Weisse Eulen
Author D.Selzer-McKenzie
Video: http://youtu.be/l9_rw_cZz4U
Warum verlassen Schnee-Eulen im Winter in offenbar
immer größerer Zahl die menschenleere Weite ihrer arktischen
Heimat? Was treibt sie dazu, ihr Heil in der Zivilisation
zu suchen? Wissenschaftler stehen vor einem Rätsel - das sie
mit Geduld und Hightech zu lösen versuchen.
über erste Ergebnisse staunen
E s ist eine stille, eine geheim-
nisvolle Eroberung, die Nord¬amerika erlebt. Leise fliegen
die Invasoren ein, Geschöpfe der menschenleeren Arktis,
auf Schwingen von anderthalb Meter Spannweite. Sie tauchen
plötzlich auf im Mittleren Westen der USA oder an der Ostküste, wandern
neuerdings sogar bis hinab nach Florida. Aus durchdringenden gelben Augen
blicken sie auf die Land¬schaften der Zivilisation. Sitzen auf Zaun¬pfählen,
Straßenschildern, Hausdächern. Wie Botschafter einer fernen Welt.
Die meisten Menschen sind glücklich wer den Besuch der
weißen Eulen. Bei Kansas City kam es zu Verkehrsstaus, weil Tausende Naturfreunde
sich aufmachten, Le Schnee-Eulen am Smithville-See zu 7eobachten. Anderen
erscheint das Schau¬
spiel eher als Heimsuchung. Namentlich jenen, die für die
Sicherheit startender und landender Passagiermaschinen zu-ständig sind.
Schnee-Eulen nämlich lieben Flug-häfen. Wahrscheinlich
erinnert das weite, karge Gelände sie an die heimische Tun¬dra. Die Stille des
hohen Nordens schei¬nen sie aber nicht zu vermissen. Am New Yorker John F.
Kennedy Airport wurden im Dezember 2013 drei der großen, zu den Uhus zählenden
Vögel abgeschos¬sen - weil zuvor einige Artgenossen mit Passagierjets
kollidiert waren. Der Auf-schrei der Naturfreunde: erwartbar laut.
Die Behörden gingen dazu über, das Sicherheitsrisiko
Schnee-Eule in Fallen zu bannen und fern der Rollfelder auszuset¬zen. Und die
Fänger bekamen so viel zu tun wie nie zuvor. Allein vom Logan Air¬
port in Boston mussten weit über hundert Schnee-Eulen
abtransportiert werden; der Winter 2013/14 brachte die spektakulärs¬ten
Wanderbewegungen seit Jahrzehnten. In der ersten Dezemberwoche meldeten die
Beobachter 35o Sichtungen allein im Staat New York. Normal wären so gewe¬sen.
Neun Schnee-Eulen, die vermutlich im Sturm die Orientierung verloren hat¬ten,
retteten sich vor Neufundland auf ein Schiff- das sie bis nach Europa trug.
Seit jeher ziehen Schnee-Eulen im Winter nach Süden. Daniel
J. Cox, von dem die Bilder auf diesen Seiten stam-men, wuchs im Mittleren
Westen auf und kennt die weißen Vögel seit seiner Kind¬heit. „Sie tauchten
immer wieder an den Großen Seen auf, mal mehr, mal weni¬ger." Aber jetzt,
so scheint es, kommen sie in Massen nach Süden. Cox ist nicht nur
-..-,graf, sondern auch Umweltschützer;
=±2r des Arctic Documentary Project,
f71..:fr der Organisation Polar Bears 1n-:ernational. Er
führt die Eulen-Invasion aul den Klimawandel zurück.
„Welche dramatischen Veränderun-gen sich jenseits des 67.
Breitengrades ab¬spielen, ist den meisten Menschen noch gar nicht bewusst. Wenn
das Eis so stark schmilzt, dass sich neue Schiffsrouten auftun - warum sollte
sich nicht auch das Wanderverhalten der Vögel ändern?"
Der Biologe Denver Holt, den Cox zu den Brutplätzen der
Schnee-Eulen beglei¬tet hat, warnt vor allzu schnellen Schlüs¬sen: „Wir wissen
sehr wenig über diesen Vogel", sagt er. Und es gibt kaum jeman¬den, der
sich mit dieser Tierordnung bes¬ser auskennt. Im US-Bundesstaat Monta-na
betreibt Holt in einem alten Farmhaus
am Fuße der Mission Mountains sein
Eu¬len-Forschungsinstitut. Oft reist er nord¬wärts, bezieht seinen Außenposten
bei Barrow in Alaska. Seit 22 Jahren studiert er die Schnee-Eulen in der Tundra
an der Tschuktschensee.
W
arum eine solche Hingabe an diese Spezies? „Weil die
Schnee-Eule an der Spitze der Nahrungskette steht und damit ein Indi¬kator ist
für die Veränderungen im gesam¬ten Ökosystem Arktis. Und weil sie ein
wunderbares Tier ist. Über die Schnee-Eule lässt sich Aufmerksamkeit auf
Um¬weltprobleme lenken, die anders viel¬leicht unbeachtet blieben."
Umweltprobleme, für die das verän¬derte Wanderverhalten des
Vogels ein In¬diz sein könnte?
