Bergwandern in den Ötztaler Alpen
Authgor D.Selzer-McKenzie
Video: http://youtu.be/lJZNlGp4I-0
„Immer oben entlang" lautet das Motto einer hochalpinen
Mehrtagestour von Hütte zu Hütte im hintersten Ötztal. Dort finden Bergsteiger
eine faszinierende Landschaft, klassische Dreitausender und urgemütliche Hütten
in außergewöhnlicher Lage.
Faszination Berge? Wer sich je diese Frage stellt, der
braucht nur vom grünen Obergurgl auf die grell leuchtenden Schneehänge des
Schalfkogels im Talschluss zu schauen. Und wer immer noch zweifelt, schwebt
mit der Gondelbahn auf die Hohe Mut und sieht spätestens
dort die Antwort: Ein sanfter Wiesenrücken reckt sich zwischen die Kerben von
Gaisbergtal und Rotmoos-tal, überragt von Felsgipfeln, Schneefel¬dern und
Gletschern. Ein klassisches Post-
kartenmotiv. Die Hohe Mut zählt zu den Top-Aussichtsbergen
Österreichs - allein 21 Dreitausender sind von hier aus zu se¬hen - und lässt
auch Wanderer die Faszi¬nation Berge auf einfachen Wegen haut¬nah erleben.
Die Hohe Mut ist aber auch Startpunkt eines
außergewöhnlichen alpinen Unter¬nehmens. Auf der fünftägigen Obergurgler
Hüttenrunde - sobald die durch Lawinen beschädigte Stettiner Hütte wieder
aufge¬baut ist, kann die Runde auf sechs Tage verlängert werden - wird der
Obergurgler Talschluss im Uhrzeigersinn umrundet. Auf einsamen Steigen und
Pfaden, häufig sogar im weglosen Gelände. Auf ausge¬dehnten Gletschern und
teils anspruchs¬voll über einige der bekanntesten Ötztaler Dreitausender
hinweg. Eine Tour für geüb¬
te Bergsteiger - oder gleich in Begleitung eines
Bergführers. Ein Weg in die Stille der Ötztaler Alpen, die hier vollkommen
un¬berührt sind und sich durch den Glet¬scherrückgang stetig ändern.
Purer Genuss ist der Auftakt. Wie auf ei¬ner Promenade
wandert man auf dem grü¬nen Aussichtsrücken der Hohen Mut. Über dem
Rotmoosferner ist bereits die Scharte zu sehen, die den Übergang zur Zwickauer
Hütte und damit nach Südtirol ermöglicht. Keine vier Stunden benötigt man für
die Etappe, doch wer länger braucht, hat alles richtig gemacht. Die Blumen-Farbenpracht
am Wegrand bewundern, im gerade erst von den Gletschern freigegebenen Schutt
nach Kristallen suchen, einen Steinmann bauen - so stimmt man sich angemessen
auf die Gurgler Hüttenrunde ein und schont obendrein die Kraftreserven.
Die Zwickauer Hütte thront auf einem Felsabsatz hoch über
dem Pfelderstal und wird seit fünf Jahren von Heinz Leitner be-wirtschaftet.
Ein Südtiroler Original, das ei-gentlich nur aus Jux Hüttenpächter gewor¬den
ist, mit wallendem Haar und Vollbart nicht ganz unähnlich seinem Landsmann
Reinhold Messner - oder, wie Heinz sagt: „Er hat Glück, dass er mir etwas
gleicht" ¬und hoch über dem Tal sein Paradies gefun¬den hat: „Ich fühle
mich hier sauwohl." Das spüren auch die Gäste, die er bestens um-und
versorgt. Mit Schweinsbraten („Den besten Braten von der Sau gibt's auf der
Hütte von Zwickau") und anderen Südtiro¬ler Schmankerin - und an guten
Tagen auch mit Musik. Aber aufgepasst: Wenn Heinz nach der Küchenarbeit zur
Gitarre greift und den Zwickauer Hüttenblues an¬stimmt, dann könnte es spät
werden ...
Steil und unnahbar präsentiert sich di-rekt über der
Zwickauer Hütte ihr Haus¬berg, der Hintere Seelenkogel. Ein echter Grenzgipfel.
