Sonntag, 9. August 2015

Kreuzzüge – Die Welt der Kreuzritter


Kreuzzüge – Die Welt der Kreuzritter

Author D.Selzer-McKenzie

Video: http://youtu.be/Yo6RMupbmiU

Freitag ist der wichtigste Tag in der moslemischen Woche. Es ist der Tag des Gebets, und in Jerusalem strömen die Moslems in den Tempelbezirk, um am Gottesdienst teil¬zunehmen.

Der Tempelbezirk wird vom Felsendom beherrscht, der vor über 1300 Jahren erbaut wurde. Eine riesige Rotunde, die mit herrlichen goldenen Mosaiken geschmückt ist und von einem goldenen Dom überragt wird, erhebt sich über einem nackten Fels. Dies ist der Grundstein, der Fels, wo sich für Juden, Christen und Moslems Himmel und Erde treffen. Es ist der Fels, auf dem Abraham bereit gewesen sein soll, seinen Sohn zu opfern: Ismael nach dem Koran, Ismaels Bruder Isaak nach der Bibel. Es ist der Fels, von dem aus Mohammed einen wunderbaren Nachtflug zum Himmel gemacht haben soll.

Am Freitag, dem 15. Juli 1099, kurz nach den Mittagsgebeten, stürzte ein einund-zwanzigjähriger normannischer Ritter namens Tankred mit einer Gruppe schwerbewaff-neter Männer auf den Berg. Die Kreuzritter hatten ihr Ziel erreicht. Nach drei Jahren der Märsche und Schlachten und nach einem Verlust von drei Vierteln der Männer, die Euro¬pa verlassen hatten, waren sie gekommen, um die heiligen Stätten von Jerusalem zu beschützen.

Tankred und seine Männer schlugen sich ihren Weg in den Felsendom frei und erleich-terten den Dom um »über vierzig Silberkandelaber, von denen jeder 3600 Drams wog, und eine große Silberlampe, die vierundvierzig syrische Pfund wog, sowie hundertfünfzig klei¬nere Silberkandelaber und mehr als zwanzig goldene und noch sehr viel mehr an Beute. « Die Moslems flohen in das andere große Gebäude des Berges, die Al-Aksa-Moschee. Dort ergaben sie sich, boten ein hohes Lösegeld für ihr Leben und erkannten Tankreds Banner als das Symbol seines Schutzes an. Bevor die Sonne unterging, flatterte Tankreds Fahne, von Moslems gehißt, über dem heiligsten Ort Jerusalems.

Am nächsten Morgen kamen die Kreuzritter wieder in die Al-Aksa-Moschee und met-zelten jeden Moslem, der sich darin verbarg, nieder. Niemand weiß, wie viele starben; der moslemische Chronist schreibt von siebzigtausend. Einer der Kreuzfahrer berichtet, daß er sich seinen Weg durch eine knietiefe Masse aus Blut und Leichen erkämpfte. Die Nach¬wirkung dieser Eroberung und dieses Gemetzels ist noch heute zu spüren. Mit ihr begann die seltsame Geschichte des lateinischen Königreiches Jerusalem — ein Königreich, das beinahe zweihundert Jahre währte und das die Welt des Christentums und des Islams veränderte.

Tankred, der Normanne

Tankred stammte aus der Normandie in Nordfrankreich und wurde ungefähr 1076 geboren. Seine Vorfahren waren Wikinger, »Nordmänner«, wie man damals sagte, die erst im neunten Jahrhundert den christlichen Glauben annahmen. Es waren praktische Menschen, und deshalb war auch ihre Religion praktisch. Sie erfüllte den Zweck, jeden einfach und sicher in den Himmel zu bringen und die Gefahren des Höllenfeuers zu umge¬hen. Aus diesem Grund ließen sie sich taufen. Das Christentum bot ihnen einen direkten Weg zum Leben nach dem Tod, mit Garantie, und da die Kirche den neuen Landbesitzern gestattete, ihre eigenen Priester und Bischöfe zu ernennen, nahmen die Normannen das Christentum mit Begeisterung an.

