Klettern im Val Ferret am Montblanc
Author D.Selzer-McKenzie
Video: http://youtu.be/Fzbm3OUcENA
In Chamonix tanzt der Bär; im Val Ferret, auf der Schweizer
Seite des Montblanc-Massivs, klettert man fast in Einsamkeit. Außer man hat
ein Handy dabei. Findet Ralf Gantzhorn
Ein Donnerstag im August, 9 Uhr, Mont¬blanc-Gruppe, Petit
Clocher du Portalet, „La Sud-Est", 1. Seillänge - das erste Finger¬glied
von zwei Fingern der linken Hand auf winzige Kristalle gekrallt. Die Füße
finden nur auf Reibung Halt. Jetzt mit der rech¬ten Hand den Untergriff lösen
und sie in dem Riss hinter der Kante verklemmen. Rrrrrrrrtsch - aua! Vier Meter
der Schwer¬kraft gefolgt. Tausend Meter Luft unterm
Allerwertesten - und ein kleines Dorf, sehr pittoresk.
Schade, dass für die Betrachtung einmaliger Kulturlandschaften (Kühe
in¬klusive) gerade keine Zeit ist. Nächster Ver¬such: Die rechte Hand in den
Untergriff, links die Kristalle, Füße auf Reibung ... Rrrrrrrrtsch. Na klasse!
Mit 6b (VII) ist die
Ein Monolith aus Granit, wie
aus Beton gegossen, lediglich
durchzogen von einigen Rissen
erste Seillänge bewertet, eigentlich lächer¬lich. Wo wir
doch in der Halle normaler¬weise die Siebener nur so abspulen. Nur gibt es dort
weder Plastikgranit noch Kunstrisse. So hat mich meine vermeintli¬che Fitness dazu
verleitet, in eine der Rou¬ten am Petit Clocher du Portalet einzustei¬gen. Ein
Monolith aus Granit, der aussieht wie aus Beton gegossen, lediglich durchzo-gen
von einigen Rissen.
Vor drei Tagen waren wir in Praz de Fort ganz unten im Val
Ferret gestartet. Genau der Ort, der tausend Meter unter meinem sanft am
Doppelseil schwankenden Hin¬tern so hübsch in der Landschaft liegt. Wir, das
sind mein Freund Karsten und ich. Ge¬startet nicht ohne „Selfie", schnell
noch verschickt an Karstens neue Freundin. Zunächst ging's hoch zur Cabane
d'Orny, mit 1300 Höhenmetern ein echter Westalpen-hatsch und wahrscheinlich
anstrengend, wenn einen nicht ständig dieser unfassba¬re Granitmonolith
ablenken würde. Wie mit dem Messer geschnitten wirken Süd-, Ost- und Nordwand;
das Gedankenbaro¬meter zeigt mal Angst, mal Begehr.
„Ich gehe weiter", rufe ich Karsten zu, des¬sen
Gesichtsausdruck zwischen Sorge ob meines Zustandes und der Frage Wieso stellt
der sich so an?" hin und her pendelt. Und der Gantzhorn stellt sich
weiterhin an. Und wie! Meine Nerven liegen nach zwei Stürzen blank und ich mag
nicht ein drittes Mal dem Reibungskoeffizienten meiner Schuhe auf Granit
vertrauen. Kurz spiele ich mit dem Gedanken, den Schuhen die Schuld zu geben
(schließlich muss in Deutschland ja immer irgendetwas oder ir¬gendwer „Schuld
haben"), aber hier und jetzt gibt es definitiv nur einen völlig unfä¬higen
Risskletterer: mich. Abseilen und Karsten vorsteigen zu lassen kommt nicht in
Frage, also Friend in den Riss, Schlinge rein, Fuß in die Schlinge und so
weiter. Al nennt man wohl diese erbärmliche Art der Fortbewegung, aber sie ist
letztendlich er-
folgreich - „Stand!" Während Karsten sich die Schuhe
zubindet, schaue ich mich ein wenig um. Der Petit Clocher gehört unzwei¬felhaft
zum Montblanc-Massiv. Steiler, zer¬klüfteter und abweisender als jede andere
Alpengruppe präsentiert es sich - eben das Mekka für Bergsteiger mit dem Credo:
Je le¬bensfeindlicher desto besser. Oder ver¬mehrt das nur den Ruhm? Drüben auf
der französischen Seite treten sie sich wahr-
Wie mit dem Messer
geschnittene Wände:
Das Gedankenbarometer
zeigt mal Angst, mal Begehr.
