Mittwoch, 5. August 2015

Bergwandern in den Ötztaler Alpen


Bergwandern in den Ötztaler Alpen

Authgor D.Selzer-McKenzie

Video: http://youtu.be/lJZNlGp4I-0

„Immer oben entlang" lautet das Motto einer hochalpinen Mehrtagestour von Hütte zu Hütte im hintersten Ötztal. Dort finden Bergsteiger eine faszinierende Landschaft, klassische Dreitausender und urgemütliche Hütten in außergewöhnlicher Lage.

Faszination Berge? Wer sich je diese Frage stellt, der braucht nur vom grünen Obergurgl auf die grell leuchtenden Schneehänge des Schalfkogels im Talschluss zu schauen. Und wer immer noch zweifelt, schwebt

 

mit der Gondelbahn auf die Hohe Mut und sieht spätestens dort die Antwort: Ein sanfter Wiesenrücken reckt sich zwischen die Kerben von Gaisbergtal und Rotmoos-tal, überragt von Felsgipfeln, Schneefel¬dern und Gletschern. Ein klassisches Post-

 

kartenmotiv. Die Hohe Mut zählt zu den Top-Aussichtsbergen Österreichs - allein 21 Dreitausender sind von hier aus zu se¬hen - und lässt auch Wanderer die Faszi¬nation Berge auf einfachen Wegen haut¬nah erleben.

Die Hohe Mut ist aber auch Startpunkt eines außergewöhnlichen alpinen Unter¬nehmens. Auf der fünftägigen Obergurgler Hüttenrunde - sobald die durch Lawinen beschädigte Stettiner Hütte wieder aufge¬baut ist, kann die Runde auf sechs Tage verlängert werden - wird der Obergurgler Talschluss im Uhrzeigersinn umrundet. Auf einsamen Steigen und Pfaden, häufig sogar im weglosen Gelände. Auf ausge¬dehnten Gletschern und teils anspruchs¬voll über einige der bekanntesten Ötztaler Dreitausender hinweg. Eine Tour für geüb¬

 

te Bergsteiger - oder gleich in Begleitung eines Bergführers. Ein Weg in die Stille der Ötztaler Alpen, die hier vollkommen un¬berührt sind und sich durch den Glet¬scherrückgang stetig ändern.

Purer Genuss ist der Auftakt. Wie auf ei¬ner Promenade wandert man auf dem grü¬nen Aussichtsrücken der Hohen Mut. Über dem Rotmoosferner ist bereits die Scharte zu sehen, die den Übergang zur Zwickauer Hütte und damit nach Südtirol ermöglicht. Keine vier Stunden benötigt man für die Etappe, doch wer länger braucht, hat alles richtig gemacht. Die Blumen-Farbenpracht am Wegrand bewundern, im gerade erst von den Gletschern freigegebenen Schutt nach Kristallen suchen, einen Steinmann bauen - so stimmt man sich angemessen auf die Gurgler Hüttenrunde ein und schont obendrein die Kraftreserven.

Die Zwickauer Hütte thront auf einem Felsabsatz hoch über dem Pfelderstal und wird seit fünf Jahren von Heinz Leitner be-wirtschaftet. Ein Südtiroler Original, das ei-gentlich nur aus Jux Hüttenpächter gewor¬den ist, mit wallendem Haar und Vollbart nicht ganz unähnlich seinem Landsmann Reinhold Messner - oder, wie Heinz sagt: „Er hat Glück, dass er mir etwas gleicht" ¬und hoch über dem Tal sein Paradies gefun¬den hat: „Ich fühle mich hier sauwohl." Das spüren auch die Gäste, die er bestens um-und versorgt. Mit Schweinsbraten („Den besten Braten von der Sau gibt's auf der Hütte von Zwickau") und anderen Südtiro¬ler Schmankerin - und an guten Tagen auch mit Musik. Aber aufgepasst: Wenn Heinz nach der Küchenarbeit zur Gitarre greift und den Zwickauer Hüttenblues an¬stimmt, dann könnte es spät werden ...

