Patagonien Patagonia – Eine Reise durch Patagonien
Ein Reisebericht von D.Selzer-McKenzie
Video: http://youtu.be/nxPkn5zTxOQ
H ist der Wind zuhause. Stürmt von den Eisfeldern der
Antarktis heran, türmt die Wellen im Beagle Channel, und wenn er erst einmal
die quer liegen¬den Andenausläufer hinter sich hat, ist da nichts mehr, was ihn
aufhalten könnte. Dann jagt er zwischen den Bergen hin¬durch in die Ebenen
hinab, treibt ausge¬rissenes Buschwerk vor sich her, kämmt das Pampagras,
rüttelt an den Bäumen, fährt den grasenden Guanacos in die Wolle. Schließlich
jagt er hinauf in die Wolken, dort, wo die Hörnergipfel des Torres del Paine
bis gerade eben hinter einer dicken Wand aus Watte verborgen waren. In der
sucht sich der Wind eine Lücke, findet sie, drängt sich hinein, treibt in fünf
Minuten die komplette Wolkenwand auseinander. Und gibt den Blick frei auf eines
der gro߬artigsten Bergpanoramen der südlichen Erd¬hälfte. Es würde einen nicht
wundern, wenn jetzt von irgendwoher eine dieser hymni¬schen Fanfaren erklingen
würde, die solche Bilder im Kino immer untermalen.
Patagonien: Das ist eines dieser Länder, in denen man die
Macht der Natur noch spürt. In denen Wettervorhersagen noch wirklich wichtig
sind und die Frage, ob man morgens im Hotel die Regenjacke an¬gezogen hat. In
denen man als Reisender am Horizont nach möglichen Änderungen Ausschau hält,
erst nur gelegentlich, bald schon ganz selbstverständlich, als habe man nie
etwas anderes getan. Und in denen alles von so unglaublichen Dimensionen ist,
dass man abends regelmäßig verwundert auf die Landkarte
schaut: was, den ganzen
Tag unterwegs und nur einen Fingerbreit
weiter gekommen? Vier Stunden noch, und dann sind wir erst
ein Achtel der Strecke
gefahren? Was stand da eben auf dem Hinweisschild — Ushuaia
1433 Kilometer? Patagonien ist ein Land, in dem man sich als Mensch ganz, ganz
klein vorkommt.
Ein Land? Ja. Aber zwei Staaten. Patago-nien hat die
doppelte Staatsbürgerschaft, es erstreckt sich von den Grenzflüssen Rio Bio Bio
(Chile) und Rio Colorado (Argen¬tinien) bis hinunter an das ausgefaserte Ende
des Kontinents, ein Drittel chilenisch, zwei Drittel argentinisch, und
mittendrin die Anden, die säuberlich gestaffelt Gipfel an Gipfel Richtung
Horizont marschieren. Über 900 000 Quadratkilometer ist Patago-nien groß und
deshalb auch ein Land der landschaftlichen Unterschiede: Im Süden die harsche
Tierra del Fuego, Feuerland, abgetrennt vom Festland durch die Magel-lanstraße.
Darüber — ganz grob unterteilt —das Gebiet der Gletscher, dann das der großen
Schafsfarmen, dann, ziemlich im Norden schon, der Lake District, das Reich der
Vulkane, fast alle perfekt konisch ge¬formt, wie 1:1-Kopien des Fujiamas, ein
Paradies für Bergsteiger und Trekker und Mountainbiker. Wenn man aber nicht
ge¬rade in diesen gebirgigen Regionen unter¬wegs ist, dann ist Patagonien vor
allem ein Land der Weite. „Die Ebenen Patagoniens sind grenzenlos", hat
Charles Darwin 1836 geschrieben, „ihnen haftet der Anschein an, schon seit
ewigen Zeiten so zu sein". Vielleicht ist es ja auch das, was wir heute
spüren, wenn wir dorthin reisen. Nach Patagonien, ans schönste Ende der Welt.