scheinlich die Füße platt, hier in der Schweiz kommt man
sich ein wenig vor wie auf der vergessenen Seite des Massivs. Aller¬dings führt
auch kein Lift auf über 3000 Me¬ter; was den Zustieg angeht, agieren
Berg¬steiger oft doch wenig heldenhaft. Und so ist das Val Ferret weit weg vom
Rummel in Chamonix, übertragen auf deutsche Verhältnis - wahrscheinlich wie
eine ostfriesi¬sche Hallig vom Stachus in München.
Aaaah - es geht los! Karsten ist schon am Beginn des Risses.
Aber statt so wie ich noch zwei Meter auf Reibung hochzuklet¬tern quert er
gleich in den Riss rein. „So geht das also", muss ich neidvoll
anerken¬nen. Er hat sogar noch genügend Kraft, um im Riss für meine Fotos zu
posieren - das finde ich dann doch eher übertrieben. Und dass er mir am Stand
auch noch mal die schwierige Stelle in allen Einzelheiten er¬klären muss,
bessert meine Laune nicht wirklich. Obendrauf gibt es noch an einem Arm hängend
ein weiteres „Selfie" und die Information, dass seine Liebste gerade im
Ith ist. „Total interessant", gebe ich zu Pro¬tokoll und freue mich, dass
Karsten jetzt mit dem Vorstieg dran ist. In der zweiten Seillänge hat man die
Wahl der Qual. Rechts führt eine seichte Verschneidung zu einer Platte, in der
zwei Bohrhaken ste¬cken, und von dort weiter zum Stand. Vor¬teil: gut
abgesichert. Nachteil: achter Grad. Links leitet ein Handriss zum gleichen
Stand, allerdings völlig „clean". Da dieser Riss nur mit 5c (VI) beweitet
ist, fällt die Entscheidung leicht: Links soll's langgehen. Freudestrahlend
verklemmt Karsten Füße und Hände im Riss, Friends und Keile fin-den schmatzend
ihren Platz und pflastern seinen Weg nach oben. Die dabei von ihm ausgehende
Geräuschkulisse erinnert stark an den Soundtrack eines Erotikfilmes oder das,
was für teures Geld unter 0190 zu hö¬ren ist. In meinem Kopf tut sich gerade
eine Geschäftsidee auf. Klettern ist eben doch der steilste Sport auf unserem
Planeten.
Wer im Val Ferret unterwegs ist, kommt um die Cabane d'Orny
nicht herum: Dank ihrer Lage, dem Komfort und dem freund¬lichen Hüttenteam ist
sie der perfekte Aus¬gangspunkt für Touren auf der Schweizer Seite des
Montblanc. Klar - die Schweiz ist mittlerweile durch die Eurokrise deutlich
teurer geworden. Aber gerade im Vergleich zur französischen
Seite erscheint mir das Preis-Leistungs-Verhältnis durchaus ge-
Durch Lage, Komfort und
das freundliche Hüttenteam
ist die Cabane d'Orny
ein idealer Ausgangspunkt.
rechtfertigt - man bekommt einfach etwas für sein Geld. Und
wenn man nicht gleich so vermessen ist, in die Routen am Petit
Clocher einzusteigen, hat die Umgebung der Cabane d'Orny
einiges für eine gefahr¬lose Annäherung an den Kletterbelag Gra¬nit zu bieten.