Doch das Bergauf ist gar nicht
Wer länger als die ange-
gebenen vier Stunden braucht,
hat alles richtig gemacht.
schwer, ein gut angelegter Steig führt ent¬lang des Grates
aufwärts. Nach fünfhundert anstrengenden Höhenmetern ist der Gipfel erreicht
und man wechselt von Südtirol zu¬rück nach Tirol - und damit vom Fels ins Eis.
Der Abstieg zur Langtalereckhütte ist geradezu typisch für den Charakter der
Gurgler Hüttenrunde und ein Gang durch die Gletschergeschichte des Ötztals. An
den markanten Seitenmoränen ist deutlich zu sehen, wie mächtig die Gletscher
Mitte des19. Jahrhunderts waren. Eindrucksvoll sind die Reste noch immer, aber
im Vergleich zu früher nur ein kläglicher Rest. So wechselt man nach dem
Abstieg über den Seelenfer¬ner schnell auf kargen Schutt, der erst vor einigen
Jahren freigeschmolzen ist.
Wo sich das Eis gerade erst zurückgezo¬gen hat, da gibt es
keine Wege. Nur verein¬zelt Steinmänner als Orientierung, mal klein, mal groß,
jeder ganz individuell auf¬geschichtet und so verschieden wie das Ge¬stein:
bunt und vielgestaltig. Mal wunder¬bar gleichmäßiger Schutt, dann lockeres und
mühsam zu querendes Geröll, schlie߬lich quadratmetergroße Platten, mal wild
zusammengewürfelt, dann wie gepflastert. Und dazwischen zartes Grün. Kaum ist
das Eis weg, erobern die ersten Pionierpflanzen das neue Terrain. Weiter unten
werden die Trittspuren deutlicher, ein Pfad wird er¬kennbar Eis weg, erobern
die ersten Pionierpflanzen das neue Terrain. Weiter unten werden die
Trittspuren deutlicher, ein Pfad wird er¬kennbar, der von der Ötztaler Familie
Gufler seit vielen Jah¬ren perfekt geführt wird: Im Sommer 2015
feierten Sigmund und Melitta Gufler vier¬zig Jahre
Langtalereckhütte. Und ein Jahr zuvor dreißig Jahre Hochwildehaus, denn auch
diese Hütte wird von ihnen bewirt-
schaftet. Offiziell hat längst ihr Sohn Ge-org die Pacht
übernommen, doch die El-tern - und bei Hochbetrieb auch Georgs Geschwister -
helfen unverändert mit.
Fleisch und Wurst kommen vom eigenen Hof. Schade, dass im
Sommer so wenig Gäs¬te kommen, „der E5 zieht alles ab"; auch der 2012
gebaute Schwärzenkamm-Kletter-steig bringt nur Tagestouristen.
Vielleicht bringt die Obergurgler Hüt-tenrunde Aufwind für
die Übernachtungs¬zahlen. Das Zeug zum Klassiker hätte sie, schließlich
klappert sie die bekanntesten Dreitausender über Obergurgl ab. Ein Hö¬hepunkt
ist die Überschreitung der Hohen Wilde. Die anspruchsvolle Tour fängt
ge¬mütlich an, flach taleinwärts auf die apere Gletscherzunge des Langtaler
Ferners, der mit rund fünf Kilometer Länge seinem Na¬men gerecht wird. Blankes
Eis, hier und da mit Schutt und Felsblöcken bedeckt, da¬zwischen dünne Rinnsale
aus Schmelzwas¬ser und kleine oder große Löcher: Glet¬schermühlen, in denen das
Schmelzwasser verschwindet, bis es am Gletschertor mun¬ter wieder ins Freie
sprudelt.
Nach oben hin steilt sich der Ferner auf, ein paar
Spaltenzonen sind erkennbar, doch nach dem schneereichen Winter 2013/2014 ist
alles noch gut eingeschneit. Und der Neuschnee bestens durchgefro¬ren, so dass
man kraftsparend durch die Gletscherwelt auf die Abbrüche der Ho¬hen Wilde zu
spaziert. Der schmale, zacki¬ge Verbindungsgrat schaut gar nicht so leicht aus.
Doch alles löst sich in Wohlge-fallen auf. Am Fuß des Gipfelaufbaus trifft man
auf den von der Stettiner Hütte kom¬menden Steig, der entlang der Grenze zu
Südtirol teilweise gesichert überraschend problemlos auf die Südliche Hohe
Wilde führt. Der Übergang zum Nordgipfel ist dank straff gespanntem Drahtseil
eine kurzweilige Turnerei in luftiger Höhe, und auch beim kurzen Abstieg auf
den Gurgler Ferner helfen Drahtseile.