MAJESTÄTISCHE
GEBIRGSZÜGE
Vor 140 Millionen Jahren sah es hier noch komplett anders
aus. Damals war das Land flächendeckend von einem gewalti¬gen gemäßigten
Regenwald bedeckt. Dann kamen die Anden, ihre Vulkane brachen aus der
Erdoberfläche hervor, ihre Asche begrub die Wälder, und als sie sich endlich
gegenseitig in die Höhe geknufft und gestemmt hatten, war der südliche Teil des
Kontinents der Länge nach durch den majestätischsten Gebirgszug südlich der
Rocky Mountains geteilt. Es waren die Anden, die mit ihrer Jahrmillionen
wäh-renden Ankunft jene türmende Barriere schufen, die heute Patagoniens
Landschaf¬ten prägt. Der Westwind treibt die Wolken vom Pazifik an die Küste
Chiles, die reichen Niederschläge machen das Land grün und fruchtbar, und
Patagonien sieht hier manchmal aus wie die Schweiz oder der Schwarzwald. Weiter
östlich dann fangen die Berge ab, was noch an Niederschlag in der Luft ist,
Patagoniens Inlandeis mit seinenGletschern bedeckt fast 18 000
Quadratkilo-meter, fünfmal so viel wie alle Alpengletscher zusammen genommen.
Auf der anderen Seite des steinernen Anden-Rückgrats aber, in den Steppen
Argentiniens, ist der letzte Tropfen Niederschlag längst aus der Luft. Hier, im
Osten, kommt nichts an außer dem Wind.
WIND, WOLKEN, WEITE
Manchmal kann man zusehen, wie eine Böe übers Land zieht,
wie sich zuerst die Sträucher unmittelbar vor einem biegen, dann die etwas
weiter hinten, dann die da¬hinter, und immer weiter, bis zum Hori¬zont. Der ist
übrigens oft die einzige Linie, an der das Auge Halt findet. Patagonien ist ein
grenzenloses Land. Ein Land der raum¬greifenden Weite, der endlosen Pisten und
lang gezogenen Staubfahnen. Und eines, in dem das Kleine, Unscheinbare plötzlich
deshalb so wichtig wird, weil alles andere so unendlich groß ist: Das im Wind
kauernde Steinhaus, mit dem irgendwer irgendwann den Naturgewalten trotzen
wollte. Die blühenden Blumen, plötzlich, wo sonst nur Flechten und Moos
wachsen. Das Pferd, das neben einem einzelnen Baum steht, und dahinter ist
nichts als Grasland und davor und daneben auch nicht. Oft ist Patagonien eine
einzige majestätische Leere. Eine, die so dominant ist, dass man den Städten
anmerkt, wie wenig sie hier draußen eigentlich verloren haben.
Trotzdem gibt es sie natürlich, und Punta Arenas hat es
immerhin auf rund 100 000 Einwohner gebracht. Die größte Stadt Patagoniens
erstreckt sich über ein riesiges Areal, weil sich kaum jemand traut, auf sein
flaches Holzhäuschen einen zwei¬ten Stock zu setzen: Was in diesem Teil der
Welt vorwitzig nach oben lugt, bekommt's ab. Es heißt ja immer, in Patagonien
könne man alle Jahreszeiten an einem einzigen Tag erleben. Das stimmt so nicht
ganz. Patagoniens Wetter gebärdet sich vielmehr, als hätten sich die vier
Jahreszeiten auf einer Party getroffen, wären furchtbar versackt und tags drauf
immer noch ziemlich durch¬einander. Nehmen wir beispielsweise einen ganz
normalen Januartag, der hier ja ein ganz normaler Hochsommertag ist, und nehmen
wir eine ganz normale Morgen¬stunde an diesem Tag in der Pinguinera bei Punta
Arenas (einem beliebten Ausflugs¬ziel, an dem mehrere tausend kleine
Toll¬patsche herumwatscheln): Zuerst hagelt, Perfekt geformt: Der Osorno gehört
zu jenen Vulkanen, die ein Maler nicht gleichförmiger auf die Leinwand hätte
pinseln können. Wegen seiner Ähnlichkeit mit einem Verwandten in Japan wird er
auch gerne „Patagoniens Fuji" genannt.
