Kreuzzüge – Die Welt der Kreuzritter
Author D.Selzer-McKenzie
Video: http://youtu.be/Yo6RMupbmiU
Freitag ist der wichtigste Tag in der moslemischen Woche. Es
ist der Tag des Gebets, und in Jerusalem strömen die Moslems in den
Tempelbezirk, um am Gottesdienst teil¬zunehmen.
Der Tempelbezirk wird vom Felsendom beherrscht, der vor über
1300 Jahren erbaut wurde. Eine riesige Rotunde, die mit herrlichen goldenen
Mosaiken geschmückt ist und von einem goldenen Dom überragt wird, erhebt sich
über einem nackten Fels. Dies ist der Grundstein, der Fels, wo sich für Juden,
Christen und Moslems Himmel und Erde treffen. Es ist der Fels, auf dem Abraham
bereit gewesen sein soll, seinen Sohn zu opfern: Ismael nach dem Koran, Ismaels
Bruder Isaak nach der Bibel. Es ist der Fels, von dem aus Mohammed einen
wunderbaren Nachtflug zum Himmel gemacht haben soll.
Am Freitag, dem 15. Juli 1099, kurz nach den Mittagsgebeten,
stürzte ein einund-zwanzigjähriger normannischer Ritter namens Tankred mit
einer Gruppe schwerbewaff-neter Männer auf den Berg. Die Kreuzritter hatten ihr
Ziel erreicht. Nach drei Jahren der Märsche und Schlachten und nach einem
Verlust von drei Vierteln der Männer, die Euro¬pa verlassen hatten, waren sie
gekommen, um die heiligen Stätten von Jerusalem zu beschützen.
Tankred und seine Männer schlugen sich ihren Weg in den
Felsendom frei und erleich-terten den Dom um ȟber vierzig Silberkandelaber,
von denen jeder 3600 Drams wog, und eine große Silberlampe, die vierundvierzig
syrische Pfund wog, sowie hundertfünfzig klei¬nere Silberkandelaber und mehr
als zwanzig goldene und noch sehr viel mehr an Beute. « Die Moslems flohen in
das andere große Gebäude des Berges, die Al-Aksa-Moschee. Dort ergaben sie
sich, boten ein hohes Lösegeld für ihr Leben und erkannten Tankreds Banner als
das Symbol seines Schutzes an. Bevor die Sonne unterging, flatterte Tankreds
Fahne, von Moslems gehißt, über dem heiligsten Ort Jerusalems.
Am nächsten Morgen kamen die Kreuzritter wieder in die
Al-Aksa-Moschee und met-zelten jeden Moslem, der sich darin verbarg, nieder.
Niemand weiß, wie viele starben; der moslemische Chronist schreibt von
siebzigtausend. Einer der Kreuzfahrer berichtet, daß er sich seinen Weg durch
eine knietiefe Masse aus Blut und Leichen erkämpfte. Die Nach¬wirkung dieser
Eroberung und dieses Gemetzels ist noch heute zu spüren. Mit ihr begann die
seltsame Geschichte des lateinischen Königreiches Jerusalem — ein Königreich,
das beinahe zweihundert Jahre währte und das die Welt des Christentums und des
Islams veränderte.
Tankred, der Normanne
Tankred stammte aus der Normandie in Nordfrankreich und
wurde ungefähr 1076 geboren. Seine Vorfahren waren Wikinger, »Nordmänner«, wie
man damals sagte, die erst im neunten Jahrhundert den christlichen Glauben
annahmen. Es waren praktische Menschen, und deshalb war auch ihre Religion
praktisch. Sie erfüllte den Zweck, jeden einfach und sicher in den Himmel zu
bringen und die Gefahren des Höllenfeuers zu umge¬hen. Aus diesem Grund ließen
sie sich taufen. Das Christentum bot ihnen einen direkten Weg zum Leben nach
dem Tod, mit Garantie, und da die Kirche den neuen Landbesitzern gestattete,
ihre eigenen Priester und Bischöfe zu ernennen, nahmen die Normannen das
Christentum mit Begeisterung an.