Der Abstieg am Gurgler Ferner bietet fast arktische
Ausblicke über ausgedehnte Schnee- und Eisflächen. Tendenz schwin¬dend. Der
Gletscherlappen östlich des Mit-terkamms ist heute nur noch durch eine schmale
Eiszunge mit dem Hauptglet-scher verbunden, die Eisverbindung unter¬halb des
Kamms ist Geschichte. Und bei den vielen Schmelzwasserbächen nördlich
Gurgler Hüttenrunde
Anspruchsvolle Mehrtagestour von Hütte zu Hütte, bei der
mehrere Dreitausender über¬schritten werden. Komplette Gletscheraus¬rüstung
erforderlich, die Gipfelanstiege sind hier und da mit Drahtseilen gesichert und
für geübte Bergsteiger problemlos, bei Neu¬schnee oder Vereisung dagegen sehr
anspruchsvoll.
BESTE ZEIT: Ende Juni bis Mitte September.
ANREISE: Mit der Bahn bis Ötztal-Bahnhof, dann Bus nach
Obergurgl.:: bahn.de, Noetztalerbus.at
Mit dem Auto durch das Inntal zur Auto¬bahn-Ausfahrt
Ötztal/Haiming und durch das Ötztal nach Obergurgl, Parkmöglichkeit bei der
Talstation der Festkogelbahn.
DIE ETAPPEN
1) Obergurgl
(1910 m) — mit der Gondelbahn auf die Hohe Mut (2640 m) — Rotmoos-joch (3055 m)
— Zwickauer Hütte (2980 m), 550 Hmt 200 Hml, 31/2- 4 Std.
2) Zwickauer
Hütte — Hinterer Seelenkogel (3472 m) — Langtalereckhütte (2430 m), 630 Hmt
1180 Hrrd, 414-5 Std.
3) Langtalereckhütte
— Südl. Hohe Wilde (3482 m) — Nördl. Hohe Wilde (3461 m) — Hochwildehaus (2866
m), 1230 Hmt 790 Hm j„ 7-8 Std.
4) Hochwildehaus
— Schalfkogel (3540 m) — Ramolhaus (3006 m), 830 Hmt 715 Hrra, 6-7 Std.
5) Ramolhaus —
Nördl. Ramolkogel (Anich-
spitze, 3428 m) — Obergurgl, Aufstieg 520
Hmt Abstieg 1580 Hm J., -
6 7, Std.
des Annakogels bekommt man leicht nas¬se Füße. In den
ausgedehnten Geröllfel-dem unterhalb des Gletschers hat sich ein See gebildet,
in dem sich der Schalfkogel spiegelt. Wie in einer Oase steht ein Stück weiter
das Hochwildehaus auf einem traumhaften Platz inmitten der Ötztaler
Dreitausender. Seit der' Hüttenwirt Sigi Gufler eine Terrasse gebaut hat,
sitzen die Leute bis zum Sonnenuntergang draußen und keiner kommt mehr
pünktlich zum Abendessen rein.
Die Erwärmung verändert nicht nur das Gesicht der Berge, sie
schafft auch Probleme. Das Fundament des 1939 erbauten Hochwildehauses ist
durch das Auftauen des Permafrostes instabil geworden. Die südliche Giebelwand
wurde 2014 mit ei¬nem Holzgerüst stabilisiert, sonst hätte man zusperren
müssen. Sigi leidet mit der Hütte - und mit den Gletschern. „Im Som¬mer 2003
sind acht bis zehn Meter Eis ge-schmolzen, erinnert er sich, „da konntest du
fast zuschauen; es war, als ob man ei¬nen Schneeball auf eine Herdplatte
schmeißen würde7 Die Gletscher schmel¬zen, dasregelmäßig nach dem Wasser
schauen, da¬mit ich nicht auf dem Trockenen sitze:`
Am Hochwildehaus ist der Gurgler Fer-ner zum Greifen nah,
doch die wahre Aus¬dehnung dieses Riesengletschers sieht man erst von
gegenüber. Etwa vom Anstieg zum Schalfkogel. Der früher übliche Nmmalweg hat
sich durch den Gletscherrückgang ver¬längert, heute wählen viele eine neue
Route, die weiter links über ein Schneeband auf¬wärts führt und dann zur Zunge
des Klein-leitenferners zieht. Mit jedem Meter berg-auf weitet sich der Blick
über den gut zehn Kilometer langen Gurgler Ferner, der vom nasskalten Sommer
2014 profitierte - der aktuelle Gletscherbericht verzeichnet eine
Längenänderung von plus eineinhalb Me¬tern. Ein Flöckchen aufs heiße Eis, aber
ein Trost angesichts des starken Rückgangs in den letzten Jahren, der den
direkten Über- gang vom Hochwilde- zum Ramolhaus im¬mer mühsamer macht.
