Haben Aktien noch Luft nach oben
Author D.Selzer-McKenzie
Video: http://youtu.be/vqsS9-ULx5U
Haben die Aktien unter dem Aspekt
der Bewertung noch Luft nach oben?
Unter Schwankungen sind die Aktienmärkte in den
zurückliegen-den Jahren deutlich gestiegen. Ist die aktuelle Bewertung noch
angemessen? Wo liegen die fairen Bewertungsniveaus für Dow, DAX und Co.? Wie
positioniert sich Private Investing und wo war man dort im Mai und Juni
besonders erfolgreich?
Lehren aus Baisse und Hausse
Im Frühjahr 2009 hatte die Finanzkrise an den Aktienmärkten
eine „ausgebombte Börsenlandschaft" hinterlassen. Der Dow Jones Industrial
Average war von seinem Rekordhoch im Sommer zuvor von 14.164 um über die Hälfte
auf 6.547 gefallen. Noch schlimmer hatte es den EURO STOXX 50 als populärsten
westeuropäischen Aktienindex getroffen: Er lag bei Ausbruch der Finanzkrise im
Sommer 2007 noch weit unter seinem 2000-er Rekordhoch, ver¬lor aber trotzdem
gut 60 Prozent seines Wertes (von 4.557 auf 1.810). Der DAX, beliebtestes
Barometer der Deutschen für das Geschehen an den Aktienmärkten, hatte sein
Rekordniveau aus dem Jahr 2000 gerade wieder erreicht, als die Baisse begann.
An deren Ende hatte auch der DAX über die Hälfte seines Wertes ver-loren, trotz
der Dividendeneinrechnung, die er den beiden erstge-nannten Indizes voraus hat.
Am Ende der Baisse, im Frühjahr 2009, waren die Aktienmärkte
krass unterbewertet - wenn man davon ausging, dass die Welt-wirtschaft nicht
vor dem totalen Kollaps stände. Genau ein solches Szenario wurde an den Märkten
mit einer nicht kleinen Eintritts¬wahrscheinlichkeit eingepreist. Im Jahr zuvor
hatte die Bankenkrise mit der Pleite von Lehman Brothers ihren Höhepunkt erreicht.
Wenn weitere Großbanken zusammenbrechen würden, würde die
Weltwirtschaft wohl folgen. Dass die Krise nicht auf den Finanz-sektor begrenzt
bleiben würde, war schon Realität geworden: Der Vertrauensverlust hatte zu
einem weltweiten Konjunktureinbruch geführt, schärfer und globaler als jemals
zuvor. Düstere Parallelen zum Börsen-Crash von 1929 und der nachfolgenden
Weltwirt-schaftskrise waren nicht mehr die Spinnerei weniger notorischer
Pessimisten, sondern eine mögliche Realität. Bekanntlich blieb der
Weltuntergang aus. Weitere Großbankenpleiten wurden verhindert. Die Menschen
gingen arbeiten und einkaufen. Die Wirtschaft musste ihre leeren Lager wieder
füllen. Die Weltkonjunktur erlebte eine rasante Erholung - und mit ihr die
Aktienkurse. Einmal mehr waren nicht die Extremszenarien eingetreten, sondern
eine Nor¬malisierung. Statistisch ist bei marktwirtschaftlichen Systemen mit
ihrem Streben nach Gleichgewicht die Rückkehr zur Normalität viel
wahrscheinlicher, als dass eine extreme Situation im Sinne eines Teufelskreises
immer extremer wird. Dies gilt in beide Richtungen.
Im Frühjahr des Jahres 2000 waren die Aktienbörsen krass
über-bewertet. Gerechtfertigt wurde dies mit einer „neuen Normalität",
nämlich der „new economy": Neue Technologien erlaubten - so der Glaube
vieler - Wachstum ohne Ende, Wachstum ohne Rück-schläge, ohne Konjunkturzyklus.
Bekanntlich platzte die „Internet-" und „new economy"-Blase. Abermals
erwies sich die „alte Norma-lität" als stärker.
Der Rückblick macht zweierlei deutlich. Erstens: Nur in der
Rückschau kann man abschließend beurteilen, ob Aktien über-, unter- oder
richtig bewertet waren. Weil das Kursniveau die jeweils vorherrschenden
Erwartungen an die Zukunft „einpreist", gibt es immer Gründe dafür, dass
die Kurse da stehen, wo sie stehen.
Aber auch zweitens: Die vorherrschenden Erwartungen an die
Zu-kunft erweisen sich das eine Mal als zu pessimistisch, ein ande-res Mal als
zu optimistisch. Mit der sachlichen Wahrnehmung der nüchternen Realität tun
sich Menschen dagegen schwer. Deshalb kann, wer sich auf ökonomische Fakten
konzentriert, Übertreibungen in die eine oder andere Richtung als solche
erkennen - immer mit dem kleinen Restrisiko, dass es diesmal keine Übertreibung
ist. Eine Bewegung weit weg vom langfristigen Durchschnitt kann sich immer noch
etwas länger und weiter fortsetzen. Die Wahr¬scheinlichkeit einer Rückkehr zum
langfristigen Durchschnitt nimmt dann aber zu. Dies gilt auch und besonders für
die kon¬junkturelle Entwicklung.
