Kreuzzüge – Die Assassinen – Der Jihad
Author D.Selzer-McKenzie
Video: http://youtu.be/EnRQ8NDVI9Q
DIE ARABISCHE ANTWORT
Während die Franken sich immer noch über die Beute stritten,
kamen moslemische Flüchtlinge zur Zeit des Ramadan, des moslemischen
Fastenmonats, in Damaskus an. Ihre Berichte von den Qualen, die sie erlitten,
und von den Schrecken, die sie geschaut hatten, waren so entsetzlich, daß man
ihnen erlaubte, das Fasten zu brechen.
In Bagdad, dem Zentrum islamischer Herrschaft, geschah
nichts. Der irakische Dich¬ter Al-Muzaffar al-Abiwardi tat sein Bestes, um
wenigstens irgendeine Reaktion herauf¬zubeschwören.
»Dies ist Krieg, und der Mann, der den Strudel meidet, um
sein Leben zu schützen, soll seine Zähne reuevoll zusammenbei ßen.
Dies ist Krieg, und das Schwert des Ungläubigen liegt offen
in seiner Hand — bereit, in Genicke und Schädel von Männern geschlagen zu werden.
«
Doch nichts geschah.
»Ich sehe, wie mein Volk zögert, die Lanze gegen den Feind
zu erheben: Ich sehe, wie der Glaube auf schwachen Säulen ruht.«
In bester Tradition von Politikern durch die gesamte
Geschichte hindurch, nahm der Kalif Al-Mustazhir Billah, wenn er vor einem
dringenden Problem stand, die ganze Angelegen¬heit sehr ernst und berief ein
Untersuchungskomitee. Und in bester Tradition von Unter¬suchungskomitees durch
die gesamte Geschichte hindurch tat das Untersuchungskomitee überhaupt nichts.
Bagdad war machtlos.
Bagdad war einmal die größte und zivilisierteste Stadt der
Welt gewesen. Vor den tür¬kischen Invasionen besaß es Krankenhäuser für alle,
öffentliche Bäder, einen Postdienst, Wasserversorgung, ein Abwassersystem sowie
mehrere Banken — mit Zweigstellen in China. Unter der Herrschaft von Kalif
Harun al-Raschid hatte die Stadt dreihundert Jahre zuvor ein islamisches Reich
regiert, das Nordafrika, Palästina, Syrien und den Irak ein¬schloß und bis über
Persien und Afghanistan hinaus sowie nach Aserbeidschan und zu den Südufern des
Kaspischen Meeres reichte.
In diesen Zeiten hatte sich die islamische Kultur den
Einflüssen anderer Zivilisationen geöffnet. Seit den Tagen des Kalifen Al-Mamun
(gestorben 833) genossen Moslems die Vorzüge bestehender Stiftungen, die eher
ihr kulturelles Leben unterstützten als die Macht der Herrscher. Al-Mamun hatte
Übersetzerschulen gegründet, die den Wissensschatz, der in Schriften
griechischen, syrischen oder persischen Ursprungs oder auch in Sanskrit- Schriften
enthalten war, arabischen Menschen zugänglich machten. Er gründete das Haus der
Wissenschaft mit seiner Bibliothek und seinen astronomischen Einrichtungen in
Bagdad.
Weiter nördlich war in der Stadt Harran eine
wissenschaftliche Schule entstanden, die dem Westen um Jahrhunderte voraus war.
Zu der Zeit, als die Kreuzfahrer erst¬mals Schwertkontakt mit der islamischen
Welt aufnahmen, hatte ein Harraner Wissen¬schaftler namens Albatanius bereits
die Entfernung von der Erde zum Mond bestimmt, während ein anderer namens Jabir
bin Hayyan behauptet hatte, daß ein Atom, wenn man es teilte, genug Energie
freisetzen würde, um eine Stadt von der Größe Bagdads zu zerstören!
Die arabische Medizin war ebenfalls hochentwickelt. Um Arzt
sein zu dürfen, mußte man sich großes Wissen über Chirurgie, Anatomie und den
Blutkreislauf ange¬eignet haben (vierhundert Jahre vor Harvey). Es gab
Spezialisten für Augenchirurgie, Brusttumore, Epilepsie, für Vorsorge und — was
vielleicht am wichtigsten war — für Hy¬giene. Arabische Ärzte wandten sogar die
Anästhesie an. Ein Schwamm wurde in eine Mischung aus Haschisch, Opium,
Darnelle und Belladonna getaucht und dann zum Trocknen in die Sonne gelegt.
Wenn er gebraucht wurde, befeuchtete man den Schwamm und steckte ihn in die
Nasenlöcher des Patienten, der logischerweise in einen tiefen Schlaf sank.
Warum reagierte eine so gebildete Gesellschaft derart
langsam auf die christliche Aggression aus dem Westen? Wie konnten zwei- oder
dreitausend Europäer über ein feind-liches Königreich im Nahen Osten herrschen?
Eine Frage, die auch viele Araber zu dieser Zeit quälte.
Zwei große Probleme stellten sich den islamischen
Herrschern. Das erste: Das Gefühl der Wut derjenigen, die direkt unter dem Fall
Jerusalems litten, wurde zunächst nicht von vielen geteilt. Invasionen waren an
der Tagesordnung. Es dauerte eine Weile, bis man erkannte, daß die Besetzer
Jerusalems eine völlig andere Tagesordnung als die Byzantiner, Türken oder
Ägypter hatten. Die Kreuzfahrer waren nicht nur gekommen, um Tribute und
Steuern einzunehmen, sondern um der Stadt ihre eigene Zivilisation und ihr
eigenes römi¬sches Christentum aufzudrängen.