schneit und schüttet es in schneller Folge, zwischendrin
knallt die Sonne derart, dass es den ersten Sonnenbrand gibt. Dann beginnt es
gleichzeitig zu stürmen und zu regnen, mit Tropfen, die sich allmählich in
kleine Eismesserchen verwandeln. Und weil es gerade so gut passt, spannt sich
auf dem Meer jetzt ein Regenbogen vor violet¬tes Gewölk. Wenn es nicht so kalt
wäre —man würde sich glatt zu den Pinguinen setzen, einen Pisco mit ihnen
trinken und zusammen in den Himmel schauen. Und
natürlich hat man sich nicht exakt diese
Szene vorgestellt, bei seinen jahrelangen
„Patagonien? Hinwollen!"-Träumereien.
Aber so ähnliche schon.
GROSSE MOMENTE
Überhaupt erlebt man auf einer Reise durch dieses Land
genügend Momente, die man nicht wieder vergessen wird. Das Mittagessen an einer
kleinen Restaurant¬bude im Hafen von Puerto Montt zum Bei¬spiel, wo der Fisch
wunderbar schmeckte und der kühle Weißwein dazu ebenso gut. Der Nachmittag in
Frutillar, im Gras am Seeufer, mit Blick auf den schneebedeckten Osorno
gegenüber, der so tat, als bewerbe er sich für den nächsten Schneekoppe-Spot.
Die Tage in Pucön, einer Outdoorstadt der Adrenalinschübe, Cafs und Kneipen.
Und der heißen Quellen, die überall aus dem vulkanischen Boden sprudeln und
trotz ihres heißen Wassers wunderbare Chili-out-Zonen abgeben. Oder jene
Minuten beim Trekking im Nationalpark Torres del Paine. Das Zelt steht, es ist
halb zehn und noch hell, und das Hinweisschild sagt: „Mirador: 20
Minuten". Nach ein paar hundert Metern scheint die Erde zu beben —ein
langes Grummeln, das allmählich verhallt. Dann liegt plötzlich eine Bucht
unterhalb des Pfades, eine tränenförmige Lagune, in der kleine Eisberge
schwim¬men. Und hintendran thront das Eisfeld des Glaciar Grey, von dem gerade
ein wei¬terer lastwagengroßer Brocken wegbricht und ins Wasser donnert. Ähnlich
wie flie§ende Lava ist ein kalbender Gletscher ein Anblick, den man
anschließend ein Leben lang mit sich trägt. Er berührt etwas in einem. Man wird
ganz still. Man setzt sich hin. Man horcht. Auf das nächste Grollen. In sich
hinein.
Der Torres-del-Paine-Nationalpark ist übrigens so etwas wie
ein Prisma, das den Zauber Patagoniens bündelt. Wind, Wolken, Weite — alles da.
Weil der Trail nie durch den Wald, sondern immer nur durchs Freie führt, vorbei
an gleißenden Glet¬schern, mintfarbenen Seen und zackigen Gebirgstürmen, kann
Trekking hier ganz schnell zu einem visuellen Rausch werden. Die Schatten der
Wolken werfen Scheren¬schnitte auf die Seen, und ab und zu verdunkelt sich der
Himmel für Sekun¬denbruchteile. Noch so ein patagonischer „momentito": Wer
jemals einen Kondor über sich streichen verspürt hat, gibt der Inka-Combo in
der Fußgängerzone dem¬nächst zwei Euro, wenn sie „El Condor Pasa"
anstimmt.
