geplant hatten.
Zwischen 2006 und 2013 erhielten 27 weitere Patienten neue Gesichter - neun
allein in Frankreich, sieben in den USA, die übrigen in Spanien, Polen,
Belgien, der Türkei und China. In den meisten Fällen wurden nur Teile eines
Gesichts verpflanzt: Nase, Mund und Wangenpartien. Die erste vollstän¬dige
Transplantation erfolgte 2010 in Barcelona, bei einem 30-Jährigen, der einen
Jagdunfall erlitten hatte. Die meisten der 28 bislang Operierten - 22 Männer,
sechs Frauen - waren durch Schussverletzungen und Verbrennungen entstellt
worden.
Drei Empfänger eines neuen Gesichts sind bislang
verstor-ben; einer durch eine Infektion des Transplantats, ein weiterer infolge
der Krebserkrankung, die Anlass für den Eingriff war. Ein chinesischer Patient
beschloss gegen den Rat seiner Ärzte, die Medikamente gegen Immunreaktionen
abzusetzen und auf traditionelle Medizin zurückzugreifen; er lebte danach nur
noch wenige Monate.
ENDLICH WIEDER RIECHEN UND SPÜREN
Die Gefahr einer Abstoßung besteht bei Transplantationen
immer. Im Fall eines Gesichts ist sie jedoch noch größer als bei inneren
Organen - schließlich ist die Haut besonders auf die Immunabwehr von Erregern
spezialisiert. Laut einer Bilanz der bislang vorgenommenen Gesichtsverpflanzungen,
die 2014 im Fachmagazin „The Lancet" erschien, haben alle 28 Patienten im
ersten Jahr nach dem Eingriff Abstoßungsreaktionen erlebt. Die
ständige Einnahme von Medikamenten zur Unterdrückung des
Immunsystems hat außerdem Nebenwirkungen: Einige Patienten sind an Diabetes
oder Niereninsuffizienz erkrankt, fast alle leiden häufiger als früher an
Infektionen.
KAUM ÄHNLICHKEIT MIT DEM SPENDER
Ob der Gewinn an Lebensqualität solche Nachteile aufwiegt,
lässt sich noch nicht mit letzter Gewissheit sagen: Von 15 Operierten liegen,
laut der US-Studie, nur unvollständige oder gar keine Daten vor. Doch
diejenigen Patienten, die Auskunft gaben, mel¬den Positives: Schon Stunden nach
der Transplantation konnten viele wieder riechen, nach einigen Wochen oder Monaten
Berührung, Kälte und Wärme auf der Haut spüren. Die körper¬eigenen Nerven
„erobern" allmählich das fremde Gewebe, sodass die Patienten es zunehmend
als ihr eigenes wahrnehmen. Zwar können sie seine Muskeln nie so differenziert
und ausdrucks¬voll bewegen wie die ihres verlorenen Gesichts. Doch lernen die
meisten mit der Zeit, Lippen und Zunge des neuen Organs so weit zu beherrschen,
dass sie wieder normal essen, trinken und verständlich artikulieren können.
Die Aussagen der Patienten widerlegen auch eine oft
geäußerte Befürchtung: dass das Leben mit dem Gesicht eines anderen zu einer
Identitätskrise führen könnte. Tatsächlich sehen die meisten Empfänger ihren
Spendern kaum ähnlich - weil die Konturen eines Gesichts vor allem durch die
darunterliegenden Knochen geformt werden. Alle Befragten gaben an, dass sich
ihr seelischer Zustand durch die Operation deutlich verbessert habe; einige
nahmen sogar wieder ihre Arbeit auf.
TEURE THERAPIE BIS ANS LEBENSENDE
So vielversprechend solche Erfahrungen sind: Die Verpflanzung
eines Gesichts wird vermutlich nie zu einer medizinischen Standardleistung
werden. Dazu ist schon der finanzielle Aufwand zu groß: Zu den Kosten von rund
280 000 Euro kommen bis zu 17000 Euro jährlich für die Immunsuppression - zu
zahlen bis ans Lebensende des Patienten.
Es liegt nicht nur an den Kosten, dass in Deutschland
bis¬lang keine Gesichtstransplantation vorgenommen wurde. Auch nicht an
mangelnder chirurgischer Kompetenz: „Es gibt mehrere Kliniken, die für einen
solchen Eingriff gerüstet wären", sagt Peter M. Vogt, Direktor der Klinik
für Plastische Chirurgie an der Medizinischen Hochschule Hannover und Präsident
der Deut¬schen Gesellschaft für Chirurgie. Doch es gebe kaum Patienten, die
dafür infrage kämen: „Schwere Entstellungen durch Schuss¬verletzungen sind
hierzulande sehr selten. Und den meisten Patienten mit Gesichtsverletzungen
kann mit Methoden der klassischen ästhetischen Chirurgie geholfen werden-etwa
Ver¬pflanzung von Eigenhaut oder Epithesen." Künstliche Gesichts¬teile,
etwa aus Silikon, sind zwar kein Ersatz für echtes Gewebe. Aber sie sind
technisch wie gestalterisch mittlerweile so aus¬gereift, dass den meisten
Patienten selbst auf den zweiten Blick nicht anzusehen ist, was sie erlitten
haben.
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