Mittwoch, 19. August 2015

Patagonien Patagonia – Eine Reise durch Patagonien


Patagonien Patagonia – Eine Reise durch Patagonien

Ein Reisebericht von D.Selzer-McKenzie

Video: http://youtu.be/nxPkn5zTxOQ

H ist der Wind zuhause. Stürmt von den Eisfeldern der Antarktis heran, türmt die Wellen im Beagle Channel, und wenn er erst einmal die quer liegen¬den Andenausläufer hinter sich hat, ist da nichts mehr, was ihn aufhalten könnte. Dann jagt er zwischen den Bergen hin¬durch in die Ebenen hinab, treibt ausge¬rissenes Buschwerk vor sich her, kämmt das Pampagras, rüttelt an den Bäumen, fährt den grasenden Guanacos in die Wolle. Schließlich jagt er hinauf in die Wolken, dort, wo die Hörnergipfel des Torres del Paine bis gerade eben hinter einer dicken Wand aus Watte verborgen waren. In der sucht sich der Wind eine Lücke, findet sie, drängt sich hinein, treibt in fünf Minuten die komplette Wolkenwand auseinander. Und gibt den Blick frei auf eines der gro߬artigsten Bergpanoramen der südlichen Erd¬hälfte. Es würde einen nicht wundern, wenn jetzt von irgendwoher eine dieser hymni¬schen Fanfaren erklingen würde, die solche Bilder im Kino immer untermalen.

Patagonien: Das ist eines dieser Länder, in denen man die Macht der Natur noch spürt. In denen Wettervorhersagen noch wirklich wichtig sind und die Frage, ob man morgens im Hotel die Regenjacke an¬gezogen hat. In denen man als Reisender am Horizont nach möglichen Änderungen Ausschau hält, erst nur gelegentlich, bald schon ganz selbstverständlich, als habe man nie etwas anderes getan. Und in denen alles von so unglaublichen Dimensionen ist,

dass man abends regelmäßig verwundert auf die Landkarte schaut: was, den ganzen

Tag unterwegs und nur einen Fingerbreit

weiter gekommen? Vier Stunden noch, und dann sind wir erst ein Achtel der Strecke

gefahren? Was stand da eben auf dem Hinweisschild — Ushuaia 1433 Kilometer? Patagonien ist ein Land, in dem man sich als Mensch ganz, ganz klein vorkommt.

Ein Land? Ja. Aber zwei Staaten. Patago-nien hat die doppelte Staatsbürgerschaft, es erstreckt sich von den Grenzflüssen Rio Bio Bio (Chile) und Rio Colorado (Argen¬tinien) bis hinunter an das ausgefaserte Ende des Kontinents, ein Drittel chilenisch, zwei Drittel argentinisch, und mittendrin die Anden, die säuberlich gestaffelt Gipfel an Gipfel Richtung Horizont marschieren. Über 900 000 Quadratkilometer ist Patago-nien groß und deshalb auch ein Land der landschaftlichen Unterschiede: Im Süden die harsche Tierra del Fuego, Feuerland, abgetrennt vom Festland durch die Magel-lanstraße. Darüber — ganz grob unterteilt —das Gebiet der Gletscher, dann das der großen Schafsfarmen, dann, ziemlich im Norden schon, der Lake District, das Reich der Vulkane, fast alle perfekt konisch ge¬formt, wie 1:1-Kopien des Fujiamas, ein Paradies für Bergsteiger und Trekker und Mountainbiker. Wenn man aber nicht ge¬rade in diesen gebirgigen Regionen unter¬wegs ist, dann ist Patagonien vor allem ein Land der Weite. „Die Ebenen Patagoniens sind grenzenlos", hat Charles Darwin 1836 geschrieben, „ihnen haftet der Anschein an, schon seit ewigen Zeiten so zu sein". Vielleicht ist es ja auch das, was wir heute spüren, wenn wir dorthin reisen. Nach Patagonien, ans schönste Ende der Welt.