Und wie reist man, wenn man nicht ge¬rade zu Fuß unterwegs
ist? Mit dem Flug¬zeug, wenn die Distanzen zu groß für alles andere sind. Mit
dem Schiff, auf einer spek¬takulären Strecke zwischen Puerto Natales und Puerto
Montt, angenehm ruhig, bis auf den Abschnitt, wo die Passage für etli¬che
Kilometer über das offene Meer führt, und das ist in diesem Teil der Welt in
der Regel alles andere als wohlwollend. Und natürlich mit dem Bus. Busse sind
die Hauptverkehrsmittel in diesem Teil der Welt, in dem das Land sich
auszustrecken scheint, als wolle es jeden Quadratkilome¬ter Planeten füllen.
Busse bringen einen überall hin, über Berge, über Staatsgrenzen, und huckepack
auf der Fähre auch über Meeresarme, meistens aber über staubende Pisten, die in
Westeuropa ausschließlich für landwirtschaftliche Nutzfahrzeuge freigegeben
würden. Als Passagier schaut man dann entweder dreizehn Stunden spani¬sche
Videos in den über den Fahrersitzen aufgehängten Fernsehern oder aus dem
Fenster: da kommt nichts. Stundenlang. Die Landschaft zieht an den Busfenstern
vorbei wie ein Experimentalfilm mit Endlos-Kamerafahrten. Man sieht keine
Tiere, man sieht keine Pflanzen, und Men-schen sieht man erst recht nicht.
Stunde um Stunde vergeht, ohne dass man etwas davon mitbekommt. Man kann noch
nicht einmal sagen, an was man gedacht hat. Die Leere scheint einen auf- und
auszusaugen. Wenn man am Ende des Kontinents an¬kommt, klettert man aus dem
Bus, als kehrte man aus einem Paralleluniversum zurück.
DES TEUFELS
WASCHKÜCHE
Ushuaia klammert sich an den Rand der Welt, als habe es
Angst, hinunterzufallen. An sonnigen Tagen liegt die Stadt mit ihren steilen
Straßen wie ein feuerländisches San Francisco zwischen den Schneegipfeln von
Cerro Martial und Monte Olivia und dem Beagle Channel, an schlechten Tagen hat
sie einen direkten Zugang zu Teufels Waschküche. Dann brodelt das Meer und
leckt an den Pieren im Hafenbecken, und die Wolken kommen aus den Bergen hinab in
die Stadt. Es ist noch nicht allzu lange her, da war Ushuaia ein vergessenes
Kaff am Zipfel der Welt. Als aber das Geschäft mit den Antarktisfahrten zu
boomen begann, war es plötzlich vorbei mit Ruhe und Ab-geschiedenheit:
Innerhalb von weniger als 20 Jahren hat sich die Einwohnerzahl auf 50 000
verfünffacht, und die der Touristen ist sogar um mehr als 400 Prozent
gestiegen.
Kleine Zwischenbemerkung: Man be-kommt sehr schnell Kontakt
in Patagonien, wo es ein lukrativer Nebenerwerb ist, mü¬den Touristen Zimmer
anzubieten. Leider aber nimmt man keinerlei akustische Rück¬sicht auf die Gäste
— man schreit, bohrt, zimmert oder debattiert einfach weiter herum, als ob
sonst niemand im Haus wäre. Und wenn einem ein Geräusch in Erinnerung bleiben
wird, dann ist es das Quietschen der Türen. Es gibt in ganz Patagonien keine
Tür, die geölt ist. Keine einzige. Nicht die Zimmertür im Hostel, nicht die Tür
zum Bad, nicht die des Tou-ristenbüros. Wie um alles in der Welt hält man das
aus, wenn 3857 Mal am Tag dieTür schreiend quietscht? Offensichtlich stört das
hier niemanden. Auch nicht, wenn zum Quietschen noch das Zuschla-gen kommt.
Womit wir dann wieder beim Wind wären.