Faire Werte
Was ist fair? Was ist die angemessene Bewertung für Aktien?
Ein verlässliches, stets die zukünftigen Kurse richtig vorhersagendes
Bewertungsmodell wäre natürlich das, was für mittelalterliche Al¬chemisten die
Erschaffung von Gold gewesen wäre: Im ersten Mo¬ment ein Weg zu grenzenlosem
Reichtum, aber wertlos, wenn alle es könnten. Die Versuche sind dennoch
ungezählt. Und auch wenn das Ziel nie erreicht werden kann, bringen schon die
Versuche wertvolle Erkenntnisse.
Wenn man einen Überblick über die Ansätze und Methoden zur
Prognose von Aktienkursen geben will, müsste man zunächst die
Ansätze unterscheiden, die den Wert einer Aktie bestimmen
wol-len. Die sogenannte Fundamentalanalyse will den Preis vom Wert des
Unternehmens ableiten. Anderen führt das zu weit weg vom Ort des Geschehens:
Auf den Märkten ergeben sich Preise durch Angebot und Nachfrage.
„Markttechnische" Ansätze untersuchen lieber die Faktoren, die auf Angebot
und Nachfrage an den Börsen einwirken, darunter vorherrschende Stimmungen,
psychologische Effekte, Trends, aber auch die Versorgung mit Liquidität, das
mo¬netäre Umfeld und andere Rahmenbedingungen für die Börse. Mit einer „fairen
Bewertung" hat das dann allerdings nicht immer zu tun.
Antworten auf die Frage nach einer „fairen" Bewertung
gibt eher die Fundamentalanalyse. Dabei kennt auch diese Denkschule zwei
grundsätzlich verschiedene Herangehensweisen: Der Wert eines Unternehmens, so
die klassische Auffassung, ergebe sich aus der Bilanz, nennt sie doch das
Vermögen und die Schulden ei¬nes Unternehmens. Somit sei aus den Büchern das
Eigenkapital ¬der „Buchwert" - abzulesen, ein Ansatz, der allerdings um
stille Reserven und stille Lasten korrigiert werden muss. Und somit ist auch
der Buchwert als Substanzgröße keine ganz objektiv festste-hende Zahl, sondern
das Ergebnis individueller Kalkulationen. Dann kommen die Analysten ins Spiel.
Es bleibt festzustellen, dass die Buchwerte von Analyst zu Analyst nicht so
weit streuen wie Zahlen, die auf Zukunftsprognosen basieren. Mit Mittelwerten
lässt sich also schon ein recht verlässlicher Buchwert ansetzen, der wiederum
ins Verhältnis zum aktuellen Kurs als Kurs-Buch-wert-Verhältnis das klassische
Value-Kriterium schlechthin ist. Doch auch das Kurs-Buchwert-Verhältnis lässt
Interpretationen zu: Kostet ein Unternehmen weniger als sein Eigenkapital,
erwartet der Markt wohl signifikante Verluste. Sollte das nicht so sein, ist
die Aktie allerdings klar unterbewertet. Denn im Normalfall sind Unternehmen
mehr als ihren einfachen Buchwert wert. Schließlich soll ein Unternehmen eine produktive
Kombination von Vermögens¬werten sein, also mehr als die Summe seiner Teile.
Andernfalls wäre aus Sicht eines Ökonomen die Zerschlagung des Unterneh¬mens
und die Neuordnung seiner Aktiva sinnvoll. Kurs-Buchwert-Verhältnisse zwischen
1,5 und 2,0 gelten als langfristiger Durch¬schnitt; über 2,0 wird es teuer.
Dies gilt gegenwärtig für den US-Aktienmarkt. In Europa ist nach diesem
Kriterium allenfalls der Aktienmarkt der Schweiz teuer. Die meisten
westeuropäischen Ak¬tienmärkte liegen nahe dem Durchschnitt von 1,8 -
Österreich und Italien sogar darunter. Auch der japanische Aktienmarkt ist bei
einer Betrachtung nach Buchwerten trotz der Kursgewinne der vergangenen Zeit
nicht überbewertet, sondern eher leicht unter¬bewertet.
Die Betrachtung von Kurs-Buchwert-Verhältnissen mag bei
Value-Investoren weiter hoch im Kurs stehen; die Wissenschaft hat längst
erkannt, dass weniger gegenwärtige Substanz als vielmehr der zukünftige freie
Cashflow den Wert eines Unternehmens be-stimmt. So ist der faire Wert einer Aktie
der Barwert ihrer zukünftigen Cashflows. Das ist mathematisch korrekt, aber
eine Gleichung mit zwei Unbekannten: Wie hoch werden wohl die Gewinne bzw.