Unvorhergesehen hatte das Interesse der Nordmänner am Christentum zur Folge, daß sie gerne pilgerten. Reisen erweitert vielleicht den Horizont — auf jeden Fall erweitert es das Wissen darüber, welche Teile der Welt sich zu erobern und zu plündern lohnt. Die Pil¬gerreise nach Jerusalem wurde bei den Normannen sehr beliebt, besonders auf einem Weg, der durch die wohlhabende und militärisch schwache Region Süditalien führte.

Tankred wurde nach seinem Großvater mütterlicherseits genannt, einem weniger bedeutenden normannischen Baron namens Tankred de Hauteville, der mehr Söhne hatte, als sein Land ernähren konnte. Im Jahre 1040 nahmen drei davon am Überfall auf die Stadt Melfi in Apulien teil. Neunzehn Jahre später wurde ein vierter Bruder vom Papst zum Herrscher über Apulien ernannt, und ein fünfter nahm an der Eroberung Siziliens teil.

Eine neue Normandie in Süditalien auszuheben, bedeutete aber auch einen Krieg gegen zwei Reiche, ein lateinisches und ein griechisches.

Die zwei römischen Reiche Beginnen wir mit den Griechen. Sie nannten sich selbst Römer. Das Römische Reich hatte sich im dritten nachchristlichen Jahrhundert in die östliche und die westliche Hälfte aufgeteilt. Das Weströmische Reich war in Europa bald von Heiden überrannt wor- den, doch das Oströmische Reich bestand noch immer. Seine Hauptstadt war Neu-Rom, Byzanz, die große Stadt am Bosporus.

Byzanz war auch als Konstantinopel bekannt, nach seinem Gründer Konstantin, dem ersten christlichen Kaiser. Die Sprache des östlichen Reiches war Griechisch, doch seine Identität immer noch die des kaiserlichen Roms. Tatsächlich lautet bis heute das griechi¬sche Wort für griechisch-sein romiosini.

Das Weströmische Reich war lateinisch, nicht griechisch, und Karl der Große hatte es im Jahre 800 als das »Heilige Römische Reich« bezeichnet. Seine Kirchen verwendeten eine lateinische Liturgie, und die Heiligen Römischen Kaiser sahen sich selbst als die Beschützer des Papstes in Rom an, als theoretisch Gleichgestellte neben dem Kaiser von Byzanz. Obwohl die Stadt Byzanz riesig, reich und militärisch uneinnehmbar blieb, bröckelten die Grenzen des byzantinischen Reiches. Im siebten und achten Jahrhundert hatten Araber Zentralanatolien besetzt und dem Reich Kreta, Sizilien und das gesamte Syrien, Ägypten und Nordafrika genommen, doch zwischen 976 und 1025 kam das Reich wieder zu Kräften. Die Araber wurden nach Jerusalem zurückgetrieben, Kreta wurde zurückerobert und Zentralanatolien bald darauf ebenfalls. Es sah so aus, als wäre das byzantinisch-griechische Reich wiederhergestellt worden, doch die Männer um de Haute¬ville, Tankreds Großonkel, glaubten das nicht. Sie sahen sehr wohl, daß sie in Süditalien eine zu groß gewordene, allerdings ausgelaugte Macht vor sich hatten. Italien nämlich war zwischen den beiden Reichen aufgeteilt worden. Das lateinische Italien reichte fast bis Bari hinunter, daran schloß sich gen Süden das byzantinisch-griechische an.

Der Heilige Römische Kaiser und der Papst waren gern bereit, die de Hautevilles zu unterstützen, da sie den römisch-katholischen Einfluß in eine Region auszudehnen gedachten, die bisher Byzanz in religiöser Hinsicht kontrolliert hatte.