MAJESTÄTISCHE

GEBIRGSZÜGE

Vor 140 Millionen Jahren sah es hier noch komplett anders aus. Damals war das Land flächendeckend von einem gewalti¬gen gemäßigten Regenwald bedeckt. Dann kamen die Anden, ihre Vulkane brachen aus der Erdoberfläche hervor, ihre Asche begrub die Wälder, und als sie sich endlich gegenseitig in die Höhe geknufft und gestemmt hatten, war der südliche Teil des Kontinents der Länge nach durch den majestätischsten Gebirgszug südlich der Rocky Mountains geteilt. Es waren die Anden, die mit ihrer Jahrmillionen wäh-renden Ankunft jene türmende Barriere schufen, die heute Patagoniens Landschaf¬ten prägt. Der Westwind treibt die Wolken vom Pazifik an die Küste Chiles, die reichen Niederschläge machen das Land grün und fruchtbar, und Patagonien sieht hier manchmal aus wie die Schweiz oder der Schwarzwald. Weiter östlich dann fangen die Berge ab, was noch an Niederschlag in der Luft ist, Patagoniens Inlandeis mit seinenGletschern bedeckt fast 18 000 Quadratkilo-meter, fünfmal so viel wie alle Alpengletscher zusammen genommen. Auf der anderen Seite des steinernen Anden-Rückgrats aber, in den Steppen Argentiniens, ist der letzte Tropfen Niederschlag längst aus der Luft. Hier, im Osten, kommt nichts an außer dem Wind.

WIND, WOLKEN, WEITE

Manchmal kann man zusehen, wie eine Böe übers Land zieht, wie sich zuerst die Sträucher unmittelbar vor einem biegen, dann die etwas weiter hinten, dann die da¬hinter, und immer weiter, bis zum Hori¬zont. Der ist übrigens oft die einzige Linie, an der das Auge Halt findet. Patagonien ist ein grenzenloses Land. Ein Land der raum¬greifenden Weite, der endlosen Pisten und lang gezogenen Staubfahnen. Und eines, in dem das Kleine, Unscheinbare plötzlich deshalb so wichtig wird, weil alles andere so unendlich groß ist: Das im Wind kauernde Steinhaus, mit dem irgendwer irgendwann den Naturgewalten trotzen wollte. Die blühenden Blumen, plötzlich, wo sonst nur Flechten und Moos wachsen. Das Pferd, das neben einem einzelnen Baum steht, und dahinter ist nichts als Grasland und davor und daneben auch nicht. Oft ist Patagonien eine einzige majestätische Leere. Eine, die so dominant ist, dass man den Städten anmerkt, wie wenig sie hier draußen eigentlich verloren haben.

Trotzdem gibt es sie natürlich, und Punta Arenas hat es immerhin auf rund 100 000 Einwohner gebracht. Die größte Stadt Patagoniens erstreckt sich über ein riesiges Areal, weil sich kaum jemand traut, auf sein flaches Holzhäuschen einen zwei¬ten Stock zu setzen: Was in diesem Teil der Welt vorwitzig nach oben lugt, bekommt's ab. Es heißt ja immer, in Patagonien könne man alle Jahreszeiten an einem einzigen Tag erleben. Das stimmt so nicht ganz. Patagoniens Wetter gebärdet sich vielmehr, als hätten sich die vier Jahreszeiten auf einer Party getroffen, wären furchtbar versackt und tags drauf immer noch ziemlich durch¬einander. Nehmen wir beispielsweise einen ganz normalen Januartag, der hier ja ein ganz normaler Hochsommertag ist, und nehmen wir eine ganz normale Morgen¬stunde an diesem Tag in der Pinguinera bei Punta Arenas (einem beliebten Ausflugs¬ziel, an dem mehrere tausend kleine Toll¬patsche herumwatscheln): Zuerst hagelt, Perfekt geformt: Der Osorno gehört zu jenen Vulkanen, die ein Maler nicht gleichförmiger auf die Leinwand hätte pinseln können. Wegen seiner Ähnlichkeit mit einem Verwandten in Japan wird er auch gerne „Patagoniens Fuji" genannt.

schneit und schüttet es in schneller Folge, zwischendrin knallt die Sonne derart, dass es den ersten Sonnenbrand gibt. Dann beginnt es gleichzeitig zu stürmen und zu regnen, mit Tropfen, die sich allmählich in kleine Eismesserchen verwandeln. Und weil es gerade so gut passt, spannt sich auf dem Meer jetzt ein Regenbogen vor violet¬tes Gewölk. Wenn es nicht so kalt wäre —man würde sich glatt zu den Pinguinen setzen, einen Pisco mit ihnen trinken und zusammen in den Himmel schauen. Und

natürlich hat man sich nicht exakt diese

Szene vorgestellt, bei seinen jahrelangen

„Patagonien? Hinwollen!"-Träumereien.

Aber so ähnliche schon.

