Mittwoch, 5. August 2015

Klettern im Val Ferret am Montblanc


Klettern im Val Ferret am Montblanc

Author D.Selzer-McKenzie

Video: http://youtu.be/Fzbm3OUcENA

In Chamonix tanzt der Bär; im Val Ferret, auf der Schweizer Seite des Montblanc-Massivs, klettert man fast in Einsamkeit. Außer man hat

ein Handy dabei. Findet Ralf Gantzhorn

Ein Donnerstag im August, 9 Uhr, Mont¬blanc-Gruppe, Petit Clocher du Portalet, „La Sud-Est", 1. Seillänge - das erste Finger¬glied von zwei Fingern der linken Hand auf winzige Kristalle gekrallt. Die Füße finden nur auf Reibung Halt. Jetzt mit der rech¬ten Hand den Untergriff lösen und sie in dem Riss hinter der Kante verklemmen. Rrrrrrrrtsch - aua! Vier Meter der Schwer¬kraft gefolgt. Tausend Meter Luft unterm

 

Allerwertesten - und ein kleines Dorf, sehr pittoresk. Schade, dass für die Betrachtung einmaliger Kulturlandschaften (Kühe in¬klusive) gerade keine Zeit ist. Nächster Ver¬such: Die rechte Hand in den Untergriff, links die Kristalle, Füße auf Reibung ... Rrrrrrrrtsch. Na klasse! Mit 6b (VII) ist die

Ein Monolith aus Granit, wie

aus Beton gegossen, lediglich

durchzogen von einigen Rissen

erste Seillänge bewertet, eigentlich lächer¬lich. Wo wir doch in der Halle normaler¬weise die Siebener nur so abspulen. Nur gibt es dort weder Plastikgranit noch Kunstrisse. So hat mich meine vermeintli¬che Fitness dazu verleitet, in eine der Rou¬ten am Petit Clocher du Portalet einzustei¬gen. Ein Monolith aus Granit, der aussieht wie aus Beton gegossen, lediglich durchzo-gen von einigen Rissen.

Vor drei Tagen waren wir in Praz de Fort ganz unten im Val Ferret gestartet. Genau der Ort, der tausend Meter unter meinem sanft am Doppelseil schwankenden Hin¬tern so hübsch in der Landschaft liegt. Wir, das sind mein Freund Karsten und ich. Ge¬startet nicht ohne „Selfie", schnell noch verschickt an Karstens neue Freundin. Zunächst ging's hoch zur Cabane d'Orny, mit 1300 Höhenmetern ein echter Westalpen-hatsch und wahrscheinlich anstrengend, wenn einen nicht ständig dieser unfassba¬re Granitmonolith ablenken würde. Wie mit dem Messer geschnitten wirken Süd-, Ost- und Nordwand; das Gedankenbaro¬meter zeigt mal Angst, mal Begehr.

„Ich gehe weiter", rufe ich Karsten zu, des¬sen Gesichtsausdruck zwischen Sorge ob meines Zustandes und der Frage Wieso stellt der sich so an?" hin und her pendelt. Und der Gantzhorn stellt sich weiterhin an. Und wie! Meine Nerven liegen nach zwei Stürzen blank und ich mag nicht ein drittes Mal dem Reibungskoeffizienten meiner Schuhe auf Granit vertrauen. Kurz spiele ich mit dem Gedanken, den Schuhen die Schuld zu geben (schließlich muss in Deutschland ja immer irgendetwas oder ir¬gendwer „Schuld haben"), aber hier und jetzt gibt es definitiv nur einen völlig unfä¬higen Risskletterer: mich. Abseilen und Karsten vorsteigen zu lassen kommt nicht in Frage, also Friend in den Riss, Schlinge rein, Fuß in die Schlinge und so weiter. Al nennt man wohl diese erbärmliche Art der Fortbewegung, aber sie ist letztendlich er-