Der bauschte lange Jahrhunderte auch die Leinensegel der
Seefahrer in dieser Wel-tenecke, und wenn sich in die Geschichte der großen
Fahrten und Entdeckungen kein Fehler eingeschlichen hat, dann waren es die
Segel von Generalkapitän Ferdinand Magellan, die hier als erste Bekanntschaft
mit dem fauchenden Wind machten. Ma¬gellan war 1519 von Spanien aus
aufgebro¬chen, um einen westlichen Seeweg zu den Gewürzinseln im Indischen
Ozean zu fin¬den. Auf seinen Seekarten war das, was heute Patagonien ist,
bereits verzeichnet, allerdings unter der lateinischen Bezeich¬nung „res
nullius" — „etwas, das nieman¬dem gehört". Bevor Magellan damals den
südamerikanischen Kontinent umrunden und man die Passage nach ihm benennen
konnte, musste die Flotte in San Julian überwintern, und möglicherweise erhielt
Patagonien dort und damals seinen Namen. „Eines Tages erblickten wir zu unserem
Erstaunen an der Küste einen Mann von Riesengröße", notierte Magellans
Bord¬schreiber damals beeindruckt bei der ersten Begegnung mit den Bewohnern
des Landes, wahrscheinlich Vertretern der Chonque oder Tehuelche. „Ein zweiter
Riese war noch größer und schöner gewachsen, tanzte und sprang mit solcher
Heftigkeit, dass seine Füße mehrere Zoll tiefe Eindrücke im Sand hinterließen.
Unser Kapitän gab diesem Volk wegen seiner großen Füße den Namen
Patagonier." („pata" bedeutet im Spanischen Fuß, „patagon"
soviel wie großfüßig).
LAND DER WAGEMUTIGEN
Nach Magellan kamen dann erst einmal die üblichen
Verdächtigen: Sir Francis Drake auf der Suche nach einem Weg zu den spanischen
Kolonien im Pazifik, Wal¬fänger auf der Suche nach Tran, Missionare auf der
Suche nach Seelen. Die jungen Staaten Chile (unabhängig seit 1818) und
Argentinien (1816) hatten später dann erst einmal andere Probleme, als dass sie
sich um den wilden Süden kümmern konnten. Und so wurde die Besiedlung des
gewalti¬gen Landes mehr oder weniger zur Privat¬angelegenheit: Goldsucher,
Flüchtlinge, verarmte Bauern, Handwerker, Wissenschaftler, Geologen und Butch
Cassidy and the Sundance Kid drangen in die Weiten Patagoniens vor, viele
gingen wieder, we¬nige blieben. Von einer Besiedlung konnte lange Zeit nicht
ernsthaft die Rede sein, und daran hat sich nicht wirklich viel geŠndert. Noch
heute leben lediglich statis¬tische 2,2 Einwohner pro patagonischem
Quadratkilometer; in der Provinz Santa Cruz auf der argentinischen Seite sind es
sogar nur 0,7.
Es waren zuerst die Schafe und später Öl und Gas, die
Patagonien auf die politische Landkarte bugsierten. Und anschließend dann
Schriftsteller wie Bruce Chatwin und Paul Theroux, die dem Land seinen Platz
auf der Landkarte der Sehnsüchte beschaff¬ten, zwei Träumer, zwei Fliehende,
zwei Idealisten obendrein. In ihre Fußstapfen sind in den vergangenen Jahren
Multimil¬lionäre wie der Amerikaner Douglas Tomp-kins getreten. Dem gehörten
früher die Ausrüsterfirma „The North Face" und der Modekonzern
„Esprit". Weil er sah, dass die chilenischen Umweltgesetze nicht
ausreich¬ten, um die landschaftliche Schönheit Patagoniens zu schützen, legte
er seine Millionen kurzerhand in Natur an. Mittler¬weile ist Tompkins Besitz
Pumalin mit sei¬nen 300 000 Hektar Regenwald das größte private
Naturschutzgebiet des Planeten. Außerdem verwalten seine Stiftungen wei¬tere
825 000 Hektar Naturschutzgebiet —eine Fläche dreimal so groß wie das
Saar¬land.