GROSSE MOMENTE

Überhaupt erlebt man auf einer Reise durch dieses Land genügend Momente, die man nicht wieder vergessen wird. Das Mittagessen an einer kleinen Restaurant¬bude im Hafen von Puerto Montt zum Bei¬spiel, wo der Fisch wunderbar schmeckte und der kühle Weißwein dazu ebenso gut. Der Nachmittag in Frutillar, im Gras am Seeufer, mit Blick auf den schneebedeckten Osorno gegenüber, der so tat, als bewerbe er sich für den nächsten Schneekoppe-Spot. Die Tage in Pucön, einer Outdoorstadt der Adrenalinschübe, Cafs und Kneipen. Und der heißen Quellen, die überall aus dem vulkanischen Boden sprudeln und trotz ihres heißen Wassers wunderbare Chili-out-Zonen abgeben. Oder jene Minuten beim Trekking im Nationalpark Torres del Paine. Das Zelt steht, es ist halb zehn und noch hell, und das Hinweisschild sagt: „Mirador: 20 Minuten". Nach ein paar hundert Metern scheint die Erde zu beben —ein langes Grummeln, das allmählich verhallt. Dann liegt plötzlich eine Bucht unterhalb des Pfades, eine tränenförmige Lagune, in der kleine Eisberge schwim¬men. Und hintendran thront das Eisfeld des Glaciar Grey, von dem gerade ein wei¬terer lastwagengroßer Brocken wegbricht und ins Wasser donnert. Ähnlich wie flie¬ßende Lava ist ein kalbender Gletscher ein Anblick, den man anschließend ein Leben lang mit sich trägt. Er berührt etwas in einem. Man wird ganz still. Man setzt sich hin. Man horcht. Auf das nächste Grollen. In sich hinein.

Der Torres-del-Paine-Nationalpark ist übrigens so etwas wie ein Prisma, das den Zauber Patagoniens bündelt. Wind, Wolken, Weite — alles da. Weil der Trail nie durch den Wald, sondern immer nur durchs Freie führt, vorbei an gleißenden Glet¬schern, mintfarbenen Seen und zackigen Gebirgstürmen, kann Trekking hier ganz schnell zu einem visuellen Rausch werden. Die Schatten der Wolken werfen Scheren¬schnitte auf die Seen, und ab und zu verdunkelt sich der Himmel für Sekun¬denbruchteile. Noch so ein patagonischer „momentito": Wer jemals einen Kondor über sich streichen verspürt hat, gibt der Inka-Combo in der Fußgängerzone dem¬nächst zwei Euro, wenn sie „El Condor Pasa" anstimmt.

Und wie reist man, wenn man nicht ge¬rade zu Fuß unterwegs ist? Mit dem Flug¬zeug, wenn die Distanzen zu groß für alles andere sind. Mit dem Schiff, auf einer spek¬takulären Strecke zwischen Puerto Natales und Puerto Montt, angenehm ruhig, bis auf den Abschnitt, wo die Passage für etli¬che Kilometer über das offene Meer führt, und das ist in diesem Teil der Welt in der Regel alles andere als wohlwollend. Und natürlich mit dem Bus. Busse sind die Hauptverkehrsmittel in diesem Teil der Welt, in dem das Land sich auszustrecken scheint, als wolle es jeden Quadratkilome¬ter Planeten füllen. Busse bringen einen überall hin, über Berge, über Staatsgrenzen, und huckepack auf der Fähre auch über Meeresarme, meistens aber über staubende Pisten, die in Westeuropa ausschließlich für landwirtschaftliche Nutzfahrzeuge freigegeben würden. Als Passagier schaut man dann entweder dreizehn Stunden spani¬sche Videos in den über den Fahrersitzen aufgehängten Fernsehern oder aus dem Fenster: da kommt nichts. Stundenlang. Die Landschaft zieht an den Busfenstern vorbei wie ein Experimentalfilm mit Endlos-Kamerafahrten. Man sieht keine Tiere, man sieht keine Pflanzen, und Men-schen sieht man erst recht nicht. Stunde um Stunde vergeht, ohne dass man etwas davon mitbekommt. Man kann noch nicht einmal sagen, an was man gedacht hat. Die Leere scheint einen auf- und auszusaugen. Wenn man am Ende des Kontinents an¬kommt, klettert man aus dem Bus, als kehrte man aus einem Paralleluniversum zurück.