Als der Feldzug voranschritt, wurde jedoch deutlich, daß die Normannen nicht eine Pflicht gegenüber der Kirche erfüllen wollten, sondern vielmehr aus eigenem Interesse han¬delten. Sie wirkten in Italien immer mehr wie eine Truppe Banditen. Der Papst reiste in ihrem Land umher und beschwerte sich beim Kaiser, daß die Normannen »sich mit einer Pietätlosigkeit, die an Heiden heranreicht, gegen die Kirche Gottes erheben, Christen mit neuen und unbekannten Qualen zugrunde richten, weder Frauen noch Kinder noch Alte verschonen und keinen Unterschied zwischen dem machen, was heilig ist oder profan, Kirchen zerstören, sie niederbrennen und sie dem Erdboden gleichmachen. «

Der Papst und der Heilige Römische Kaiser erkannten, daß sie da einen Tiger am Schwanz hielten. 1053 zog der Papst selbst mit einer Armee in den Süden und wollte sich mit einer byzantinischen Armee verbinden, um die Normannen wieder in die Schranken zu verweisen. Der Papst erklärte sogar, daß dies ein Heiliger Krieg sei oder zumindest im Namen des »Erben von St. Peter« geführt würde.

Die de Hautevilles sahen all dies nicht als großes Problem an: Sie zerschlugen die päpst-lichen Armeen, bevor sie sich mit seinen byzantinischen Verbündeten vereinen konnten, nahmen den Papst als Gefangenen und drängten ihn dazu, ihnen nach reiflicher Über¬legung zuzustimmen, daß es eine feine Sache sei, wenn Normannen das südliche Italien kontrollierten. Tankreds Familie war vielleicht christlich, aber sie ließ nicht zu, daß der Glaube wichtige Angelegenheiten beeinflußte.

Die Herausforderung des östlichen Reiches

Indessen hatte sich eine Anzahl von Barbaren ihren Weg in das byzantinische Reich frei-geschlagen. Die Seldschuken hatten sich Zentralarmeniens bemächtigt und waren bei¬nahe bis zum Bosporus vorgedrungen.

Eurasiens riesige Steppenlandschaft hatte Horden von berittenen Kriegern hervorge¬bracht — und brachte sie weiterhin hervor — die mit der Zivilisation anstellen konnten, was sie wollten. Die Goten, Hunnen, Alanen und Vandalen — die Vorfahren der Franken, Deut¬schen, Lombarden und Spanier — stammten alle aus diesem immens großen Gebiet. Das Boll¬werk gegen diese Horden bildete der Kalif von Bagdad. Seine Macht hatte die Kluft zwischen dem Kaspischen Meer und dem Persischen Golf geschlossen und die Steppenreiter daran gehindert, westwärts zum Mittelmeer zu ziehen. Doch im elften Jahrhundert stand Bagdad vor dem Zerfall; der Korken vermoderte in der Flasche. Die Türken aus Zentralasien, die bereits ein Reich gegründet hatten, das sich vom Punj ab bis nach Ostpersien erstreckte, hat¬ten sich zum Islam bekannt, waren als Söldner des Kalifen in den Irak gezogen und hatten begonnen, nach weiter westlich gelegenen Möglichkeiten Ausschau zu halten.

Ein Stamm, der sich als Seldschuken bezeichnete, machte sich im Jahre 1055 zu Herren von Bagdad. In den folgenden fünfzehn Jahren drangen seine Krieger in Anatolien ein, und 1071 forderten sie die beeindruckendste Armee heraus, die das byzantinische Reich auf-bringen konnte. Sie schlugen die kaiserliche Armee in Manzikert vernichtend und nahmen den Kaiser als Gefangenen. Nichts konnte ihren Marsch auf Konstantinopel aufhalten.

Einer von Tankreds Großonkeln, Robert Guiscard, betrachtete dies als einmalige Gele-genheit. Er nahm seinen Sohn mit über die Adria, um seinen eigenen Streich gegen das byzantinische Reich zu führen. Als sorgender Vater wollte Guiscard die Zukunft seines Sohnes sichern. Und so beschloß er, ihm Griechenland zu geben. Alles, was er dafür zu tun hatte, war, es zu erobern.

Der Name seines Sohnes sollte für die nächsten Generationen durch die Geschichte der Kreuzzüge klingen: Bohemond.

Zum Glück für Byzanz war die Eroberung Griechenlands eine zu große Aufgabe für Robert und Bohemond, und als Guiscard 1085 starb, war ihr Ziel genauso weit entfernt wie je zuvor. Bohemond seinerseits richtete seine Aufmerksamkeit wieder verstärkt auf Süditalien.