Holt mahnt erneut zur Vorsicht. Tr_ (oder gerade wegen)
seiner intens:- - Langzeitstudien: Der Wissenschaftie: sieht in seinen über
Jahre gesammelter. Daten keine klaren Muster, noch
Die Schnee-Eule sei nun mal ein Vielflie¬ger mit
rätselhaften Wanderbewegungen. „Sie ziehen nicht einfach im Winter nacn Süden
und im Frühjahr nach Norden. Sie wandern auch Tausende Kilometer hoch über dem
Polarkreis."
Mithilfe von Peilsendern konnte Holt nachweisen: Das
Streifrevier mancher dieser Vögel umfasst ein Drittel der Ark¬tis - von Alaska
nach Sibirien und bis hin¬auf in die kanadische Inselwelt. Schnee-Eulen sind
gut für den Langstreckenflug ausgestattet. Kaum ein anderer Vogel be¬sitzt eine
so günstige Relation zwischen der Größe der Schwingen und dem (ver-
gleichsweise geringen) Gewicht, das sie tragen müssen. Und
Schnee-Eulen kön-nen nicht nur weit, sondern auch extrem langsam fliegen, fast
in der Luft stehen ¬was den Jagderfolg erhöht. Feinste Federn am Rand der
Schwingen absorbieren die Fluggeräusche; die Opfer hören den Jäger am Himmel
nicht. Dafür kann dieser sei¬ne Beute im Flug umso besser akustisch orten -
kein Rauschen der Schwingen übertönt das Rascheln am Boden.
Die Beute, das sind zu 90 Prozent Lemminge, jedenfalls in
der Brutsaison; jene arktischen Wühlmäuse, die sich in manchen Jahren
explosionsartig vermeh¬ren. „In solchen Lemming-Jahren brin¬gen die Eulen
gleich sechs, sieben oder noch mehr Junge durch", beobachtet Holt an den
Nestern in der Tundra. Das Nah-rangsangebot scheint auch die Stärke der
Invasionswellen nach Süden zu beeinflus¬sen. Jedoch gänzlich
anders als gedacht: Noch vor Kurzem ging man davon aus, Hunger treibe die Eulen
nach Süden. Eher aber scheint Nahrungsüberfluss der Grund zu sein.
D
er Sommer 2013 war ein formi¬dables Brutjahr - Lemming satt
für viele Eulenküken. Wenn die Nachkommenschaft aber so zahlreich flügge wird,
kann es sogar in der Weite der Tundra eng werden. Denn Schnee-Eulen sind
Einzelgänger mit aggressivem Revierverhalten. Offenbar ist die Wande¬rung nach Süden
auch ein Ventil für stei¬genden Populationsdruck.
Hinzu kommt: Um den Winter in der Arktis zu überleben - wenn
die Lemminge unter einer Schneedecke verborgen und
die Kleinvögel fortgezogen sind -, braucht eine Schnee-Eule
viel Jagderfahrung. Der Nachwuchs überwintert lieber erst einmal im Süden. Es
passt also ins Bild, dass den Fängern an den Flughäfen von New York und Boston
fasst nur junge Eulen in die Fallen gingen.
Schnee-Eulen, die in der Eiswüste überwintern können, haben
allerdings gleich zwei Startvorteile für die Brut-saison: freie Revierwahl (die
Vögel kehren selten an ihre alten Brutplätze zurück). Und: die Pole-Position
bei der Partner¬suche (die Paare bleiben immer nur für eine Brutsaison
zusammen).
Wie aber satt werden in der gefrore-nen Tundra? Das lag
lange im Dunkeln, verborgen in der Finsternis der Polar-nacht. Bis kanadische
Forscher eine spek¬takuläre Studie präsentierten. Wissen-schaftler von der
Universität Quebec hatten zwölf Schnee-Eulen mit Satelli-tensendern
ausgestattet. Die Funksignale verrieten, dass lediglich zwei der Vögel nach
Süden gewandert waren; die ande¬ren verbrachten den Winter im hohen Norden. Und
das Verblüffende: Die meis¬ten von ihnen zogen sogar weit hinaus auf das
Meereis - wo sie bis zu zweieinhalb Monate verbrachten.
D
ie Wissenschaftler übertrugen den per Funk ermittelten
Stand¬ort der Eulen in hochaufgelöste Satellitenbilder. Und erkannten: Die
Tiere hatten sich an offenen Stellen im Meereis niedergelassen, wo sich auch
Wasservögel in großer Zahl einfinden. Eiderenten, Eis¬enten, Alken; sie standen
auf dem Winter¬speiseplan der Eulen - die ihr Nahrungs-
verhalten offenbar komplett umstellen können. Im Sommer
kleine Nagetiere im Grasland der Tundra, im Winter Seevögel draußen auf dem
Meereis.
Und hier kommt der Klimawandel ins Spiel, auf beide
Nahrungsquellen wirkt er ein - gleichwohl komplex, teils wider¬sprüchlich:
Milderes Wetter bedeutet mehr Lemminge, was gut ist für die Eulen-population.
Die offenen Stellen im Meer¬eis werden größer - kommt ihnen auch das zugute,
weil die maritimen Jagdre¬viere sich ausweiten? Oder ist es eher schlecht, weil
die Seevögel sich nicht mehr an wenigen Plätzen konzentrieren?
,Yielleicht ist die Schnee-Eule ein Profiteur des
Klimawandels", sinniert Denver Holt. „Gut möglich, dass ihr die milderen
Temperaturen nützen. Ich weiß keine klaren Antworten. Wir müssen wei¬
terforschen." Die weißen Eulen. die - dem hohen Norden einfliegen, sie
eine Botschaft mit sich. Nur: Lesen .J:227.-nen wir sie leider noch nicht
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