DES TEUFELS

WASCHKÜCHE

Ushuaia klammert sich an den Rand der Welt, als habe es Angst, hinunterzufallen. An sonnigen Tagen liegt die Stadt mit ihren steilen Straßen wie ein feuerländisches San Francisco zwischen den Schneegipfeln von Cerro Martial und Monte Olivia und dem Beagle Channel, an schlechten Tagen hat sie einen direkten Zugang zu Teufels Waschküche. Dann brodelt das Meer und leckt an den Pieren im Hafenbecken, und die Wolken kommen aus den Bergen hinab in die Stadt. Es ist noch nicht allzu lange her, da war Ushuaia ein vergessenes Kaff am Zipfel der Welt. Als aber das Geschäft mit den Antarktisfahrten zu boomen begann, war es plötzlich vorbei mit Ruhe und Ab-geschiedenheit: Innerhalb von weniger als 20 Jahren hat sich die Einwohnerzahl auf 50 000 verfünffacht, und die der Touristen ist sogar um mehr als 400 Prozent gestiegen.

Kleine Zwischenbemerkung: Man be-kommt sehr schnell Kontakt in Patagonien, wo es ein lukrativer Nebenerwerb ist, mü¬den Touristen Zimmer anzubieten. Leider aber nimmt man keinerlei akustische Rück¬sicht auf die Gäste — man schreit, bohrt, zimmert oder debattiert einfach weiter herum, als ob sonst niemand im Haus wäre. Und wenn einem ein Geräusch in Erinnerung bleiben wird, dann ist es das Quietschen der Türen. Es gibt in ganz Patagonien keine Tür, die geölt ist. Keine einzige. Nicht die Zimmertür im Hostel, nicht die Tür zum Bad, nicht die des Tou-ristenbüros. Wie um alles in der Welt hält man das aus, wenn 3857 Mal am Tag dieTür schreiend quietscht? Offensichtlich stört das hier niemanden. Auch nicht, wenn zum Quietschen noch das Zuschla-gen kommt. Womit wir dann wieder beim Wind wären.

Der bauschte lange Jahrhunderte auch die Leinensegel der Seefahrer in dieser Wel-tenecke, und wenn sich in die Geschichte der großen Fahrten und Entdeckungen kein Fehler eingeschlichen hat, dann waren es die Segel von Generalkapitän Ferdinand Magellan, die hier als erste Bekanntschaft mit dem fauchenden Wind machten. Ma¬gellan war 1519 von Spanien aus aufgebro¬chen, um einen westlichen Seeweg zu den Gewürzinseln im Indischen Ozean zu fin¬den. Auf seinen Seekarten war das, was heute Patagonien ist, bereits verzeichnet, allerdings unter der lateinischen Bezeich¬nung „res nullius" — „etwas, das nieman¬dem gehört". Bevor Magellan damals den südamerikanischen Kontinent umrunden und man die Passage nach ihm benennen konnte, musste die Flotte in San Julian überwintern, und möglicherweise erhielt Patagonien dort und damals seinen Namen. „Eines Tages erblickten wir zu unserem Erstaunen an der Küste einen Mann von Riesengröße", notierte Magellans Bord¬schreiber damals beeindruckt bei der ersten Begegnung mit den Bewohnern des Landes, wahrscheinlich Vertretern der Chonque oder Tehuelche. „Ein zweiter Riese war noch größer und schöner gewachsen, tanzte und sprang mit solcher Heftigkeit, dass seine Füße mehrere Zoll tiefe Eindrücke im Sand hinterließen. Unser Kapitän gab diesem Volk wegen seiner großen Füße den Namen Patagonier." („pata" bedeutet im Spanischen Fuß, „patagon" soviel wie großfüßig).

LAND DER WAGEMUTIGEN

Nach Magellan kamen dann erst einmal die üblichen Verdächtigen: Sir Francis Drake auf der Suche nach einem Weg zu den spanischen Kolonien im Pazifik, Wal¬fänger auf der Suche nach Tran, Missionare auf der Suche nach Seelen. Die jungen Staaten Chile (unabhängig seit 1818) und Argentinien (1816) hatten später dann erst einmal andere Probleme, als dass sie sich um den wilden Süden kümmern konnten. Und so wurde die Besiedlung des gewalti¬gen Landes mehr oder weniger zur Privat¬angelegenheit: Goldsucher, Flüchtlinge, verarmte Bauern, Handwerker, Wissenschaftler, Geologen und Butch Cassidy and the Sundance Kid drangen in die Weiten Patagoniens vor, viele gingen wieder, we¬nige blieben. Von einer Besiedlung konnte lange Zeit nicht ernsthaft die Rede sein, und daran hat sich nicht wirklich viel ge¬ändert. Noch heute leben lediglich statis¬tische 2,2 Einwohner pro patagonischem Quadratkilometer; in der Provinz Santa Cruz auf der argentinischen Seite sind es sogar nur 0,7.