Dort fanden andere Machtkämpfe statt, die einen kämpfenden Ritter wie Bohemond interessieren mußten. Der interessanteste Machtkampf war dabei der erbitterte Kon¬flikt zwischen dem Papst und seinem Möchtegern-Beschützer, dem Heiligen Römischen Kaiser.

Der Revolutionspapst

Es begann alles mit einem Mann — Papst Gregor VII. —, der Europas erster Revolu¬tionsführer werden sollte. Ehe er Papst wurde, war er mit der Abtei von Cluny in Zen¬tralfrankreich verbunden gewesen. Cluny hatte eine neue Art der Klosterbewegung begon¬nen und sich nicht nur dem Rückzug von der Welt verschrieben, sondern auch der Wiedererweckung der christlichen Gesellschaft in einer zentralisierten, autoritär ausge¬richteten Struktur unter dem Papst als Vizekönig Christi.

In einem Jahrhundert der entfesselten Gewalt und des Banditentums, in dem das Gesetz nur ein Instrument der Mächtigen war, sehnte man sich nach einer Art von Ordnung und ruhigem Leben. Viele Menschen, darunter eine große Anzahl von Rittern, begannen, die Kirchenreformer zu unterstützen, und zwar aus denselben Gründern, aus denen viele Menschen in Südamerika in den sechziger und siebziger Jahren unseres Jahrhunderts den Kommunismus unterstützten. Er bot das einzig glaubwürdige Programm, um Korruption und Gewalt, die die Menschen umgaben, ein Ende zu setzen.

Da ein Ritter gelernt hatte, Autorität hierarchisch zu verstehen, mit Herren, die über ihnen stehende Herren und wieder darüber stehende Oberherren besaßen, konnte er leicht die Autorität Christi als gegeben hinnehmen. Und da die Kirche das Sprachrohr Christi war, beharrte Papst Gregor VII. darauf, daß weltliche Herren, eingeschlossen der Kaiser, der Autorität und der Rechtsprechung der Kirche untertan waren. Am 8. Dezember 1075 stärkte Papst Gregor seinen Anspruch auf die alles überragen¬de Autorität auf Erden, indem er den Heiligen Römischen Kaiser mit Verdammnis drohte (also mit der Vernichtung seiner selbst und seiner Erben), wenn er nicht aufhörte, Bischö¬fe und Äbte zu ernennen. Dies, so beharrte Gregor, war Vorrecht der Kirche. Kaiser Hein¬rich beschuldigte ihn als »falschen Mönch«. Gregor exkommunizierte daraufhin den Kai¬ser, überantwortete ihn irdischer Verdammung und erklärte, daß er als König von Deutschland abgesetzt sei und ihm niemand mehr gehorchen müsse.

Dies erregte allenthalben Aufsehen: Nie zuvor war etwas Derartiges geschehen.

Der Kaiser wiederum erklärte zweitausend Kilometer von Rom entfernt, daß im Gegenteil Gregor derjenige sei, der abgesetzt sei. Jeder Herr der Kirche und des Staates im Westen mußte sich für eine Seite entscheiden. Der Kaiser verlor.

Der symbolische Moment des Sieges kam 1077, als Kaiser Heinrich IV. im einge¬schneiten Schloß von Canossa unterwürfig auf den Papst wartete und ihn um Absolution

bat. Von diesem Zeitpunkt an war klar, daß der Papst imstande war, die Macht des Kai¬sers zu beschränken. Die de Hautevilles, die immer bereit waren, die Kaiser zu schwächen, wurden plötzlich zu ernsthaften Unterstützern der organisierten Religion.

Nach einigen Jahren war Heinrich wieder auf dem Kriegspfad, und Gregor brauchte militärische Hilfe, wo immer er sie auch bekommen konnte. Obwohl Gregor ihn bereits

zweimal exkommuniziert hatte, zog Tankreds Großonkel Robert Guiscard im Namen des

Papstes in den Krieg. Als Gegenleistung erkannte Gregor Robert als Herzog von Apulien an. Zwei Jahre später, als Heinrich Rom besiegte, war es Robert, der dem Papst zu Hilfe

kam. Er befreite Gregor aus der Gefangenschaft und gab ihm seinen Thron zurück. Zur gleichen Zeit plünderten und verwüsteten seine Truppen Rom, und als die verzweifelten Menschen sich gegen sie erhoben, steckten die Normannen die Stadt in Brand und zer¬störten das gesamte Gebiet zwischen dem Kolosseum und dem Lateranpalast.