Steil und unnahbar präsentiert sich di-rekt über der Zwickauer Hütte ihr Haus¬berg, der Hintere Seelenkogel. Ein echter Grenzgipfel. Doch das Bergauf ist gar nicht

Wer länger als die ange-

gebenen vier Stunden braucht,

hat alles richtig gemacht.

schwer, ein gut angelegter Steig führt ent¬lang des Grates aufwärts. Nach fünfhundert anstrengenden Höhenmetern ist der Gipfel erreicht und man wechselt von Südtirol zu¬rück nach Tirol - und damit vom Fels ins Eis. Der Abstieg zur Langtalereckhütte ist geradezu typisch für den Charakter der Gurgler Hüttenrunde und ein Gang durch die Gletschergeschichte des Ötztals. An den markanten Seitenmoränen ist deutlich zu sehen, wie mächtig die Gletscher Mitte des19. Jahrhunderts waren. Eindrucksvoll sind die Reste noch immer, aber im Vergleich zu früher nur ein kläglicher Rest. So wechselt man nach dem Abstieg über den Seelenfer¬ner schnell auf kargen Schutt, der erst vor einigen Jahren freigeschmolzen ist.

Wo sich das Eis gerade erst zurückgezo¬gen hat, da gibt es keine Wege. Nur verein¬zelt Steinmänner als Orientierung, mal klein, mal groß, jeder ganz individuell auf¬geschichtet und so verschieden wie das Ge¬stein: bunt und vielgestaltig. Mal wunder¬bar gleichmäßiger Schutt, dann lockeres und mühsam zu querendes Geröll, schlie߬lich quadratmetergroße Platten, mal wild zusammengewürfelt, dann wie gepflastert. Und dazwischen zartes Grün. Kaum ist das Eis weg, erobern die ersten Pionierpflanzen das neue Terrain. Weiter unten werden die Trittspuren deutlicher, ein Pfad wird er¬kennbar Eis weg, erobern die ersten Pionierpflanzen das neue Terrain. Weiter unten werden die Trittspuren deutlicher, ein Pfad wird er¬kennbar, der von der Ötztaler Familie Gufler seit vielen Jah¬ren perfekt geführt wird: Im Sommer 2015

 

feierten Sigmund und Melitta Gufler vier¬zig Jahre Langtalereckhütte. Und ein Jahr zuvor dreißig Jahre Hochwildehaus, denn auch diese Hütte wird von ihnen bewirt-

schaftet. Offiziell hat längst ihr Sohn Ge-org die Pacht übernommen, doch die El-tern - und bei Hochbetrieb auch Georgs Geschwister - helfen unverändert mit.

 

Fleisch und Wurst kommen vom eigenen Hof. Schade, dass im Sommer so wenig Gäs¬te kommen, „der E5 zieht alles ab"; auch der 2012 gebaute Schwärzenkamm-Kletter-steig bringt nur Tagestouristen.

Vielleicht bringt die Obergurgler Hüt-tenrunde Aufwind für die Übernachtungs¬zahlen. Das Zeug zum Klassiker hätte sie, schließlich klappert sie die bekanntesten Dreitausender über Obergurgl ab. Ein Hö¬hepunkt ist die Überschreitung der Hohen Wilde. Die anspruchsvolle Tour fängt ge¬mütlich an, flach taleinwärts auf die apere Gletscherzunge des Langtaler Ferners, der mit rund fünf Kilometer Länge seinem Na¬men gerecht wird. Blankes Eis, hier und da mit Schutt und Felsblöcken bedeckt, da¬zwischen dünne Rinnsale aus Schmelzwas¬ser und kleine oder große Löcher: Glet¬schermühlen, in denen das Schmelzwasser verschwindet, bis es am Gletschertor mun¬ter wieder ins Freie sprudelt.

Nach oben hin steilt sich der Ferner auf, ein paar Spaltenzonen sind erkennbar, doch nach dem schneereichen Winter 2013/2014 ist alles noch gut eingeschneit. Und der Neuschnee bestens durchgefro¬ren, so dass man kraftsparend durch die Gletscherwelt auf die Abbrüche der Ho¬hen Wilde zu spaziert. Der schmale, zacki¬ge Verbindungsgrat schaut gar nicht so leicht aus. Doch alles löst sich in Wohlge-fallen auf. Am Fuß des Gipfelaufbaus trifft man auf den von der Stettiner Hütte kom¬menden Steig, der entlang der Grenze zu Südtirol teilweise gesichert überraschend problemlos auf die Südliche Hohe Wilde führt. Der Übergang zum Nordgipfel ist dank straff gespanntem Drahtseil eine kurzweilige Turnerei in luftiger Höhe, und auch beim kurzen Abstieg auf den Gurgler Ferner helfen Drahtseile.