Unvorhergesehen hatte das Interesse der Nordmänner am
Christentum zur Folge, daß sie gerne pilgerten. Reisen erweitert vielleicht den
Horizont — auf jeden Fall erweitert es das Wissen darüber, welche Teile der
Welt sich zu erobern und zu plündern lohnt. Die Pil¬gerreise nach Jerusalem
wurde bei den Normannen sehr beliebt, besonders auf einem Weg, der durch die
wohlhabende und militärisch schwache Region Süditalien führte.
Tankred wurde nach seinem Großvater mütterlicherseits
genannt, einem weniger bedeutenden normannischen Baron namens Tankred de
Hauteville, der mehr Söhne hatte, als sein Land ernähren konnte. Im Jahre 1040
nahmen drei davon am Überfall auf die Stadt Melfi in Apulien teil. Neunzehn
Jahre später wurde ein vierter Bruder vom Papst zum Herrscher über Apulien
ernannt, und ein fünfter nahm an der Eroberung Siziliens teil.
Eine neue Normandie in Süditalien auszuheben, bedeutete aber
auch einen Krieg gegen zwei Reiche, ein lateinisches und ein griechisches.
Die zwei römischen Reiche Beginnen wir mit den Griechen. Sie
nannten sich selbst Römer. Das Römische Reich hatte sich im dritten
nachchristlichen Jahrhundert in die östliche und die westliche Hälfte
aufgeteilt. Das Weströmische Reich war in Europa bald von Heiden überrannt wor-
den, doch das Oströmische Reich bestand noch immer. Seine Hauptstadt war
Neu-Rom, Byzanz, die große Stadt am Bosporus.
Byzanz war auch als Konstantinopel bekannt, nach seinem
Gründer Konstantin, dem ersten christlichen Kaiser. Die Sprache des östlichen
Reiches war Griechisch, doch seine Identität immer noch die des kaiserlichen
Roms. Tatsächlich lautet bis heute das griechi¬sche Wort für griechisch-sein
romiosini.
Das Weströmische Reich war lateinisch, nicht griechisch, und
Karl der Große hatte es im Jahre 800 als das »Heilige Römische Reich«
bezeichnet. Seine Kirchen verwendeten eine lateinische Liturgie, und die
Heiligen Römischen Kaiser sahen sich selbst als die Beschützer des Papstes in
Rom an, als theoretisch Gleichgestellte neben dem Kaiser von Byzanz. Obwohl die
Stadt Byzanz riesig, reich und militärisch uneinnehmbar blieb, bröckelten die Grenzen
des byzantinischen Reiches. Im siebten und achten Jahrhundert hatten Araber
Zentralanatolien besetzt und dem Reich Kreta, Sizilien und das gesamte Syrien,
Ägypten und Nordafrika genommen, doch zwischen 976 und 1025 kam das Reich
wieder zu Kräften. Die Araber wurden nach Jerusalem zurückgetrieben, Kreta
wurde zurückerobert und Zentralanatolien bald darauf ebenfalls. Es sah so aus,
als wäre das byzantinisch-griechische Reich wiederhergestellt worden, doch die
Männer um de Haute¬ville, Tankreds Großonkel, glaubten das nicht. Sie sahen
sehr wohl, daß sie in Süditalien eine zu groß gewordene, allerdings ausgelaugte
Macht vor sich hatten. Italien nämlich war zwischen den beiden Reichen
aufgeteilt worden. Das lateinische Italien reichte fast bis Bari hinunter,
daran schloß sich gen Süden das byzantinisch-griechische an.
Der Heilige Römische Kaiser und der Papst waren gern bereit,
die de Hautevilles zu unterstützen, da sie den römisch-katholischen Einfluß in
eine Region auszudehnen gedachten, die bisher Byzanz in religiöser Hinsicht
kontrolliert hatte.
Als der Feldzug voranschritt, wurde jedoch deutlich, daß die
Normannen nicht eine Pflicht gegenüber der Kirche erfüllen wollten, sondern
vielmehr aus eigenem Interesse han¬delten. Sie wirkten in Italien immer mehr
wie eine Truppe Banditen. Der Papst reiste in ihrem Land umher und beschwerte
sich beim Kaiser, daß die Normannen »sich mit einer Pietätlosigkeit, die an
Heiden heranreicht, gegen die Kirche Gottes erheben, Christen mit neuen und
unbekannten Qualen zugrunde richten, weder Frauen noch Kinder noch Alte
verschonen und keinen Unterschied zwischen dem machen, was heilig ist oder
profan, Kirchen zerstören, sie niederbrennen und sie dem Erdboden gleichmachen.