Die alpine Variante über den Schalfkogel wird selten
begangen, obwohl sie bergstei-gerisch absolut lohnend ist. In weitem Bo¬gen
umgeht der Anstieg die Spaltenzonen
Auf dem glatt geschliffenen
Fels-Aussichtsbalkon darf man
sich den Weg selbst suchen.
des Kleinleitenferners und erreicht dann das Gipfelkreuz auf
einem Grat aus Schnee und Felsen. Der Schalfkogel ist ein fantas¬tischer
Aussichtsberg inmitten der Ötzta¬ler Dreitausender, von Obergurgl aus mit
seinen leuchtend weißen Schneefeldern nicht zu übersehen. Und im Gegensatz zu
Seelenkogel und Hoher Wilde gibt es hier keinen angelegten oder gesicherten
Steig.
Dafür beim Abstieg einen eleganten Firn-grat ins Joch
nördlich des Gipfels, wo man die Wahl hat: direkt über den Gletscher ¬oder viel
spannender weiter entlang des Grates. Leichte Felspassagen wechseln sich ab mit
kurzen Schneefeldern und einemschönen Firngrat, dann steigt man vor dem Anstieg
zur Firmisanschneide ostsei¬tig über die Gletscherreste ab zur Terrasse der
Fernerbänke. Ein perfekter Aussichts¬balkon mit mächtigen, einst vom Gletscher
glatt geschliffenen Felsrücken, Schnee und Geröll, auf dem man sich mit Blick
auf die Gipfel der letzten Tage selbst den Weg sucht.
Auf dem 1881 erbauten Ramolhaus klingt die Tourenwoche aus.
Die Hütte thront in 3006 Meter Höhe auf einem der schönsten Aussichtsplätze der
Ostalpen: einem Fels¬rücken mit Blick auf den Gurgler Ferner. Seit 1921 gehört
sie der Sektion Hamburg, 2006 wurde sie zum 125-Jahr-Jubiläum komplett
runderneuert und modernisiert. Seit zehn Jahren kümmert sich Alfred Kö¬nig, ein
gelernter Koch, um die Gäste. „Ich wollte nicht bis zu meinem Lebensende in
Höhepunkte verschiedenster Art: Firn- und Felsgrate beim
Abstieg vom Schalfkogel; Rückblick zum Gurgler Ferner vom Ramolhaus im
Morgenlicht; Knieschnackler-Schien-dern bis ganz hinunter ins Ötztal.
einer Hotelküche arbeiten", begründet er den Wechsel
vom Tal auf den Berg, „hier oben bin ich mein Cher Mit allen Vor- und
Nachteilen. „2013 hatten wir einen Bom¬bensommer", erinnert er sich, „2014
war es dagegen mühsam, viele Tagesgäste kom¬men bei dem schlechten Wetter gar
nicht. Da bleibt Zeit zum Putzen, Vorkochen, Portionieren und Einfrieren:
Mit einem Sonnenaufgang wie aus dem Bilderbuch startet der
letzte Tag. Während sich Alfred auf die Tagesgäste vorbereitet - „die ,3' bei
der Höhe zieht die Leute ein¬fach an" - genießen die Übernachtungs¬gäste
die Morgenstimmung und steigen nach einem Abstecher auf den Nördlichen
Ramolkogel - den letzten Dreitausender einer ausgefüllten Tourenwoche - ab nach
Obergurgl; zurück ins Grüne. Die letzten Tage bestimmten Eis, Schnee und Fels
das Bild, nun nimmt mit jedem Meter talwärts die Farbenpracht zu. Überall grünt
und blüht es, das Wasser plätschert, im kleinen Tümpel am Wegrand spiegelt sich
die Son¬ne. Und im Hintergrund erheben sich die vergletscherten Dreitausender
über dem Gurgler Talschluss mit dem Schalfkogel im Mittelpunkt - Faszination
Berge
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