Papst Gregor war Rom wiedergegeben worden, doch seine Wohltäter hatten die Stadt zerstört, um dies zu bewerkstelligen. Verständlicherweise war Gregor bei den

Römern absolut unbeliebt; er konnte nicht bleiben, nachdem seine Beschützer abgezo¬gen waren, und starb in Salerno als Gast — wenn nicht sogar als Marionette — der de Hautevilles.

Nach Gregor folgte Papst Urban II., der wie Gregor ein Franke war, aus Cluny her-vorgegangen, und sich dem Reformprogramm und der Vorstellung vom Papst als erstem Monarchen verschrieben hatte. Es war Urban, der die Kreuzzüge anregen sollte. Dies frei¬lich hätte er niemals ohne die de Hautevilles geschafft.

Der Heilige Römische Kaiser kontrollierte Rom, und einige Jahre lang wanderte Papst Urban, abhängig von Verwandten der de Hautevilles, in Süditalien herum. 1093 brachten ihn Bohemond und sein Halbbruder mit militärischer Gewalt zurück nach Rom. Tatsäch- lich konnte Urban immer noch nicht in den Lateranpalast einziehen, und erst 1094 durfte er seinen Platz auf dem päpstlichen Thron einnehmen — dank Gott und ein klein bißchen gezielter Bestechung.

Tankreds Dilemma

Ungefähr zu dieser Zeit schickte die Familie Tankred zur Erziehung aus der Norman¬die nach Italien. Er kam ins Haus seines Onkels Bohemond nach Taranto. Dieser nahm ihn dann auch auf die Kreuzzüge mit.

Tankreds Biograph Radulph von Caen zeichnet ein interessantes Bild von der geistigen Verfassung dieses Mannes im Jahre 1096:

»Oft brannte er vor Sorge, denn das Kriegsgeschäft, an dem er als Ritter beteiligt war, schien den Befehlen Gottes zu widersprechen. Gott befahl ihm, die Wange, die geschlagen wurde, gemeinsam mit der anderen Wange seinem Gegner entgegenzu-halten, doch weltliche Ritter opfern nicht das Blut von Verwandten. Gott drängte ihn, seinen Mantel dem Mann zu reichen, der ihn wegnehmen wollte; die Gesetze des Krieges verlangten von ihm, einem Mann, der den Krieg bereits verloren hatte, alles wegzunehmen, was er noch besaß. Und so kam dieser weise Mann niemals zur Ruhe, da dieser Widerspruch ihm dem Mut nahm. «

 

Betrachtet man die Geschichte der de Hautevilles, muten solche Gewissensbisse überra¬schend an. Gewissensbisse waren schließlich nicht gerade ihre Stärke. Doch die Gefühle christlicher Sorge beschäftigten offenbar eine Reihe von Rittern und spielten in der För¬derung der Kreuzzüge denn auch eine große Rolle.

Es lohnt sich, die Worte von Radulph noch einmal zu lesen und sich von der Vorstel¬lung zu lösen, daß er ein schlechtes Gewissen beschreibt. Er tut es nicht. Er beschreibt den Zwiespalt eines Mannes mit zwei Herren, die ihm verschiedene Befehle geben. Der eine ist sein ritterlicher Herr, sein Feudalherr auf Erden, der ihm befiehlt, sich zu schlagen. Dies, so wird ihm gesagt, ist seine Aufgabe. Der andere ist sein Herr im Himmel, Christus, an der Spitze der Lehnshierarchie, der in seiner Bergpredigt eine Reihe ganz anderer Befehle gegeben hat.

Im Jahre 1095, dem Jahr nach seiner Thronbesteigung, erklärte Urban, wie die sich widersprechenden Ansprüche des Rittertums und der Kirche vereint werden konnten. Er hatte sich offenbar viele Gedanken zu diesem Thema gemacht und bot eine überaus origi¬nelle Lösung an: den Kreuzzug.

