Wandern in den Lanzo-Tälern in den Grajischern Alpen
Author D.Selzer-Mckenzie
Video: http://youtu.be/s6NntXpXeCY
Manchmal Liegen Trubel und Abgeschiedenheit, lärmende Stadt
und stille Landschaft nur quasi einen Steinwurf voneinander entfernt.
Nordwestlich von Turin finden Wanderer in den Lanzo-Tälern in den Grajischen
Alpen ein Tourenparadies.
Villa illa Croveri, Villa Franchetti, Villa Navone — was
machen die vielen Villen hier in die¬sen verlassenen Alpentälern? Wer in den
südlichen Graji-schen Alpen wandert, staunt über Pracht¬bauten, die überall
verteilt in den Orten der Lanzo-Täler liegen. Die Lösung liegt auf der Hand —
es war die Nähe zu Turin, und die somit relativ kurze Anreise, wel¬che den Adel
und die reiche Oberschicht Turins seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, und
besonders zahlreich zur Zeit der Belle Epoque zu Beginn des 20. Jahrhunderts in
die Täler Grande, Ala und Viü lockte.
Einst Treffpunkt der Reichen
Die Eröffnung der damals topmodernen Eisenbahn Turin-Ciri
(1869), die dann noch bis Lanzo (1876) und Ceres (1916) verlängert wurde,
verkürzte die Anreise stark, was die Reichen an den Bau von Villen und
Geschäftstüchtige an die Er¬richtung von Luxushotels denken ließ. Diese eher
städtischen Bauten, oft auch im Schweizer Chalet-Stil gehalten, stehen in ihrer
Pracht im starken Kontrast zu den für die Gegend typischen einfachen
Stein-häusern. Dem heutigen Besucher fällt es schwer, an die einstige Bedeutung
als wichtige Sommerfrische und Treffpunkt der Reichen zu glauben. Umso mehr
deshalb, weil in den vergangenen Jahr¬zehnten die meisten Einheimischen in die
großen Städte wie Turin weggezogen sind und die Täler seither einen eher
ur¬tümlichen, melancholischen Reiz fernab hektischer Betriebsamkeit ausüben.
Und auch in touristischer Hinsicht spielen sie bislang eine untergeordnete
Rolle, ob¬wohl sie ein dichtes Wegenetz überzieht, das eine Reihe einsamer Wanderungen
in spektakulärer Hochgebirgslandschaft möglich macht. Zwar fehlen
prestige-trächtige 4000er-Gipfel wie im nördlich gelegenen
Gran-Paradiso-Massiv. Doch der höchste Gipfel am vergletscherten
Alpenhauptkamm, die Uia di Ciamarella im Ala-Tal, ragt beeindruckende 3676
Me¬ter in die Höhe. Dabei ist sie Luftlinie nur 30 Kilometer vom Alpenrand
entfernt, der nur wenige Hundert Meter über dem Meeresspiegel liegt!
Das Gestein hier ist hart, das Relief steil, die Landschaft
wild und rau. Die Be¬völkerung hatte es früher nicht einfach, sich von der
Landwirtschaft zu ernäh¬ren, die über Jahrhunderte das tägliche Leben
bestimmte. Eine Kombination aus Viehzucht und Ackerbau sicherte die notwendigen
Nahrungsmittel wie Mehl, Milch, Käse, Fleisch und Gemüse„; eventu¬elle
Überschüsse wurden auf clEin Markt verkauft. Wie gut, dass neben ider
Land¬wirtschaft im Mittelalter und der frühen Neuzeit auch der Bergbau eine
bedeu¬tende Rolle in den Lanzo-Tälern spielte. Gold, Silber, Kupfer, Eisen,
Mangan, Talk — es wurde nach den verschiedensten Rohstoffen geschürft.
Aber nicht nur der Abbau brach¬te Einnahmen, sondern auch
die an¬schließende Verarbeitung, besonders des Eisens: So wurden die Eisenerze
in die Schmelzöfen im Talgrund gebracht, und das so gewonnene Roheisen in den
Schmieden vor Ort zu fertigen Produkten wie Nägel und Schlösser
weiterverarbei¬tet Heute können einige der still gelegten Minen besucht werden,
beispielsweise die alte Talkmine »Brunetta« in Cantoi-ra im Grande-Tal. Auch
der Prozess der Weiterverarbeitung wird in zwei Museen dargestellt, im
Maschinenmuseum I
»Silmax« in Lanzo Torinese und im »Eco-museo dei Chiodaioli«
(Ökomuseum der Nägelmacher) in Mezzenile.