Der Abstieg am Gurgler Ferner bietet fast arktische Ausblicke über ausgedehnte Schnee- und Eisflächen. Tendenz schwin¬dend. Der Gletscherlappen östlich des Mit-terkamms ist heute nur noch durch eine schmale Eiszunge mit dem Hauptglet-scher verbunden, die Eisverbindung unter¬halb des Kamms ist Geschichte. Und bei den vielen Schmelzwasserbächen nördlich

 

Gurgler Hüttenrunde

Anspruchsvolle Mehrtagestour von Hütte zu Hütte, bei der mehrere Dreitausender über¬schritten werden. Komplette Gletscheraus¬rüstung erforderlich, die Gipfelanstiege sind hier und da mit Drahtseilen gesichert und für geübte Bergsteiger problemlos, bei Neu¬schnee oder Vereisung dagegen sehr anspruchsvoll.

BESTE ZEIT: Ende Juni bis Mitte September.

ANREISE: Mit der Bahn bis Ötztal-Bahnhof, dann Bus nach Obergurgl.:: bahn.de, Noetztalerbus.at

Mit dem Auto durch das Inntal zur Auto¬bahn-Ausfahrt Ötztal/Haiming und durch das Ötztal nach Obergurgl, Parkmöglichkeit bei der Talstation der Festkogelbahn.

DIE ETAPPEN

1)        Obergurgl (1910 m) — mit der Gondelbahn auf die Hohe Mut (2640 m) — Rotmoos-joch (3055 m) — Zwickauer Hütte (2980 m), 550 Hmt 200 Hml, 31/2- 4 Std.

2)        Zwickauer Hütte — Hinterer Seelenkogel (3472 m) — Langtalereckhütte (2430 m), 630 Hmt 1180 Hrrd, 414-5 Std.

3)        Langtalereckhütte — Südl. Hohe Wilde (3482 m) — Nördl. Hohe Wilde (3461 m) — Hochwildehaus (2866 m), 1230 Hmt 790 Hm j„ 7-8 Std.

4)        Hochwildehaus — Schalfkogel (3540 m) — Ramolhaus (3006 m), 830 Hmt 715 Hrra, 6-7 Std.

5)        Ramolhaus — Nördl. Ramolkogel (Anich-

spitze, 3428 m) — Obergurgl, Aufstieg 520

Hmt Abstieg 1580 Hm J.,          - 6 7, Std.

des Annakogels bekommt man leicht nas¬se Füße. In den ausgedehnten Geröllfel-dem unterhalb des Gletschers hat sich ein See gebildet, in dem sich der Schalfkogel spiegelt. Wie in einer Oase steht ein Stück weiter das Hochwildehaus auf einem traumhaften Platz inmitten der Ötztaler Dreitausender. Seit der' Hüttenwirt Sigi Gufler eine Terrasse gebaut hat, sitzen die Leute bis zum Sonnenuntergang draußen und keiner kommt mehr pünktlich zum Abendessen rein.

Die Erwärmung verändert nicht nur das Gesicht der Berge, sie schafft auch Probleme. Das Fundament des 1939 erbauten Hochwildehauses ist durch das Auftauen des Permafrostes instabil geworden. Die südliche Giebelwand wurde 2014 mit ei¬nem Holzgerüst stabilisiert, sonst hätte man zusperren müssen. Sigi leidet mit der Hütte - und mit den Gletschern. „Im Som¬mer 2003 sind acht bis zehn Meter Eis ge-schmolzen, erinnert er sich, „da konntest du fast zuschauen; es war, als ob man ei¬nen Schneeball auf eine Herdplatte schmeißen würde7 Die Gletscher schmel¬zen, dasregelmäßig nach dem Wasser schauen, da¬mit ich nicht auf dem Trockenen sitze:`

Am Hochwildehaus ist der Gurgler Fer-ner zum Greifen nah, doch die wahre Aus¬dehnung dieses Riesengletschers sieht man erst von gegenüber. Etwa vom Anstieg zum Schalfkogel. Der früher übliche Nmmalweg hat sich durch den Gletscherrückgang ver¬längert, heute wählen viele eine neue Route, die weiter links über ein Schneeband auf¬wärts führt und dann zur Zunge des Klein-leitenferners zieht. Mit jedem Meter berg-auf weitet sich der Blick über den gut zehn Kilometer langen Gurgler Ferner, der vom nasskalten Sommer 2014 profitierte - der aktuelle Gletscherbericht verzeichnet eine Längenänderung von plus eineinhalb Me¬tern. Ein Flöckchen aufs heiße Eis, aber ein Trost angesichts des starken Rückgangs in den letzten Jahren, der den direkten Über- gang vom Hochwilde- zum Ramolhaus im¬mer mühsamer macht.