Aufruf zum Kreuzzug

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m Dienstag, den 27. November 1095, hielt Papst Urban die Rede, die Tankreds Leben veränderte. Urban hatte einen großen Rat nach Clermont in Zentralfrankreich einberufen, und die Nachricht hatte sich verbreitet, daß er am Ende des Treffens eine Erklärung abgeben wolle. Man war ungeheuer aufgeregt, und als der Tag da war, konnte die neue Kathedrale die Menge nicht aufnehmen. Der päpstliche Thron mußte auf einer Wiese aufgestellt werden.

Urban erklärte, daß er Abgesandte des Kaisers von Byzanz empfangen habe, die um Hilfe beim Zurückdrängen der Türken baten. Es mochte sein, daß die Botschafter die Dringlichkeit der Situation überzeichneten. Es mag sein, daß sie, da sie mit dem Papst sprachen, das Bedürfnis besonders unterstrichen, die Christen im Osten vor den heid¬nischen Moslems beschützen zu müssen. Was immer es war, sie beflügelten auf jeden Fall Urbans Phantasie — und et sollte im Gegenzug die Phantasie von ganz Europa be-flügeln.

Die Hilfe, die sich der Kaiser von Byzanz vorstellte, waren wahrscheinlich einige tau-send Söldner. Was Urban jedoch sah, war die Möglichkeit, sich selbst zum Retter der öst¬lichen Kirche zu machen und so seinem Ziel näherzukommen, die gesamte Kirche zu beherrschen. Anstatt also einige Briefe an die westlichen Freiherren zu schreiben und sie zu bitten, einige Truppen in den Osten zu schicken, stand der Papst auf seinem Podest auf, und sprach zu der riesigen Menschenmenge, die vor gespannter Erwartung schier vibrier¬te. Er gab eine Erklärung ab, die die Welt verändern sollte. Er rief alle christlichen Krieger im Namen der Kirche zu den Waffen, um ihre Brüder im Osten zu retten.

Er beschrieb mit irreleitenden Begriffen den Sieg der Seldschuken im christlich—byzan-tinischen Land:

»Sie haben die Christen beschnitten und das Blut von der Beschneidung auf den Altären vergossen oder es in die Taufbecken geschüttet. Und sie schneiden denjenigen die Bäuche auf, die sie mit einem schrecklichen Tod quälen wollen, zerren ihnen ihre lebenswichtigen Organe heraus und binden sie an einen Pfahl, sie stoßen sie herum und spießen sie auf, bevor sie sie töten. Mit herausgequollenen Eingeweiden liegen sie auf dem Boden. Manche binden sie an Pfähle und schießen mit Pfeilen auf sie, sie befehlen anderen, ihren Hals freizumachen, und greifen sie mit gezogenen Schwertern an, um zu sehen, ob sie ihre Köpfe mit einem einzigen Schlag abtrennen können. «

(Dies stammt zugegebenermaßen aus dem reißerischsten Bericht von Urbans Rede, der über¬liefert wurde — wir haben keine verläßliche Quelle dessen, was er tatsächlich gesagt hat.)

Indem er eine Armee unter dem Banner des Kreuzes versammelte, breitete der Papst sei¬nen Mantel über das gesamte Christentum aus. Dies war die zugrundeliegende Idee des revolutionären Papstes: Anstelle verschiedener örtlicher Kirchen inmitten einzelner Gemeinden gab es nun eine alles umfassende Kirche, die von einem überragenden Papst regiert wurde. Der Kreuzzug sollte dafür Ausdruck und Instrument sein.

Urbans Armee sollte auch Jerusalem befreien, das geistige — und daher körperliche —Zentrum des Universums. Er hoffte, daß das wiedergewonnene Jerusalem unmittelbar von der Kirche regiert werden würde.

Jeder Mann, der sich für den Kampf entschied, mußte sich durch das Tragen eines Kreuzes kenntlich machen und, wichtiger noch, schwören, daß er seinen Weg fortsetze, bis er Jerusalem erreicht habe.