«
Der Papst und der Heilige Römische Kaiser erkannten, daß sie
da einen Tiger am Schwanz hielten. 1053 zog der Papst selbst mit einer Armee in
den Süden und wollte sich mit einer byzantinischen Armee verbinden, um die
Normannen wieder in die Schranken zu verweisen. Der Papst erklärte sogar, daß
dies ein Heiliger Krieg sei oder zumindest im Namen des »Erben von St. Peter«
geführt würde.
Die de Hautevilles sahen all dies nicht als großes Problem
an: Sie zerschlugen die päpst-lichen Armeen, bevor sie sich mit seinen
byzantinischen Verbündeten vereinen konnten, nahmen den Papst als Gefangenen
und drängten ihn dazu, ihnen nach reiflicher Über¬legung zuzustimmen, daß es
eine feine Sache sei, wenn Normannen das südliche Italien kontrollierten.
Tankreds Familie war vielleicht christlich, aber sie ließ nicht zu, daß der
Glaube wichtige Angelegenheiten beeinflußte.
Die Herausforderung des östlichen Reiches
Indessen hatte sich eine Anzahl von Barbaren ihren Weg in
das byzantinische Reich frei-geschlagen. Die Seldschuken hatten sich
Zentralarmeniens bemächtigt und waren bei¬nahe bis zum Bosporus vorgedrungen.
Eurasiens riesige Steppenlandschaft hatte Horden von
berittenen Kriegern hervorge¬bracht — und brachte sie weiterhin hervor — die
mit der Zivilisation anstellen konnten, was sie wollten. Die Goten, Hunnen,
Alanen und Vandalen — die Vorfahren der Franken, Deut¬schen, Lombarden und
Spanier — stammten alle aus diesem immens großen Gebiet. Das Boll¬werk gegen
diese Horden bildete der Kalif von Bagdad. Seine Macht hatte die Kluft zwischen
dem Kaspischen Meer und dem Persischen Golf geschlossen und die Steppenreiter
daran gehindert, westwärts zum Mittelmeer zu ziehen. Doch im elften Jahrhundert
stand Bagdad vor dem Zerfall; der Korken vermoderte in der Flasche. Die Türken
aus Zentralasien, die bereits ein Reich gegründet hatten, das sich vom Punj ab
bis nach Ostpersien erstreckte, hat¬ten sich zum Islam bekannt, waren als
Söldner des Kalifen in den Irak gezogen und hatten begonnen, nach weiter
westlich gelegenen Möglichkeiten Ausschau zu halten.
Ein Stamm, der sich als Seldschuken bezeichnete, machte sich
im Jahre 1055 zu Herren von Bagdad. In den folgenden fünfzehn Jahren drangen
seine Krieger in Anatolien ein, und 1071 forderten sie die beeindruckendste
Armee heraus, die das byzantinische Reich auf-bringen konnte. Sie schlugen die
kaiserliche Armee in Manzikert vernichtend und nahmen den Kaiser als
Gefangenen. Nichts konnte ihren Marsch auf Konstantinopel aufhalten.
Einer von Tankreds Großonkeln, Robert Guiscard, betrachtete
dies als einmalige Gele-genheit. Er nahm seinen Sohn mit über die Adria, um
seinen eigenen Streich gegen das byzantinische Reich zu führen. Als sorgender
Vater wollte Guiscard die Zukunft seines Sohnes sichern. Und so beschloß er,
ihm Griechenland zu geben. Alles, was er dafür zu tun hatte, war, es zu erobern.
Der Name seines Sohnes sollte für die nächsten Generationen
durch die Geschichte der Kreuzzüge klingen: Bohemond.
Zum Glück für Byzanz war die Eroberung Griechenlands eine zu
große Aufgabe für Robert und Bohemond, und als Guiscard 1085 starb, war ihr Ziel
genauso weit entfernt wie je zuvor. Bohemond seinerseits richtete seine
Aufmerksamkeit wieder verstärkt auf Süditalien.