 

folgreich - „Stand!" Während Karsten sich die Schuhe zubindet, schaue ich mich ein wenig um. Der Petit Clocher gehört unzwei¬felhaft zum Montblanc-Massiv. Steiler, zer¬klüfteter und abweisender als jede andere Alpengruppe präsentiert es sich - eben das Mekka für Bergsteiger mit dem Credo: Je le¬bensfeindlicher desto besser. Oder ver¬mehrt das nur den Ruhm? Drüben auf der französischen Seite treten sie sich wahr-

Wie mit dem Messer

geschnittene Wände:

Das Gedankenbarometer

zeigt mal Angst, mal Begehr.

scheinlich die Füße platt, hier in der Schweiz kommt man sich ein wenig vor wie auf der vergessenen Seite des Massivs. Aller¬dings führt auch kein Lift auf über 3000 Me¬ter; was den Zustieg angeht, agieren Berg¬steiger oft doch wenig heldenhaft. Und so ist das Val Ferret weit weg vom Rummel in Chamonix, übertragen auf deutsche Verhältnis - wahrscheinlich wie eine ostfriesi¬sche Hallig vom Stachus in München.

Aaaah - es geht los! Karsten ist schon am Beginn des Risses. Aber statt so wie ich noch zwei Meter auf Reibung hochzuklet¬tern quert er gleich in den Riss rein. „So geht das also", muss ich neidvoll anerken¬nen. Er hat sogar noch genügend Kraft, um im Riss für meine Fotos zu posieren - das finde ich dann doch eher übertrieben. Und dass er mir am Stand auch noch mal die schwierige Stelle in allen Einzelheiten er¬klären muss, bessert meine Laune nicht wirklich. Obendrauf gibt es noch an einem Arm hängend ein weiteres „Selfie" und die Information, dass seine Liebste gerade im Ith ist. „Total interessant", gebe ich zu Pro¬tokoll und freue mich, dass Karsten jetzt mit dem Vorstieg dran ist. In der zweiten Seillänge hat man die Wahl der Qual. Rechts führt eine seichte Verschneidung zu einer Platte, in der zwei Bohrhaken ste¬cken, und von dort weiter zum Stand. Vor¬teil: gut abgesichert. Nachteil: achter Grad. Links leitet ein Handriss zum gleichen Stand, allerdings völlig „clean". Da dieser Riss nur mit 5c (VI) beweitet ist, fällt die Entscheidung leicht: Links soll's langgehen. Freudestrahlend verklemmt Karsten Füße und Hände im Riss, Friends und Keile fin-den schmatzend ihren Platz und pflastern seinen Weg nach oben. Die dabei von ihm ausgehende Geräuschkulisse erinnert stark an den Soundtrack eines Erotikfilmes oder das, was für teures Geld unter 0190 zu hö¬ren ist. In meinem Kopf tut sich gerade eine Geschäftsidee auf. Klettern ist eben doch der steilste Sport auf unserem Planeten.

Wer im Val Ferret unterwegs ist, kommt um die Cabane d'Orny nicht herum: Dank ihrer Lage, dem Komfort und dem freund¬lichen Hüttenteam ist sie der perfekte Aus¬gangspunkt für Touren auf der Schweizer Seite des Montblanc. Klar - die Schweiz ist mittlerweile durch die Eurokrise deutlich

 

teurer geworden. Aber gerade im Vergleich zur französischen Seite erscheint mir das Preis-Leistungs-Verhältnis durchaus ge-

Durch Lage, Komfort und

das freundliche Hüttenteam

ist die Cabane d'Orny

ein idealer Ausgangspunkt.

rechtfertigt - man bekommt einfach etwas für sein Geld. Und wenn man nicht gleich so vermessen ist, in die Routen am Petit

 

Clocher einzusteigen, hat die Umgebung der Cabane d'Orny einiges für eine gefahr¬lose Annäherung an den Kletterbelag Gra¬nit zu bieten. An der Aiguille de la Cabane zum Beispiel. Fünf Routen, bestens einge¬bohrt, in den Graden 5a (V) bis maximal 6b (VII), alle um die 200 Meter lang, sämtliche Einstiege jeweils nur eine halbe Stunde vom Frühstückstisch der Cabane d'Orny entfernt. Wer es etwas alpiner mag, geht in knapp 40 Minuten hinüber zur Aiguille d'Orny. Dort ziehen ebenfalls mehrere Rou¬ten durch die maximal 270 Meter hohe Südwand, die zwei schönsten vielleicht „La Moquette" (V) und „Geremiade" (VII-). Un-spektakulär sieht der Gipfel von unten aus, oben angekommen bleibt einem jedoch der Atem weg: Goldgelbe Nadeln, vom Eis umwallte Spitzen, der nördliche Rand der Montblanc-Gruppe baut sich in all seiner Pracht oberhalb des flachen Trient-Glet¬schers auf. Den Blick zur anderen Seite, in Richtung Wallis, genießt man hingegen am