Urbans Methode, eine Armee aufzustellen, war ganz und gar originell: Neben der Bezahlung konnte er noch das Paradies bieten — jedem, der am Kreuzzug teilnahm, wur¬den alle Sünden vergeben.

»Wer auch immer aus reiner Hingabe, und nicht wegen Ehre oder Geld, nach Jerusa¬lem geht, um die Kirche Gottes zu befreien, kann diese Reise gegen alle Buße eintau¬schen.«

Indem der Papst versprach, daß man durch die Ausführung einer militärisch-politi¬schen Aufgabe ein besserer Mensch würde und einem vergangene Sünden verziehen wür¬den, hatte er einen Weg gefunden, durch den jedermann die päpstliche Politik verinnerli¬chen konnte. Der Kampf für die Sache des Papstes gestaltete sich also nicht nur zu einer Verpflichtung — er sicherte einem sogar die Rechtschaffenheit. Diese Vorstellung löste eine riesige politische Aktion aus, sie gebar eine Ideologie und setzte den Kreuzzug in Bewe¬gung. Urban hingegen erkannte nicht einmal, welche Lawine er losgetreten hatte.

Die Kreuzritter des Papstes

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demar, der Bischof von Le Puy, erhob sich sofort und bat darum, am Feldzug teil¬nehmen zu dürfen. Zuvor hatten die Herren sich heimlich, still und leise darauf geei¬nigt, daß er Urbans Vertreter beim Aufbau des päpstlichen Monarchensitzes in Jerusalem sein sollte. Einige Tage später erklärten Kuriere von Raimund von Toulouse, er wolle mit vielen Gefolgsleuten mitziehen. Selbst schon fünfzig Jahre alt, erwartete er — wie die mei¬sten älteren Edelleute, die an dem Kreuzzug teilnahmen —, zum Anführer des Feldzuges ernannt zu werden. Urban jedoch wollte keinen Nichtgeistlichen in dieser Rolle sehen.

In den folgenden acht Monate bereiste der Papst Frankreich. Er ließ sich nur mit einer Krone auf dem Kopf blicken. Eine riesige Schar kirchlicher Würdenträger begleitete ihn und verkündete seine Nachricht immer wieder aufs neue. Anstelle des Königs, der den mei¬sten Menschen nur vom Abbild seines Kopfes auf Münzen her bekannt und fern der Wirk¬lichkeit war, sahen die Menschen hier den Vertreter Gottes auf Erden, der sie zu den Waf¬fen rief. Und sie konnten ihn fast berühren. Die Reaktion auf diesen Aufruf überstieg die kühnsten Erwartungen.

Der Adel strömte zusammen, um das Kreuz auf sich zu nehmen. Der jüngere Bruder des Königs von Frankreich, Hugh von Vermandois, erklärte sofort, daß er gehen wolle —wie Raimund von Toulouse hatte er in Spanien gegen die Moslems gekämpft und betrach¬tete dies als Fortführung jenes Waffenganges. Die Kreuzfahrer kamen selbst aus den Rei¬hen des Heiligen Römischen Kaisers; die Hauptgruppe formierte sich um die drei Brüder Gottfried de Bouillon, Herzog von Nieder-Lothringen, Eustach, Graf von Boulogne, und Balduin von Boulogne und ihrer Gefolgschaft.

Gottfried, der älteste der drei, war Mitte dreißig. Er sympathisierte mit Urbans Vor¬stellungen und nahm die Idee des Kreuzzuges wider die Ungläubigen begeistert auf. Er ver¬kaufte eine ganze Reihe von Ländereien und stattete so eine große Armee aus. Eustach war weniger begeistert, ließ sich aber von seinem Bruder mitreißen.

Balduin war von der Aussicht, in den Krieg zu ziehen, genauso angetan wie Gottfried. Ihn trieben jedoch ganz andere Beweggründe. Als jüngerer Sohn ohne Land war er in die Kirche gesteckt worden, hatte sich jedoch mit der Reformbewegung zerstritten und das Handtuch geworfen. Nun hatte er weder ein Auskommen noch Land, und so war der Kreuzzug die Gelegenheit für ihn, sich die Zukunft zu sichern.