Dort fanden andere Machtkämpfe statt, die einen kämpfenden
Ritter wie Bohemond interessieren mußten. Der interessanteste Machtkampf war
dabei der erbitterte Kon¬flikt zwischen dem Papst und seinem
Möchtegern-Beschützer, dem Heiligen Römischen Kaiser.
Der Revolutionspapst
Es begann alles mit einem Mann — Papst Gregor VII. —, der
Europas erster Revolu¬tionsführer werden sollte. Ehe er Papst wurde, war er mit
der Abtei von Cluny in Zen¬tralfrankreich verbunden gewesen. Cluny hatte eine
neue Art der Klosterbewegung begon¬nen und sich nicht nur dem Rückzug von der
Welt verschrieben, sondern auch der Wiedererweckung der christlichen
Gesellschaft in einer zentralisierten, autoritär ausge¬richteten Struktur unter
dem Papst als Vizekönig Christi.
In einem Jahrhundert der entfesselten Gewalt und des
Banditentums, in dem das Gesetz nur ein Instrument der Mächtigen war, sehnte
man sich nach einer Art von Ordnung und ruhigem Leben. Viele Menschen, darunter
eine große Anzahl von Rittern, begannen, die Kirchenreformer zu unterstützen,
und zwar aus denselben Gründern, aus denen viele Menschen in Südamerika in den
sechziger und siebziger Jahren unseres Jahrhunderts den Kommunismus
unterstützten. Er bot das einzig glaubwürdige Programm, um Korruption und
Gewalt, die die Menschen umgaben, ein Ende zu setzen.
Da ein Ritter gelernt hatte, Autorität hierarchisch zu
verstehen, mit Herren, die über ihnen stehende Herren und wieder darüber
stehende Oberherren besaßen, konnte er leicht die Autorität Christi als gegeben
hinnehmen. Und da die Kirche das Sprachrohr Christi war, beharrte Papst Gregor
VII. darauf, daß weltliche Herren, eingeschlossen der Kaiser, der Autorität und
der Rechtsprechung der Kirche untertan waren. Am 8. Dezember 1075 stärkte Papst
Gregor seinen Anspruch auf die alles überragen¬de Autorität auf Erden, indem er
den Heiligen Römischen Kaiser mit Verdammnis drohte (also mit der Vernichtung
seiner selbst und seiner Erben), wenn er nicht aufhörte, Bischö¬fe und Äbte zu
ernennen. Dies, so beharrte Gregor, war Vorrecht der Kirche. Kaiser Hein¬rich
beschuldigte ihn als »falschen Mönch«. Gregor exkommunizierte daraufhin den
Kai¬ser, überantwortete ihn irdischer Verdammung und erklärte, daß er als König
von Deutschland abgesetzt sei und ihm niemand mehr gehorchen müsse.
Dies erregte allenthalben Aufsehen: Nie zuvor war etwas
Derartiges geschehen.
Der Kaiser wiederum erklärte zweitausend Kilometer von Rom
entfernt, daß im Gegenteil Gregor derjenige sei, der abgesetzt sei. Jeder Herr
der Kirche und des Staates im Westen mußte sich für eine Seite entscheiden. Der
Kaiser verlor.
Der symbolische Moment des Sieges kam 1077, als Kaiser Heinrich
IV. im einge¬schneiten Schloß von Canossa unterwürfig auf den Papst wartete und
ihn um Absolution
bat. Von diesem Zeitpunkt an war klar, daß der Papst
imstande war, die Macht des Kai¬sers zu beschränken. Die de Hautevilles, die
immer bereit waren, die Kaiser zu schwächen, wurden plötzlich zu ernsthaften
Unterstützern der organisierten Religion.
Nach einigen Jahren war Heinrich wieder auf dem Kriegspfad,
und Gregor brauchte militärische Hilfe, wo immer er sie auch bekommen konnte.
Obwohl Gregor ihn bereits
zweimal exkommuniziert hatte, zog Tankreds Großonkel Robert
Guiscard im Namen des
Papstes in den Krieg. Als Gegenleistung erkannte Gregor
Robert als Herzog von Apulien an. Zwei Jahre später, als Heinrich Rom besiegte,
war es Robert, der dem Papst zu Hilfe
kam. Er befreite Gregor aus der Gefangenschaft und gab ihm
seinen Thron zurück. Zur gleichen Zeit plünderten und verwüsteten seine Truppen
Rom, und als die verzweifelten Menschen sich gegen sie erhoben, steckten die
Normannen die Stadt in Brand und zer¬störten das gesamte Gebiet zwischen dem
Kolosseum und dem Lateranpalast.