An der Aiguille de la Cabane zum Beispiel. Fünf Routen, bestens einge¬bohrt, in
den Graden 5a (V) bis maximal 6b (VII), alle um die 200 Meter lang, sämtliche
Einstiege jeweils nur eine halbe Stunde vom Frühstückstisch der Cabane d'Orny
entfernt. Wer es etwas alpiner mag, geht in knapp 40 Minuten hinüber zur
Aiguille d'Orny. Dort ziehen ebenfalls mehrere Rou¬ten durch die maximal 270
Meter hohe Südwand, die zwei schönsten vielleicht „La Moquette" (V) und
„Geremiade" (VII-). Un-spektakulär sieht der Gipfel von unten aus, oben
angekommen bleibt einem jedoch der Atem weg: Goldgelbe Nadeln, vom Eis umwallte
Spitzen, der nördliche Rand der Montblanc-Gruppe baut sich in all seiner Pracht
oberhalb des flachen Trient-Glet¬schers auf. Den Blick zur anderen Seite, in
Richtung Wallis, genießt man hingegen am
„Aaaah, 0000h, hmmmm"
- was für eine grandiose
Seillänge!
besten von der Hüttenterrasse. Hinter der täuschend echt
aussehenden Silhouette ei¬ner Steinbockskulptur baut sich das Mas¬siv des Grand
Combin auf. Ich persönlich habe bei diesem Bergstock immer das Ge¬fühl, als sei
der westlichste Viertausender des Wallis aus dem Himalaya geklaut. Er¬haben
überragt der eisstrotzende Gipfel al¬les in seiner näheren Umgebung, ein echter
Thron der Götter.
„Stand" ruft Karsten. Mich von meinen Betrachtungen
über die Cabane d'Orny lö¬send, steige ich in die zweite Seillänge ein. „Aaaah,
0000h, hmmmm" - was für eine grandiose Seillänge! Auch ich scheine
lang¬sam wieder im Granit anzukommen - ein gutes Gefühl. Welches beim Anblick
der dritten Seillänge aber sofort wieder ver¬fliegt: Eine senkrechte
Rissverschneidung führt bis unter ein Dach, das man über eine Platte nach
rechts umgeht. So weit, so gut. Nur schließt sich der Riss im
Verschnei-dungsgrund nach etwa zehn Metern, Griffe oder Tritte totale
Fehlanzeige. Nervös nest¬le ich an meinem Zeugs herum, bis Karsten endlich die
erlösende Frage stellt: „Soll ich?" Er soll ... Langsam tastet sich mein
Rissheld nach oben, klemmt und spreizt wie aus dem Lehrbuch. Doch dann ist nix und
so ist das Gestein dort deutlich grob-körniger als am Petit Clocher. Für
Kletterer gehört es vielleicht zum Besten, was die Al¬pen zu bieten haben.
Fest, rau und durch die Exposition nach Süd von der Sonne verwöhnt, reiht sich
in den rund 400 Meter hohen Südwänden von Aiguille de la Va-rappe und Aiguille
Sam Nom eine Traum¬tour neben der anderen. Wer Linien wie „Tajabone" oder
„Les Chants du Midi" nicht geklettert ist, stirbt, zumindest als
Kletterer, ahnungslos. Und: Das Dorks-Biwak, auf einer Felsinsel oberhalb des Saleinagletschers
gelegen, könnte jeden Hochgebirgsmaler in Ekstase versetzen. Gegenüber glänzt
die rund 700 Meter hohe Nordwand der Aiguille d'Argentiäre, eine monumentale
Kathedrale aus Fels und Eis. Daneben ragen die schlanken Pfeiler der Aiguille
du Chardonnet in den Himmel. Di¬rekt hinter dem Biwak glänzen die Süd¬wände der
Aiguilles Dorks golden im Mor¬genlicht. Wer übrigens rechtzeitig gebucht hat
und den Schlüssel zum luxuriösen Teil
des Biwaks (Kühlschrank mit Bier!) besitzt, kann sicher
sein, dass es bis zum siebten Kletterhimmel nicht allzu weit ist.
,,Nachkommen", brüllt Karsten. Und merkwürdig: Mit dem
Seilzug von oben löst sich die Stelle mit dem geschlossenen Riss wie von
selbst. Ein wenig sauber ste-hen, etwas stützen und schon bin ich raus
Die Umgehung der überhän-genden Verschneidung ist mit - dem
Klimawandel abgestürzt.
aus der Verschneidung und im Quergang unter dem Dach. Steil!
Noch vor wenigen Jahren hätte ich das Klettern einer solchen Seillänge im
Nachstieg als Zumutung empfunden, als etwas unter meiner Wür¬de, das ich nur
äußerst unkonzentriert an¬gegangen wäre. Klettern mit Seil von oben war für
mich wie Kletterei zweiter Klasse.