Cashflows des Unternehmens in den kommenden Jahren sein? Spätestens wenn die
Prognosen mehr als anderthalb Jahre in die Zukunft reichen, werden sie per se
so unpräzise, dass in der Praxis kein wirklicher Verlass mehr darauf ist. Und
auch der Zinssatz, mit dem dieser erwartete zukünftige Zahlungsstrom auf die
Gegen¬wart abdiskontiert werden muss, sollte diskutiert werden: Über¬nimmt man
die jeweils aktuellen Renditen für verschiedene Lauf¬zeiten vom Kapitalmarkt?
Oder darf man mit einem einheitlichen, gleichbleibenden Zins arbeiten?
Insbesondere wenn man sich vor Augen führt, dass man im Rahmen dieses akademischen
Modells den Barwert einer ewigen Rente schätzend ermittelt, dürfte klar sein,
dass diese Methode nur auf dem Papier wissenschaftliche Präzision liefert.
Festzuhalten bleibt, dass ein Niedrigzinsumfeld in mehrfacher Hinsicht höhere
Aktienkurse rechtfertigt: Neben dem realen Effekt geringerer Zinskosten gibt es
finanzmathema¬tische Effekte.
Das letzte Wort haben die Unternehmensgewinne
Dennoch führt bei der Frage nach der fairen Bewertung von
Aktien an der Betrachtung von Unternehmensgewinnen und ihrem Ver¬hältnis zum
aktuellen Börsenwert kein Weg vorbei. Wer sich selbst keine Gewinnschätzungen
zutraut oder solchen aus anderen Quellen misstraut, arbeitet mit
Vergangenheitsdaten, beispielswei¬se den durchschnittlichen
Unternehmensgewinnen der vergange¬nen Jahre. Dann wird beispielsweise deutlich,
dass der italienische Aktienmarkt nach Buchwert billig, nach
Kurs-Gewinn-Verhältnis eher teuer ist. Und auch für die meisten Aktienmärkte
müsste man eher den Eindruck einer Über- als Unterbewertung bekommen, sieht man
von Extremfällen wie Russland und Griechenland ab. Es ist klar: Da wo
Unternehmensgewinne fallen, erscheinen Aktien gemessen an früheren Gewinnen
heute billig. Umgekehrt relativieren steigende Unternehmensgewinne Markt-KGVs,
die mit Vergangen-heitsdaten teuer erscheinen. An einer Prognose der
wirtschaftlichen Entwicklung und ihrer Auswirkungen auf die Unternehmensgewinne
kommt man bei der Aktienanalyse also nicht vorbei.
Ergebnisse aktueller Analysen
Die Weltwirtschaft befindet sich in einem robusten
Konjunkturauf-schwung. Insbesondere in Westeuropa und Japan können Unter-nehmen
ihre Gewinne gegenwärtig mit einer Jahresrate von durchschnittlich rund 10
Prozent steigern. US-Unternehmen fällt das schwerer. Nicht zuletzt der gegen
Euro und Yen gestiegene Dollar belastet die Bilanzen amerikanischer Unternehmen
und hilft Konzernen, die in Euro und Yen rechnen. In die gleiche Rich¬tung
wirkt der stark gefallene Ölpreis: Während die Ölwirtschaft in den USA größeres
Gewicht hat, sind Euroland und Japan Gewin¬ner des Ölpreisrückgangs.
Unternehmen in Euroland verdienen gegenwärtig um die 7 Prozent auf das
eingesetzte Kapital. Davon wird etwa die Hälfte an die Aktionäre ausbezahlt.
Angesichts der niedrigen Zinsen stehen EURO STOXX 50 und DAX also viel zu tief,
könnten rechnerisch glatt 50 Prozent steigen. Je nach Gewicht, das man den
aktuellen Zinsen in den Modellen gibt, errechnen sich faire Werte für den EURO
STOXX 50 von mindestens 5.000 und für den DAX von gut 16.500. Für den
japanischen Nikkei-225-Index ergeben sich immerhin Ziele zwischen 25.000 und
30.000. Der US-Standardwerteindex S&P-500 ist dagegen mit
rund 2.100 Punkten schon etwa fair bewertet, schließlich
sind die Kapitalmarktrenditen dort schon deutlich höher, zum Zeitpunkt dieser
Kalkulationen Mitte Juli bei fast 2,4 Prozent für zehnjährige US-Treasury-Bonds
gegenüber 0,8 Prozent für deutsche Bundes¬anleihen gleicher Laufzeit.
Zwischenfazit Bewertung
Preist der Aktienmarkt eine rasante Zinswende in Euroland
und Japan ein? Wenn die Renditen auch in Euroland und Japan Richtung 3 Prozent
steigen würden, wären die Aktienmärkte bei unverän¬derten Annahmen für die
Unternehmensgewinne fair bewertet. Im Basisszenario anhaltend guter Konjunktur
spricht einiges dafür, dass die Zinsen in den nächsten zwei Jahren zwar diese
Richtung einschlagen, gleichzeitig aber auch die Unternehmensgewinne weiter
steigen. Dann bleiben die oben genannten Kursziele als faire Werte für die
kommenden zwei Jahre bestehen.
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