Papst Gregor war Rom wiedergegeben worden, doch seine
Wohltäter hatten die Stadt zerstört, um dies zu bewerkstelligen.
Verständlicherweise war Gregor bei den
Römern absolut unbeliebt; er konnte nicht bleiben, nachdem
seine Beschützer abgezo¬gen waren, und starb in Salerno als Gast — wenn nicht
sogar als Marionette — der de Hautevilles.
Nach Gregor folgte Papst Urban II., der wie Gregor ein
Franke war, aus Cluny her-vorgegangen, und sich dem Reformprogramm und der
Vorstellung vom Papst als erstem Monarchen verschrieben hatte. Es war Urban,
der die Kreuzzüge anregen sollte. Dies frei¬lich hätte er niemals ohne die de
Hautevilles geschafft.
Der Heilige Römische Kaiser kontrollierte Rom, und einige
Jahre lang wanderte Papst Urban, abhängig von Verwandten der de Hautevilles, in
Süditalien herum. 1093 brachten ihn Bohemond und sein Halbbruder mit
militärischer Gewalt zurück nach Rom. Tatsäch- lich konnte Urban immer noch
nicht in den Lateranpalast einziehen, und erst 1094 durfte er seinen Platz auf
dem päpstlichen Thron einnehmen — dank Gott und ein klein bißchen gezielter
Bestechung.
Tankreds Dilemma
Ungefähr zu dieser Zeit schickte die Familie Tankred zur
Erziehung aus der Norman¬die nach Italien. Er kam ins Haus seines Onkels
Bohemond nach Taranto. Dieser nahm ihn dann auch auf die Kreuzzüge mit.
Tankreds Biograph Radulph von Caen zeichnet ein
interessantes Bild von der geistigen Verfassung dieses Mannes im Jahre 1096:
»Oft brannte er vor Sorge, denn das Kriegsgeschäft, an dem
er als Ritter beteiligt war, schien den Befehlen Gottes zu widersprechen. Gott
befahl ihm, die Wange, die geschlagen wurde, gemeinsam mit der anderen Wange
seinem Gegner entgegenzu-halten, doch weltliche Ritter opfern nicht das Blut
von Verwandten. Gott drängte ihn, seinen Mantel dem Mann zu reichen, der ihn
wegnehmen wollte; die Gesetze des Krieges verlangten von ihm, einem Mann, der
den Krieg bereits verloren hatte, alles wegzunehmen, was er noch besaß. Und so
kam dieser weise Mann niemals zur Ruhe, da dieser Widerspruch ihm dem Mut nahm.
«
Betrachtet man die Geschichte der de Hautevilles, muten
solche Gewissensbisse überra¬schend an. Gewissensbisse waren schließlich nicht
gerade ihre Stärke. Doch die Gefühle christlicher Sorge beschäftigten offenbar
eine Reihe von Rittern und spielten in der För¬derung der Kreuzzüge denn auch
eine große Rolle.
Es lohnt sich, die Worte von Radulph noch einmal zu lesen
und sich von der Vorstel¬lung zu lösen, daß er ein schlechtes Gewissen
beschreibt. Er tut es nicht. Er beschreibt den Zwiespalt eines Mannes mit zwei
Herren, die ihm verschiedene Befehle geben. Der eine ist sein ritterlicher
Herr, sein Feudalherr auf Erden, der ihm befiehlt, sich zu schlagen. Dies, so
wird ihm gesagt, ist seine Aufgabe. Der andere ist sein Herr im Himmel,
Christus, an der Spitze der Lehnshierarchie, der in seiner Bergpredigt eine
Reihe ganz anderer Befehle gegeben hat.
Im Jahre 1095, dem Jahr nach seiner Thronbesteigung,
erklärte Urban, wie die sich widersprechenden Ansprüche des Rittertums und der
Kirche vereint werden konnten. Er hatte sich offenbar viele Gedanken zu diesem
Thema gemacht und bot eine überaus origi¬nelle Lösung an: den Kreuzzug.