Die alpine Variante über den Schalfkogel wird selten begangen, obwohl sie bergstei-gerisch absolut lohnend ist. In weitem Bo¬gen umgeht der Anstieg die Spaltenzonen

Auf dem glatt geschliffenen

Fels-Aussichtsbalkon darf man

sich den Weg selbst suchen.

des Kleinleitenferners und erreicht dann das Gipfelkreuz auf einem Grat aus Schnee und Felsen. Der Schalfkogel ist ein fantas¬tischer Aussichtsberg inmitten der Ötzta¬ler Dreitausender, von Obergurgl aus mit seinen leuchtend weißen Schneefeldern nicht zu übersehen. Und im Gegensatz zu Seelenkogel und Hoher Wilde gibt es hier keinen angelegten oder gesicherten Steig.

 

Dafür beim Abstieg einen eleganten Firn-grat ins Joch nördlich des Gipfels, wo man die Wahl hat: direkt über den Gletscher ¬oder viel spannender weiter entlang des Grates. Leichte Felspassagen wechseln sich ab mit kurzen Schneefeldern und einemschönen Firngrat, dann steigt man vor dem Anstieg zur Firmisanschneide ostsei¬tig über die Gletscherreste ab zur Terrasse der Fernerbänke. Ein perfekter Aussichts¬balkon mit mächtigen, einst vom Gletscher glatt geschliffenen Felsrücken, Schnee und Geröll, auf dem man sich mit Blick auf die Gipfel der letzten Tage selbst den Weg sucht.

Auf dem 1881 erbauten Ramolhaus klingt die Tourenwoche aus. Die Hütte thront in 3006 Meter Höhe auf einem der schönsten Aussichtsplätze der Ostalpen: einem Fels¬rücken mit Blick auf den Gurgler Ferner. Seit 1921 gehört sie der Sektion Hamburg, 2006 wurde sie zum 125-Jahr-Jubiläum komplett runderneuert und modernisiert. Seit zehn Jahren kümmert sich Alfred Kö¬nig, ein gelernter Koch, um die Gäste. „Ich wollte nicht bis zu meinem Lebensende in

 

Höhepunkte verschiedenster Art: Firn- und Felsgrate beim Abstieg vom Schalfkogel; Rückblick zum Gurgler Ferner vom Ramolhaus im Morgenlicht; Knieschnackler-Schien-dern bis ganz hinunter ins Ötztal.

einer Hotelküche arbeiten", begründet er den Wechsel vom Tal auf den Berg, „hier oben bin ich mein Cher Mit allen Vor- und Nachteilen. „2013 hatten wir einen Bom¬bensommer", erinnert er sich, „2014 war es dagegen mühsam, viele Tagesgäste kom¬men bei dem schlechten Wetter gar nicht. Da bleibt Zeit zum Putzen, Vorkochen, Portionieren und Einfrieren:

Mit einem Sonnenaufgang wie aus dem Bilderbuch startet der letzte Tag. Während sich Alfred auf die Tagesgäste vorbereitet - „die ,3' bei der Höhe zieht die Leute ein¬fach an" - genießen die Übernachtungs¬gäste die Morgenstimmung und steigen nach einem Abstecher auf den Nördlichen Ramolkogel - den letzten Dreitausender einer ausgefüllten Tourenwoche - ab nach Obergurgl; zurück ins Grüne. Die letzten Tage bestimmten Eis, Schnee und Fels das Bild, nun nimmt mit jedem Meter talwärts die Farbenpracht zu. Überall grünt und blüht es, das Wasser plätschert, im kleinen Tümpel am Wegrand spiegelt sich die Son¬ne. Und im Hintergrund erheben sich die vergletscherten Dreitausender über dem Gurgler Talschluss mit dem Schalfkogel im Mittelpunkt - Faszination Berge

 

 

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