Hat man die unteren und mittleren Tallagen, die grün,
waldbestanden und wasserreich sind, hinter sich gelassen, kommt man in die
weitläufigen und guten Alpgebiete, die sich etwa zwischen 1700 und 2300 Meter
Höhe erstrecken. In den Fluten des Stausees Malciaussia (1790 m, Viü-Tal) ist
die gleichnamige Alpsiedlung im Jahr 1902 versunken. Oberhalb des Sees liegt
das Rifugio Vulpot (1805 m) ein Etappenstützpunkt der Weitwanderwege GTA und
Via Alpina und somit auch An-laufpunkt deutschsprachiger Wanderer.
Allein mit dem Hüttenwirt
Vom Lago Vulpot zieht die GTA auf einem gepflasterten
Militärweg über den Colle Croce di Ferro (2546 m) weiter ins Susa-Tal und die
Cottischen Alpen. Gleich unterhalb des Passes liegt die Capanna Sociale Aurelio
Ravetto. Diese zur Un-terkunft ausgebaute, ehemalige Kaserne erinnert an
Berghütten von früher: sehr einfach, ehrlich, sympathisch — und mit toller
Aussicht über das untere Susa-Tal und die Ebene. Hier ist man mitunter einziger
Gast, und der Hüttenbetreiber Franco Vigna erzählt dann gerne über die
Historie: »Das Gebäude 200 Meter weiter am Weg war die Kommandozentrale der Offiziere.
Sie wurde aber nie benutzt, da es hier im Zweiten Weltkrieg nicht zu Kämpfen
kam.« Vom Colle aus lockt die Besteigung des Rocciamelone mit gran¬dioser
Rundumsicht (3537 m, Susa-Tal), höchster Wallfahrtsort der Alpen.
Am anderen Ende der Lanzo-Täler liegt der Passo della
Crocetta. Dieser Über-gang vom Orco- ins Grande-Tal war im Zweiten Weltkrieg
eine Fluchtroute der Partisanen und Ort eines heftigen Gefech¬tes, als
Faschisten den flüchtenden Parti¬sanen im August 1944 nachstellten. Zu dieser
Zeit war die »epoca d'oro« für die Lanzo-Täler schon vorbei, und ein Teil der
Bevölkerung schon emigriert. Bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert schlossen
die meisten Minen, sie waren nicht mehr rentabel. Die Agrarkrise beutelte die
Berg¬bauern, die heimische Metallverarbei¬tung brach mit der Industrialisierung
der Po-Ebene zusammen und der Ausbruch des Ersten Weltkriegs sorgte für ein
jähes Ende des Belle-Epoque-Tourismus.
Der große Exodus
Der endgültige Niedergang erfolgte nach dem Zweiten
Weltkrieg. Seit 1871 haben die Lanzo-Täler die Hälfte ihrer Bevölke¬rung
verloren, einzelne Gemeinden gar bis zu 90 Prozent, wie Lemie im Viü-Tal!
Trotzdem gibt es auch Hoffnungsschim¬mer für die Täler Grande, Ala und Viü, wie
die noch vorhandene Alpwirtschaft, die zum Beispiel den »Toma di Lanzo«
produziert, eine Käsespezialität erster Güte; oder die Einsicht der
Provinzregie¬rung, dass ein sanfter Wandertourismus kleine wirtschaftliche und
soziale Impul¬se setzen kann, weshalb viele der Wege inzwischen markiert und
begehbar sind. Einige der Abgewanderten kehren wie-der zurück wie etwa Giorgio
Inaudi, der Bücher über die Region schreibt und sei¬ne Heimat nicht dem Verfall
preisgeben will. »Heute glauben viele wieder an eine Zukunft, an einen
nachhaltigen Tourismus, an neue Möglich¬keiten«, sagt Aldo
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