In der Normandie hörten sowohl der älteste Sohn von William dem Eroberer, Robert, der Herzog der Normandie, als auch seine Tochter Adela gern auf Urbans Ruf. Robert ver¬äußerte sein Herzogtum an seinen Bruder, William Rufus, den König von England, um seine Armee zu bezahlen, während Adela einfach ihrem zögerlichen Ehemann Stefan von Blois erklärte, er müsse sich dem Plan einfach anschließen — und damit basta, keine Wider¬rede.

Tankreds Wiedergeburt

D

ie in Süditalien beschäftigten Normannen zeigten indes bedeutend weniger Interesse, im Heiligen Land die Schwerter zu kreuzen. Bohemond und Roger Borsa waren im Sommer 1096 eher damit beschäftigt, eine Rebellion in der Handelsstadt Amalfi nieder¬zuschlagen, und an der Seite Bohemonds stand Tankred. Sie lagerten gerade in den Bergen vor der Stadt, bereit zu einer äußerst langwierigen und langweiligen Belagerung, als Grup¬pen bewaffneter Männer mit roten Kreuzen auf ihren Schilden vorbeizogen: Auf nach Byzanz! Zufällig war Tankreds Bruder William unter ihnen und so erfuhr Tankred, wie der Heilige Vater, Papst Urban, sich aus einem Zwiespalt befreite — und diese Lösung bot sich nun auch ihm an.

Tankreds Problem war im Grunde simpel gewesen. Töten war die Pflicht eines Ritters, aber in den Augen der Kirche war Töten falsch. Als die Normannen in der Schlacht von Hastings Engländer getötet hatten, hatten sie eine Sünde begangen und mußten Buße dafür tun. Doch nun erklärte der Papst, daß Töten nicht unbedingt eine Sünde sein mußte. Man konnte differenzieren: Es hing nämlich davon ab, wen man tötete. Wenn man die Feinde Christi tötete, brauchte man noch nicht einmal Buße zu tun — das Töten selbst war schon die Buße. Das heilige Gemetzel konnte eine genauso wirkungsvolle Betätigung sein wie das Gebet oder Fasten oder eine Pilgerreise.

»Bis jetzt habt ihr ungerechte Kriege gekämpft: Ihr habt oft schonungslos eure Speere aus Gier und Stolz metzelnd aufeinander gerichtet, wofür ihr die immer-währende Zerstörung und das sichere Verderben der Verdammnis verdient! Nun bieten wir euch an, daß ihr Kriege kämpft, die die herrliche Befreiung des Marty-riums bedeuten, in denen ihr jetzigen und ewigen Ruhm erlangen könnt.«

Oder, wie ein Bericht es ausdrückte: »Soldaten der Hölle — werdet zu Soldaten des leben¬digen Gottes!« Tankred erkannte plötzlich — glaubt man Radulph von Caen —, daß alle seine Probleme gelöst waren: »Jetzt endlich, als hätten sie vorher geschlafen, erwachten seine Lebensgeister, seine Kräfte wuchsen, seine Augen öffneten sich, sein Mut wurde geboren.«

Der Papst hatte auch auf die Bedeutung der Errettung Jerusalems vor den Heiden hin-gewiesen. Er scheint gesagt zu haben, daß Rettung gleichbedeutend mit Eroberung war.

»Das Land, das ihr bewohnt, ist von allen Seiten vom Meer eingeschlossen, umringt von Bergketten und übervölkert von euch selbst... Dies ist der Grund, weswegen ihr gegeneinander kämpft, Kriege führt und euch sogar tötet... laßt alle diese Strei-tigkeiten beiseite. Nehmt den Weg zum Heiligen Grab, befreit das Land von einer schrecklichen Rasse und herrscht selbst darüber. «

Plötzlich änderte die Idee der Kreuzzüge auch die Vorstellungswelt der Normannen. Im Oktober 1096, ein Jahr nach dem Aufruf des Papstes, verließ Bohemond die Belagerung von Amalfi und führte eine große und mächtige Armee über die Adria. Unter seinem Gefolge befand sich Tankred.


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