„Aaaah, 0000h, hmmmm"

- was für eine grandiose

Seillänge!

besten von der Hüttenterrasse. Hinter der täuschend echt aussehenden Silhouette ei¬ner Steinbockskulptur baut sich das Mas¬siv des Grand Combin auf. Ich persönlich habe bei diesem Bergstock immer das Ge¬fühl, als sei der westlichste Viertausender des Wallis aus dem Himalaya geklaut. Er¬haben überragt der eisstrotzende Gipfel al¬les in seiner näheren Umgebung, ein echter Thron der Götter.

„Stand" ruft Karsten. Mich von meinen Betrachtungen über die Cabane d'Orny lö¬send, steige ich in die zweite Seillänge ein. „Aaaah, 0000h, hmmmm" - was für eine grandiose Seillänge! Auch ich scheine lang¬sam wieder im Granit anzukommen - ein gutes Gefühl. Welches beim Anblick der dritten Seillänge aber sofort wieder ver¬fliegt: Eine senkrechte Rissverschneidung führt bis unter ein Dach, das man über eine Platte nach rechts umgeht. So weit, so gut. Nur schließt sich der Riss im Verschnei-dungsgrund nach etwa zehn Metern, Griffe oder Tritte totale Fehlanzeige. Nervös nest¬le ich an meinem Zeugs herum, bis Karsten endlich die erlösende Frage stellt: „Soll ich?" Er soll ... Langsam tastet sich mein Rissheld nach oben, klemmt und spreizt wie aus dem Lehrbuch. Doch dann ist nix und so ist das Gestein dort deutlich grob-körniger als am Petit Clocher. Für Kletterer gehört es vielleicht zum Besten, was die Al¬pen zu bieten haben. Fest, rau und durch die Exposition nach Süd von der Sonne verwöhnt, reiht sich in den rund 400 Meter hohen Südwänden von Aiguille de la Va-rappe und Aiguille Sam Nom eine Traum¬tour neben der anderen. Wer Linien wie „Tajabone" oder „Les Chants du Midi" nicht geklettert ist, stirbt, zumindest als Kletterer, ahnungslos. Und: Das Dorks-Biwak, auf einer Felsinsel oberhalb des Saleinagletschers gelegen, könnte jeden Hochgebirgsmaler in Ekstase versetzen. Gegenüber glänzt die rund 700 Meter hohe Nordwand der Aiguille d'Argentiäre, eine monumentale Kathedrale aus Fels und Eis. Daneben ragen die schlanken Pfeiler der Aiguille du Chardonnet in den Himmel. Di¬rekt hinter dem Biwak glänzen die Süd¬wände der Aiguilles Dorks golden im Mor¬genlicht. Wer übrigens rechtzeitig gebucht hat und den Schlüssel zum luxuriösen Teil

 

des Biwaks (Kühlschrank mit Bier!) besitzt, kann sicher sein, dass es bis zum siebten Kletterhimmel nicht allzu weit ist.

,,Nachkommen", brüllt Karsten. Und merkwürdig: Mit dem Seilzug von oben löst sich die Stelle mit dem geschlossenen Riss wie von selbst. Ein wenig sauber ste-hen, etwas stützen und schon bin ich raus

Die Umgehung der überhän-genden Verschneidung ist mit - dem Klimawandel abgestürzt.

aus der Verschneidung und im Quergang unter dem Dach. Steil! Noch vor wenigen Jahren hätte ich das Klettern einer solchen Seillänge im Nachstieg als Zumutung empfunden, als etwas unter meiner Wür¬de, das ich nur äußerst unkonzentriert an¬gegangen wäre. Klettern mit Seil von oben war für mich wie Kletterei zweiter Klasse.