Aufruf zum Kreuzzug
A
m Dienstag, den 27. November 1095, hielt Papst Urban die
Rede, die Tankreds Leben veränderte. Urban hatte einen großen Rat nach Clermont
in Zentralfrankreich einberufen, und die Nachricht hatte sich verbreitet, daß
er am Ende des Treffens eine Erklärung abgeben wolle. Man war ungeheuer
aufgeregt, und als der Tag da war, konnte die neue Kathedrale die Menge nicht
aufnehmen. Der päpstliche Thron mußte auf einer Wiese aufgestellt werden.
Urban erklärte, daß er Abgesandte des Kaisers von Byzanz
empfangen habe, die um Hilfe beim Zurückdrängen der Türken baten. Es mochte
sein, daß die Botschafter die Dringlichkeit der Situation überzeichneten. Es
mag sein, daß sie, da sie mit dem Papst sprachen, das Bedürfnis besonders
unterstrichen, die Christen im Osten vor den heid¬nischen Moslems beschützen zu
müssen. Was immer es war, sie beflügelten auf jeden Fall Urbans Phantasie — und
et sollte im Gegenzug die Phantasie von ganz Europa be-flügeln.
Die Hilfe, die sich der Kaiser von Byzanz vorstellte, waren
wahrscheinlich einige tau-send Söldner. Was Urban jedoch sah, war die
Möglichkeit, sich selbst zum Retter der öst¬lichen Kirche zu machen und so
seinem Ziel näherzukommen, die gesamte Kirche zu beherrschen. Anstatt also
einige Briefe an die westlichen Freiherren zu schreiben und sie zu bitten,
einige Truppen in den Osten zu schicken, stand der Papst auf seinem Podest auf,
und sprach zu der riesigen Menschenmenge, die vor gespannter Erwartung schier
vibrier¬te. Er gab eine Erklärung ab, die die Welt verändern sollte. Er rief
alle christlichen Krieger im Namen der Kirche zu den Waffen, um ihre Brüder im
Osten zu retten.
Er beschrieb mit irreleitenden Begriffen den Sieg der
Seldschuken im christlich—byzan-tinischen Land:
»Sie haben die Christen beschnitten und das Blut von der
Beschneidung auf den Altären vergossen oder es in die Taufbecken geschüttet.
Und sie schneiden denjenigen die Bäuche auf, die sie mit einem schrecklichen
Tod quälen wollen, zerren ihnen ihre lebenswichtigen Organe heraus und binden
sie an einen Pfahl, sie stoßen sie herum und spießen sie auf, bevor sie sie
töten. Mit herausgequollenen Eingeweiden liegen sie auf dem Boden. Manche
binden sie an Pfähle und schießen mit Pfeilen auf sie, sie befehlen anderen,
ihren Hals freizumachen, und greifen sie mit gezogenen Schwertern an, um zu
sehen, ob sie ihre Köpfe mit einem einzigen Schlag abtrennen können. «
(Dies stammt zugegebenermaßen aus dem reißerischsten Bericht
von Urbans Rede, der über¬liefert wurde — wir haben keine verläßliche Quelle
dessen, was er tatsächlich gesagt hat.)
Indem er eine Armee unter dem Banner des Kreuzes
versammelte, breitete der Papst sei¬nen Mantel über das gesamte Christentum
aus. Dies war die zugrundeliegende Idee des revolutionären Papstes: Anstelle
verschiedener örtlicher Kirchen inmitten einzelner Gemeinden gab es nun eine alles
umfassende Kirche, die von einem überragenden Papst regiert wurde. Der Kreuzzug
sollte dafür Ausdruck und Instrument sein.
Urbans Armee sollte auch Jerusalem befreien, das geistige —
und daher körperliche —Zentrum des Universums. Er hoffte, daß das wiedergewonnene
Jerusalem unmittelbar von der Kirche regiert werden würde.
Jeder Mann, der sich für den Kampf entschied, mußte sich
durch das Tragen eines Kreuzes kenntlich machen und, wichtiger noch, schwören,
daß er seinen Weg fortsetze, bis er Jerusalem erreicht habe.