Mittlerweile kann ich es genießen und weiß es durchaus zu
schätzen, mich ab und zu auf einen starken Partner verlassen zu können. Auch
wenn dieser schon wie¬der an seinem Handy rumfummelt. „Sie hat wegen
einsetzendem Dauerregen den Klettertag im Ith abgebrochen", weiß Kars¬ten
zu berichten. Echt interessant! Die letz¬ten Meter haben mich aber so weit
moti-viert, dass auch ich mich wieder an das scharfe Ende des Seils traue. Mit
6a+ (VII-) ist die nächste Seillänge bewertet, die sich dann als schöne
Reibungskletterei auf stei¬len Platten entpuppt. Kristallschach; ich frage
mich, wie die das in den 1960er Jah¬ren geklettert sind. Risse und
Verschnei-dungen kann man sich - wie gesehen - im Notfall ja hochnageln. Aber
Platten im siebten Grad? Mit Bollerschuhen? Die spinnen, die Herren Rey und
Voulliaz, de¬nen am 15. Juni 1961 die Erstbegehung ge¬lungen war.
Durchaus leichter als heutzutage hatten es dagegen die
Altvorderen an Routen wieder Überschreitung der Aiguilles Dorees, der
vielleicht interessantesten Grattraverse auf der Schweizer Seite des Montblanc.
Früher mit IV bewertet, ist sie eine böse Überraschung für Leute, für die das
die Grenze darstellt. Denn die Querung ober¬halb des Couloir Copt genau in der
Mitte der Bergkette ist mit dem Klimawandel der Schwerkraft zum Opfer gefallen.
Heute ist man gezwungen, über den Gipfel der Aiguille Sans Nom zu klettern,
eine über hängende Rissverschneidung bildet den Schlüssel. Wer hier mit
steigeisenfesten Bergstiefeln und einem wie Blei nach unten zerrenden Rucksack
hängt, benötigt als Viererkletterer einiges an Kraftreserven, um diese Stelle
zu bewältigen. Frei nach dem Wetterbericht eine gefühlte VI. Die ganz in der
Nähe angebrachten, noch glän¬zenden Abseilhaken bestätigen dies.
Die fünfte und sechste Seillänge am Pe¬tit Clocher reichen
zwar auch noch kurz in den siebten Grad hinein, sind aber im Ver-gleiCh zum
vorher Erlebten der pure Ge¬nuss. Wie vielleicht auch die Kletterei an den
anderen rund um das Tal aufragenden Clochers. Von diesen „Glockentürmen"
gibt's nämlich noch mehr! Direkt gegen¬über, an der mittlerweile knapp unter
uns liegenden Saleina-Hütte, stehen noch zwei: der Petit und der Grand Clocher
des Planereuses. Die Routen dort sind dabei ähnlich wie die drüber liegende
Hütte: sehr sauber, sehr ordentlich und mit einer fan-tastischen Aussicht
gesegnet. Besonders empfehlenswert die Voie sans nom", die in der zweiten
Seillänge einen sensationell exponierten und trotzdem relativ einfa-chen (VI-)
Quergang aufweist.
Karsten turnt jetzt die letzten Meter zum Gipfel hinauf.
Direkt auf der Kante piazt er scheinbar in den Himmel und entschwin¬det gut
gelaunt zum höchsten Punkt. Ich folge ihm, und bald sitzen wir an einem der
exklusivsten Orte im Schweizer Teil des Montblanc-Massivs. Der Gipfel - einen
Mo¬ment innehalten und vielleicht so etwas wie Dankbarkeit gegenüber der
Schöpfung spü¬ren. Ich lebe. Minuten, in denen man die in¬nere Verbundenheit
mit dem Kameraden nach dem vorher Erlebten wortlos genießt. Karsten sagt, dass
er jetzt nach Hause tele¬foniert. Da unten ist Praz de Fort, sehr
pitto-reskjetzt hätte ich Zeit, den Ausblick zu ge¬nießen. Schade, dass der Gipfel
nicht größer ist als eine Telefonzelle - ich höre mit.#
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