 

Mittlerweile kann ich es genießen und weiß es durchaus zu schätzen, mich ab und zu auf einen starken Partner verlassen zu können. Auch wenn dieser schon wie¬der an seinem Handy rumfummelt. „Sie hat wegen einsetzendem Dauerregen den Klettertag im Ith abgebrochen", weiß Kars¬ten zu berichten. Echt interessant! Die letz¬ten Meter haben mich aber so weit moti-viert, dass auch ich mich wieder an das scharfe Ende des Seils traue. Mit 6a+ (VII-) ist die nächste Seillänge bewertet, die sich dann als schöne Reibungskletterei auf stei¬len Platten entpuppt. Kristallschach; ich frage mich, wie die das in den 1960er Jah¬ren geklettert sind. Risse und Verschnei-dungen kann man sich - wie gesehen - im Notfall ja hochnageln. Aber Platten im siebten Grad? Mit Bollerschuhen? Die spinnen, die Herren Rey und Voulliaz, de¬nen am 15. Juni 1961 die Erstbegehung ge¬lungen war.

Durchaus leichter als heutzutage hatten es dagegen die Altvorderen an Routen wieder Überschreitung der Aiguilles Dorees, der vielleicht interessantesten Grattraverse auf der Schweizer Seite des Montblanc. Früher mit IV bewertet, ist sie eine böse Überraschung für Leute, für die das die Grenze darstellt. Denn die Querung ober¬halb des Couloir Copt genau in der Mitte der Bergkette ist mit dem Klimawandel der Schwerkraft zum Opfer gefallen. Heute ist man gezwungen, über den Gipfel der Aiguille Sans Nom zu klettern, eine über hängende Rissverschneidung bildet den Schlüssel. Wer hier mit steigeisenfesten Bergstiefeln und einem wie Blei nach unten zerrenden Rucksack hängt, benötigt als Viererkletterer einiges an Kraftreserven, um diese Stelle zu bewältigen. Frei nach dem Wetterbericht eine gefühlte VI. Die ganz in der Nähe angebrachten, noch glän¬zenden Abseilhaken bestätigen dies.

Die fünfte und sechste Seillänge am Pe¬tit Clocher reichen zwar auch noch kurz in den siebten Grad hinein, sind aber im Ver-gleiCh zum vorher Erlebten der pure Ge¬nuss. Wie vielleicht auch die Kletterei an den anderen rund um das Tal aufragenden Clochers. Von diesen „Glockentürmen" gibt's nämlich noch mehr! Direkt gegen¬über, an der mittlerweile knapp unter uns liegenden Saleina-Hütte, stehen noch zwei: der Petit und der Grand Clocher des Planereuses. Die Routen dort sind dabei ähnlich wie die drüber liegende Hütte: sehr sauber, sehr ordentlich und mit einer fan-tastischen Aussicht gesegnet. Besonders empfehlenswert die Voie sans nom", die in der zweiten Seillänge einen sensationell exponierten und trotzdem relativ einfa-chen (VI-) Quergang aufweist.

Karsten turnt jetzt die letzten Meter zum Gipfel hinauf. Direkt auf der Kante piazt er scheinbar in den Himmel und entschwin¬det gut gelaunt zum höchsten Punkt. Ich folge ihm, und bald sitzen wir an einem der exklusivsten Orte im Schweizer Teil des Montblanc-Massivs. Der Gipfel - einen Mo¬ment innehalten und vielleicht so etwas wie Dankbarkeit gegenüber der Schöpfung spü¬ren. Ich lebe. Minuten, in denen man die in¬nere Verbundenheit mit dem Kameraden nach dem vorher Erlebten wortlos genießt. Karsten sagt, dass er jetzt nach Hause tele¬foniert. Da unten ist Praz de Fort, sehr pitto-reskjetzt hätte ich Zeit, den Ausblick zu ge¬nießen. Schade, dass der Gipfel nicht größer ist als eine Telefonzelle - ich höre mit.#

 

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