Urbans Methode, eine Armee aufzustellen, war ganz und gar
originell: Neben der Bezahlung konnte er noch das Paradies bieten — jedem, der
am Kreuzzug teilnahm, wur¬den alle Sünden vergeben.
»Wer auch immer aus reiner Hingabe, und nicht wegen Ehre
oder Geld, nach Jerusa¬lem geht, um die Kirche Gottes zu befreien, kann diese
Reise gegen alle Buße eintau¬schen.«
Indem der Papst versprach, daß man durch die Ausführung
einer militärisch-politi¬schen Aufgabe ein besserer Mensch würde und einem
vergangene Sünden verziehen wür¬den, hatte er einen Weg gefunden, durch den
jedermann die päpstliche Politik verinnerli¬chen konnte. Der Kampf für die
Sache des Papstes gestaltete sich also nicht nur zu einer Verpflichtung — er
sicherte einem sogar die Rechtschaffenheit. Diese Vorstellung löste eine
riesige politische Aktion aus, sie gebar eine Ideologie und setzte den Kreuzzug
in Bewe¬gung. Urban hingegen erkannte nicht einmal, welche Lawine er
losgetreten hatte.
Die Kreuzritter des Papstes
A
demar, der Bischof von Le Puy, erhob sich sofort und bat
darum, am Feldzug teil¬nehmen zu dürfen. Zuvor hatten die Herren sich heimlich,
still und leise darauf geei¬nigt, daß er Urbans Vertreter beim Aufbau des
päpstlichen Monarchensitzes in Jerusalem sein sollte. Einige Tage später
erklärten Kuriere von Raimund von Toulouse, er wolle mit vielen Gefolgsleuten
mitziehen. Selbst schon fünfzig Jahre alt, erwartete er — wie die mei¬sten
älteren Edelleute, die an dem Kreuzzug teilnahmen —, zum Anführer des Feldzuges
ernannt zu werden. Urban jedoch wollte keinen Nichtgeistlichen in dieser Rolle
sehen.
In den folgenden acht Monate bereiste der Papst Frankreich.
Er ließ sich nur mit einer Krone auf dem Kopf blicken. Eine riesige Schar
kirchlicher Würdenträger begleitete ihn und verkündete seine Nachricht immer
wieder aufs neue. Anstelle des Königs, der den mei¬sten Menschen nur vom Abbild
seines Kopfes auf Münzen her bekannt und fern der Wirk¬lichkeit war, sahen die
Menschen hier den Vertreter Gottes auf Erden, der sie zu den Waf¬fen rief. Und
sie konnten ihn fast berühren. Die Reaktion auf diesen Aufruf überstieg die
kühnsten Erwartungen.
Der Adel strömte zusammen, um das Kreuz auf sich zu nehmen.
Der jüngere Bruder des Königs von Frankreich, Hugh von Vermandois, erklärte
sofort, daß er gehen wolle —wie Raimund von Toulouse hatte er in Spanien gegen
die Moslems gekämpft und betrach¬tete dies als Fortführung jenes Waffenganges.
Die Kreuzfahrer kamen selbst aus den Rei¬hen des Heiligen Römischen Kaisers;
die Hauptgruppe formierte sich um die drei Brüder Gottfried de Bouillon, Herzog
von Nieder-Lothringen, Eustach, Graf von Boulogne, und Balduin von Boulogne und
ihrer Gefolgschaft.
Gottfried, der älteste der drei, war Mitte dreißig. Er
sympathisierte mit Urbans Vor¬stellungen und nahm die Idee des Kreuzzuges wider
die Ungläubigen begeistert auf. Er ver¬kaufte eine ganze Reihe von Ländereien
und stattete so eine große Armee aus. Eustach war weniger begeistert, ließ sich
aber von seinem Bruder mitreißen.
Balduin war von der Aussicht, in den Krieg zu ziehen,
genauso angetan wie Gottfried. Ihn trieben jedoch ganz andere Beweggründe. Als
jüngerer Sohn ohne Land war er in die Kirche gesteckt worden, hatte sich jedoch
mit der Reformbewegung zerstritten und das Handtuch geworfen. Nun hatte er weder
ein Auskommen noch Land, und so war der Kreuzzug die Gelegenheit für ihn, sich
die Zukunft zu sichern.