Man sieht: Platz zum Träumen bietet Patagonien noch immer,
und Träume kön¬nen am Ende der Welt noch immer Reali¬tät werden: Man muss sie
bloß träumen. Und Patagonien muss man bloß finden, was eigentlich sehr einfach
ist, durch vage geographische Begrifflichkeiten und un¬klare oder überhaupt
nicht vorhandene Grenzziehungen aber dann doch gehörig erschwert wird. Jeder in
Südamerika ver¬steht nämlich etwas anderes unter Patago-nien. Für die einen
gehört alles dazu, was südlich von Buenos Aires liegt, beziehungs¬weise von
Santiago de Chile. Andere Reise¬führer lassen es erst tausend Kilometer weiter
südlich beginnen; manche zählen die Tierra del Fuego dazu, andere wieder nicht.
Eine Rolle spielt das eigentlich nicht: Wenn man die Menschen in Patagonien
fragt, wo Patagonien liegt, dann sagen sie: Patagonien ist da, wo ich lebe. Dabei
sollte man es dann belassen.
„Wenn ich mir Bilder aus der Vergangen¬heit
zurückrufe", schrieb Charles Darwin 1836 in seinen Aufzeichnungen „Die
Fahrt mit der Beagle", "sind es häufig die Ebenen Patagoniens, die
mir vor Augen treten.... Sie lassen sich nur negativ beschreiben: ohne
Ansiedlungen, ohne Wasser, ohne Bäume, ohne Berge bieten sie nur einigen
wenigen zwergwüchsigen Pflanzen einen Lebensgrund. Warum, und ich bin da
kei¬neswegs ein Einzelfall, haben diese ariden Wüsten sich dann derart hartnäckig
in meiner Erinnerung festgesetzt? ... Ich kann diese Gefühle nicht recht
analysieren: doch es muss zum Teil von der Freiheit kommen, die sich der
Phantasie hier bietet."
Reisen Sie mit, und lassen Sie Ihrer Phantasie freien Lauf.
as chilenische Patagonien ist eine dünne Angelegenheit: An
seiner weitesten Stelle, bei Temuco ganz oben im Norden, ist es 250 Kilometer
breit, südlich von Puerto Montt aber sind es nur noch 30 Kilometer. Bei Puerto
Natales im Süden besteht Patagonien beinahe nur noch aus Inseln und Inselchen.
Um ein wenig Ordnung in dieses lange, dünne Land zu
bekommen, haben die Chilenen es in Regionen unterteilt, IX, X, XI und XII, von
Norden nach Süden, das vereinfacht die Standortbestimmung. Und dient
gleichzeitig als Gradmesser der Besiedlung: Region IX ganz im Norden ist das
Land der Seen und Vulkane, in dem Chiles Tourismusindustrie ein internationales
Publikum versorgt — und wo es mit Valdivia eine der schönsten Städte der Region
gibt. Je weiter man sich von hier in einer geraden Linie nach Süden bewegt,
umso rauer wird das Land, umso erhabener die Natur. Und umso seltener seine
Men¬schen. In Region XII — auch Magallanes ge¬nannt — gibt es dann beinahe mehr
Eisberge und Gletscher als Einwohner.
Der chilenische Teil Patagoniens ist sein vielseitigster: Er
verwöhnt Luxussuchende ebenso wie Abenteuerhungrige, man kann seine Vulkane
besteigen oder durch das Labyrinth seiner Fjorde und Inselchen schippern. Und
er ist ein Land zwischen den Zeiten: Auf der legendenumrankten, oft nebligen
Isla Grande de Chilod mit ihren verwunschenen alten Häusern kann man sich
vorkommen, als sei man soeben aus den Zeitläuften herausgefallen. Und wenige
Stunden später in der klimatisierten Kabine eines Kreuzfahrtschiffes muss man
sich dann entscheiden, welchen Film man abends im Bordkanal anschaut.
ier draußen ist: Nichts. Nichts außer Gras, nichts außer
Wind. Die große, weite Mitte des argentinischen Teils von Patago-nien besteht
aus Steppe, „meseta", die sich von links nach rechts und von hinten nach
vorne jeweils bis zum Horizont erstreckt. Patagonien nimmt mit über 750 000
Quadrat¬kilometern etwa ein Drittel der argentini¬schen Staatsfläche ein. Es
ist die Heimat von weniger als einer Million Menschen. Und 5,5 Millionen
Schafen.