Es waren zuerst die Schafe und später Öl und Gas, die Patagonien auf die politische Landkarte bugsierten. Und anschließend dann Schriftsteller wie Bruce Chatwin und Paul Theroux, die dem Land seinen Platz auf der Landkarte der Sehnsüchte beschaff¬ten, zwei Träumer, zwei Fliehende, zwei Idealisten obendrein. In ihre Fußstapfen sind in den vergangenen Jahren Multimil¬lionäre wie der Amerikaner Douglas Tomp-kins getreten. Dem gehörten früher die Ausrüsterfirma „The North Face" und der Modekonzern „Esprit". Weil er sah, dass die chilenischen Umweltgesetze nicht ausreich¬ten, um die landschaftliche Schönheit Patagoniens zu schützen, legte er seine Millionen kurzerhand in Natur an. Mittler¬weile ist Tompkins Besitz Pumalin mit sei¬nen 300 000 Hektar Regenwald das größte private Naturschutzgebiet des Planeten. Außerdem verwalten seine Stiftungen wei¬tere 825 000 Hektar Naturschutzgebiet —eine Fläche dreimal so groß wie das Saar¬land.

Man sieht: Platz zum Träumen bietet Patagonien noch immer, und Träume kön¬nen am Ende der Welt noch immer Reali¬tät werden: Man muss sie bloß träumen. Und Patagonien muss man bloß finden, was eigentlich sehr einfach ist, durch vage geographische Begrifflichkeiten und un¬klare oder überhaupt nicht vorhandene Grenzziehungen aber dann doch gehörig erschwert wird. Jeder in Südamerika ver¬steht nämlich etwas anderes unter Patago-nien. Für die einen gehört alles dazu, was südlich von Buenos Aires liegt, beziehungs¬weise von Santiago de Chile. Andere Reise¬führer lassen es erst tausend Kilometer weiter südlich beginnen; manche zählen die Tierra del Fuego dazu, andere wieder nicht. Eine Rolle spielt das eigentlich nicht: Wenn man die Menschen in Patagonien fragt, wo Patagonien liegt, dann sagen sie: Patagonien ist da, wo ich lebe. Dabei sollte man es dann belassen.

„Wenn ich mir Bilder aus der Vergangen¬heit zurückrufe", schrieb Charles Darwin 1836 in seinen Aufzeichnungen „Die Fahrt mit der Beagle", "sind es häufig die Ebenen Patagoniens, die mir vor Augen treten.... Sie lassen sich nur negativ beschreiben: ohne Ansiedlungen, ohne Wasser, ohne Bäume, ohne Berge bieten sie nur einigen wenigen zwergwüchsigen Pflanzen einen Lebensgrund. Warum, und ich bin da kei¬neswegs ein Einzelfall, haben diese ariden Wüsten sich dann derart hartnäckig in meiner Erinnerung festgesetzt? ... Ich kann diese Gefühle nicht recht analysieren: doch es muss zum Teil von der Freiheit kommen, die sich der Phantasie hier bietet."

Reisen Sie mit, und lassen Sie Ihrer Phantasie freien Lauf.

as chilenische Patagonien ist eine dünne Angelegenheit: An seiner weitesten Stelle, bei Temuco ganz oben im Norden, ist es 250 Kilometer breit, südlich von Puerto Montt aber sind es nur noch 30 Kilometer. Bei Puerto Natales im Süden besteht Patagonien beinahe nur noch aus Inseln und Inselchen.

Um ein wenig Ordnung in dieses lange, dünne Land zu bekommen, haben die Chilenen es in Regionen unterteilt, IX, X, XI und XII, von Norden nach Süden, das vereinfacht die Standortbestimmung. Und dient gleichzeitig als Gradmesser der Besiedlung: Region IX ganz im Norden ist das Land der Seen und Vulkane, in dem Chiles Tourismusindustrie ein internationales Publikum versorgt — und wo es mit Valdivia eine der schönsten Städte der Region gibt. Je weiter man sich von hier in einer geraden Linie nach Süden bewegt, umso rauer wird das Land, umso erhabener die Natur. Und umso seltener seine Men¬schen. In Region XII — auch Magallanes ge¬nannt — gibt es dann beinahe mehr Eisberge und Gletscher als Einwohner.