In der Normandie hörten sowohl der älteste Sohn von William
dem Eroberer, Robert, der Herzog der Normandie, als auch seine Tochter Adela
gern auf Urbans Ruf. Robert ver¬äußerte sein Herzogtum an seinen Bruder,
William Rufus, den König von England, um seine Armee zu bezahlen, während Adela
einfach ihrem zögerlichen Ehemann Stefan von Blois erklärte, er müsse sich dem
Plan einfach anschließen — und damit basta, keine Wider¬rede.
Tankreds Wiedergeburt
D
ie in Süditalien beschäftigten Normannen zeigten indes
bedeutend weniger Interesse, im Heiligen Land die Schwerter zu kreuzen.
Bohemond und Roger Borsa waren im Sommer 1096 eher damit beschäftigt, eine
Rebellion in der Handelsstadt Amalfi nieder¬zuschlagen, und an der Seite
Bohemonds stand Tankred. Sie lagerten gerade in den Bergen vor der Stadt,
bereit zu einer äußerst langwierigen und langweiligen Belagerung, als Grup¬pen
bewaffneter Männer mit roten Kreuzen auf ihren Schilden vorbeizogen: Auf nach
Byzanz! Zufällig war Tankreds Bruder William unter ihnen und so erfuhr Tankred,
wie der Heilige Vater, Papst Urban, sich aus einem Zwiespalt befreite — und
diese Lösung bot sich nun auch ihm an.
Tankreds Problem war im Grunde simpel gewesen. Töten war die
Pflicht eines Ritters, aber in den Augen der Kirche war Töten falsch. Als die
Normannen in der Schlacht von Hastings Engländer getötet hatten, hatten sie
eine Sünde begangen und mußten Buße dafür tun. Doch nun erklärte der Papst, daß
Töten nicht unbedingt eine Sünde sein mußte. Man konnte differenzieren: Es hing
nämlich davon ab, wen man tötete. Wenn man die Feinde Christi tötete, brauchte
man noch nicht einmal Buße zu tun — das Töten selbst war schon die Buße. Das heilige
Gemetzel konnte eine genauso wirkungsvolle Betätigung sein wie das Gebet oder
Fasten oder eine Pilgerreise.
»Bis jetzt habt ihr ungerechte Kriege gekämpft: Ihr habt oft
schonungslos eure Speere aus Gier und Stolz metzelnd aufeinander gerichtet,
wofür ihr die immer-währende Zerstörung und das sichere Verderben der
Verdammnis verdient! Nun bieten wir euch an, daß ihr Kriege kämpft, die die
herrliche Befreiung des Marty-riums bedeuten, in denen ihr jetzigen und ewigen
Ruhm erlangen könnt.«
Oder, wie ein Bericht es ausdrückte: »Soldaten der Hölle —
werdet zu Soldaten des leben¬digen Gottes!« Tankred erkannte plötzlich — glaubt
man Radulph von Caen —, daß alle seine Probleme gelöst waren: »Jetzt endlich,
als hätten sie vorher geschlafen, erwachten seine Lebensgeister, seine Kräfte
wuchsen, seine Augen öffneten sich, sein Mut wurde geboren.«
Der Papst hatte auch auf die Bedeutung der Errettung
Jerusalems vor den Heiden hin-gewiesen. Er scheint gesagt zu haben, daß Rettung
gleichbedeutend mit Eroberung war.
»Das Land, das ihr bewohnt, ist von allen Seiten vom Meer
eingeschlossen, umringt von Bergketten und übervölkert von euch selbst... Dies
ist der Grund, weswegen ihr gegeneinander kämpft, Kriege führt und euch sogar
tötet... laßt alle diese Strei-tigkeiten beiseite. Nehmt den Weg zum Heiligen
Grab, befreit das Land von einer schrecklichen Rasse und herrscht selbst
darüber. «
Plötzlich änderte die Idee der Kreuzzüge auch die
Vorstellungswelt der Normannen. Im Oktober 1096, ein Jahr nach dem Aufruf des
Papstes, verließ Bohemond die Belagerung von Amalfi und führte eine große und
mächtige Armee über die Adria. Unter seinem Gefolge befand sich Tankred.
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