Ein wenig sieht es hier so aus, wie man sich den Wilden
Westen vorstellt, und ein wenig so ist es hier draußen auch lange Zeit gewesen.
Auch Patagonien war ein Ende der Welt, die letzte Grenze, ein Land der
Wagemutigen, die ihr Glück versuchen oder suchen woll¬ten: Farmer und
Schafzüchter, Glücksritter und Goldsucher. Und Outlaws, natürlich, Buenos Aires
ist fern, und der Arm des Gesetzes war nie lang genug, um bis hierhin zu
reichen.
Dies ist das Patagonien, das in unseren Köpfen herumspukt,
wenn wir an Chatwin denken oder an die Pioniere, ein Land der grenzenlosen
Horizonte und visuellen Mono-tonie. Eines, das den Besucher still werden lässt.
Dessen tiefe Ruhe man nicht stören möchte mit nichtssagendem Geplapper.
Manchmal lässt Patagonien einen völlig ver¬stummen, weil jedes Wort ein Wort zuviel
wäre. Manchmal macht Patagonien sprachlos.
Und jenseits der Steppe? Berge. Berge? Ein Wunderland der
Berge! Eine landschaft-gewordene Postkarte voller majestätischer Vulkane,
kalbender Gletscher und stiller Seen und dunkler Wälder, ein Freizeit- und Outdoor-Paradies
für Wanderer, Rafter, Ka¬nuten und Kletterer. Ein anderes Patagonien. Ein ganz
anderes.
anz weit im Süden, kurz bevor da nichts mehr ist als kaltes,
sehr kaltes Wasser, zerfasert der gewaltige südamerikanische Kontinent in eine
Reihe Inseln — als habe sich die Schöpfung nicht dazu durchringen können, einem
ihrer Meisterstücke ein ab¬ruptes Ende zu bereiten. Dies ist die Kante der
Welt, die Tierra del Fuego, Feuerland. Und Feuerland ist Feuerland, weil
Ferdinand Magellan auf seiner Weltumrundung vom Schiff aus lodernde Lagerfeuer
der Einwoh¬ner sah, helle, aber auch unheimliche Tupfer in der Schwärze der
Nacht. Manchmal kann Geschichte dann doch sehr logisch sein.
Deswegen hieß die Magellanstraße, die Feuerland vom Rest
Patagoniens abschneidet, auch lange Zeit nicht so, sondern Estreito de Todos
los Santos, Allerheiligenstraße, benannt vom großen Seefahrer nicht nach sich
selbst, sondern dem Tag ihrer Entde¬ckung, auf den er lange gewartet hatte.
Auch heute kommt man nicht zufällig nach Feuer¬land — wer ans Ende der Welt
möchte, muss weit fliegen oder sehr lange fahren. Belohnt wird er mit einem
einzigartigen Stück Welt.
Feuerland ist viel abwechslungsreicher, als es oft
dargestellt wird. Natürlich pfeift es hier kalt und kräftig, und natürlich sind
die Landschaften karg und die Gletscher gewal¬tig. Aber Feuerland kann auch wie
Irland aussehen, mit sattgrünen Wiesen und rollen¬den Hügeln, und mit Punta
Arenas und Ushuaia gibt es zwei lebhafte, in der Saison sogar quirlige Städte.
Bloß Feuer brennen keine mehr. Aber wenn die Feuerbüsche blühen, sieht die
Tierra del Fuego manchmal wirklich aus wie — Feuerland.
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