Der chilenische Teil Patagoniens ist sein vielseitigster: Er verwöhnt Luxussuchende ebenso wie Abenteuerhungrige, man kann seine Vulkane besteigen oder durch das Labyrinth seiner Fjorde und Inselchen schippern. Und er ist ein Land zwischen den Zeiten: Auf der legendenumrankten, oft nebligen Isla Grande de Chilod mit ihren verwunschenen alten Häusern kann man sich vorkommen, als sei man soeben aus den Zeitläuften herausgefallen. Und wenige Stunden später in der klimatisierten Kabine eines Kreuzfahrtschiffes muss man sich dann entscheiden, welchen Film man abends im Bordkanal anschaut.

ier draußen ist: Nichts. Nichts außer Gras, nichts außer Wind. Die große, weite Mitte des argentinischen Teils von Patago-nien besteht aus Steppe, „meseta", die sich von links nach rechts und von hinten nach vorne jeweils bis zum Horizont erstreckt. Patagonien nimmt mit über 750 000 Quadrat¬kilometern etwa ein Drittel der argentini¬schen Staatsfläche ein. Es ist die Heimat von weniger als einer Million Menschen. Und 5,5 Millionen Schafen.

Ein wenig sieht es hier so aus, wie man sich den Wilden Westen vorstellt, und ein wenig so ist es hier draußen auch lange Zeit gewesen. Auch Patagonien war ein Ende der Welt, die letzte Grenze, ein Land der Wagemutigen, die ihr Glück versuchen oder suchen woll¬ten: Farmer und Schafzüchter, Glücksritter und Goldsucher. Und Outlaws, natürlich, Buenos Aires ist fern, und der Arm des Gesetzes war nie lang genug, um bis hierhin zu reichen.

Dies ist das Patagonien, das in unseren Köpfen herumspukt, wenn wir an Chatwin denken oder an die Pioniere, ein Land der grenzenlosen Horizonte und visuellen Mono-tonie. Eines, das den Besucher still werden lässt. Dessen tiefe Ruhe man nicht stören möchte mit nichtssagendem Geplapper. Manchmal lässt Patagonien einen völlig ver¬stummen, weil jedes Wort ein Wort zuviel wäre. Manchmal macht Patagonien sprachlos.

Und jenseits der Steppe? Berge. Berge? Ein Wunderland der Berge! Eine landschaft-gewordene Postkarte voller majestätischer Vulkane, kalbender Gletscher und stiller Seen und dunkler Wälder, ein Freizeit- und Outdoor-Paradies für Wanderer, Rafter, Ka¬nuten und Kletterer. Ein anderes Patagonien. Ein ganz anderes.

anz weit im Süden, kurz bevor da nichts mehr ist als kaltes, sehr kaltes Wasser, zerfasert der gewaltige südamerikanische Kontinent in eine Reihe Inseln — als habe sich die Schöpfung nicht dazu durchringen können, einem ihrer Meisterstücke ein ab¬ruptes Ende zu bereiten. Dies ist die Kante der Welt, die Tierra del Fuego, Feuerland. Und Feuerland ist Feuerland, weil Ferdinand Magellan auf seiner Weltumrundung vom Schiff aus lodernde Lagerfeuer der Einwoh¬ner sah, helle, aber auch unheimliche Tupfer in der Schwärze der Nacht. Manchmal kann Geschichte dann doch sehr logisch sein.

Deswegen hieß die Magellanstraße, die Feuerland vom Rest Patagoniens abschneidet, auch lange Zeit nicht so, sondern Estreito de Todos los Santos, Allerheiligenstraße, benannt vom großen Seefahrer nicht nach sich selbst, sondern dem Tag ihrer Entde¬ckung, auf den er lange gewartet hatte. Auch heute kommt man nicht zufällig nach Feuer¬land — wer ans Ende der Welt möchte, muss weit fliegen oder sehr lange fahren. Belohnt wird er mit einem einzigartigen Stück Welt.

Feuerland ist viel abwechslungsreicher, als es oft dargestellt wird. Natürlich pfeift es hier kalt und kräftig, und natürlich sind die Landschaften karg und die Gletscher gewal¬tig. Aber Feuerland kann auch wie Irland aussehen, mit sattgrünen Wiesen und rollen¬den Hügeln, und mit Punta Arenas und Ushuaia gibt es zwei lebhafte, in der Saison sogar quirlige Städte. Bloß Feuer brennen keine mehr. Aber wenn die Feuerbüsche blühen, sieht die Tierra del Fuego manchmal wirklich aus wie — Feuerland.











































































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