Dies war nicht nur eine weitere Invasion; es war ein
Kolonisierungskrieg der einen Zivilisation gegen eine andere. Als man das erkannte,
forderten immer mehr Stimmen eine gemeinsame Reaktion der gesamten arabischen
Welt. Und dies war das zweite große Pro¬blem. Im späten elften Jahrhundert gab
es so etwas wie eine vereinte arabische Welt nicht. Nordafrika hatte sich
abgespalten, als die Fatimiden an die Macht kamen, und die Seld-schuken besaßen
die Herrschaft über den Rest. Sie waren keine Araber.
Schriften enthalten war, arabischen Menschen zugänglich
machten. Er gründete das Haus der Wissenschaft mit seiner Bibliothek und seinen
astronomischen Einrichtungen in Bagdad.
Weiter nördlich war in der Stadt Harran eine
wissenschaftliche Schule entstanden, die dem Westen um Jahrhunderte voraus war.
Zu der Zeit, als die Kreuzfahrer erst¬mals Schwertkontakt mit der islamischen
Welt aufnahmen, hatte ein Harraner Wissen¬schaftler namens Albatanius bereits
die Entfernung von der Erde zum Mond bestimmt, während ein anderer namens Jabir
bin Hayyan behauptet hatte, daß ein Atom, wenn man es teilte, genug Energie
freisetzen würde, um eine Stadt von der Größe Bagdads zu zerstören!
Die arabische Medizin war ebenfalls hochentwickelt. Um Arzt
sein zu dürfen, mußte man sich großes Wissen über Chirurgie, Anatomie und den
Blutkreislauf ange¬eignet haben (vierhundert Jahre vor Harvey). Es gab
Spezialisten für Augenchirurgie, Brusttumore, Epilepsie, für Vorsorge und — was
vielleicht am wichtigsten war — für Hy¬giene. Arabische Ärzte wandten sogar die
Anästhesie an. Ein Schwamm wurde in eine Mischung aus Haschisch, Opium,
Darnelle und Belladonna getaucht und dann zum Trocknen in die Sonne gelegt.
Wenn er gebraucht wurde, befeuchtete man den Schwamm und steckte ihn in die
Nasenlöcher des Patienten, der logischerweise in einen tiefen Schlaf sank.
Warum reagierte eine so gebildete Gesellschaft derart
langsam auf die christliche Aggression aus dem Westen? Wie konnten zwei- oder
dreitausend Europäer über ein feind-liches Königreich im Nahen Osten herrschen?
Eine Frage, die auch viele Araber zu dieser Zeit quälte.
Zwei große Probleme stellten sich den islamischen Herrschern.
Das erste: Das Gefühl der Wut derjenigen, die direkt unter dem Fall Jerusalems
litten, wurde zunächst nicht von vielen geteilt. Invasionen waren an der
Tagesordnung. Es dauerte eine Weile, bis man erkannte, daß die Besetzer
Jerusalems eine völlig andere Tagesordnung als die Byzantiner, Türken oder
Ägypter hatten. Die Kreuzfahrer waren nicht nur gekommen, um Tribute und
Steuern einzunehmen, sondern um der Stadt ihre eigene Zivilisation und ihr
eigenes römi¬sches Christentum aufzudrängen.
Dies war nicht nur eine weitere Invasion; es war ein
Kolonisierungskrieg der einen Zivilisation gegen eine andere. Als man das
erkannte, forderten immer mehr Stimmen eine gemeinsame Reaktion der gesamten
arabischen Welt. Und dies war das zweite große Pro¬blem. Im späten elften
Jahrhundert gab es so etwas wie eine vereinte arabische Welt nicht. Nordafrika
hatte sich abgespalten, als die Fatimiden an die Macht kamen, und die
Seld-schuken besaßen die Herrschaft über den Rest. Sie waren keine Araber.
Der Zwiespalt der Türken
B
agdad blieb weiterhin das Herrschaftszentrum; es war immer
noch die Heimat des Kali¬fen. Doch wie alle Araber hatte er im Reich der
Seldschuken keinen politischen Platz. Sein türkischer Oberherr trug den Titel
Sultan. Der Kalif war eine religiöse Gallionsfigur. »Männer des Turbans«
(religiöse und juristische Beamte) und »Männer der Feder« (Ver¬walter) konnten
Araber sein, doch »Männer des Schwertes«, welche Türken (und norma¬lerweise
ungebildet) waren, besaßen alle Macht. Und wo sie sie nicht besaßen, kämpften
sie darum. In den drei Jahren nach der christlichen Besetzung Jerusalems
wechselte Bagdad achtmal die Regierung, während die Söhne von Malik Shah um die
Herrschaft kämpften. Die Stadt versank im Chaos. Die türkischen Herrscher waren
nicht in der Lage, die Notla¬ge Jerusalems und anderer Städte am westlichen
Rand der Seldschukenwelt ernstzunehmen.
Vom Zentrum des Geschehens entfernt, behielt jeder Emir
seine Unabhängigkeit und hatte Angst vor seinem Nachbarn. Der Herrscher von
Damaskus, Duqaq, war der Bruder Ridwans von Aleppo. Ridwan hatte bereits drei
seiner Brüder getötet, und Duqaq war sicher, daß er der nächste auf der Liste
sein würde. Gleiches galt für Kerbogha in Mossul — sie beide wußten, daß er sie
zum Frühstück verspeisen würde, wenn er nur die Gelegen¬heit bekam. Und in
Dutzenden kleinerer Emirate wurde Politik nach dem Grundsatz gemacht: »Der
Feind meines Bruders ist mein Freund. « Die Emire sahen in den Franken keinen
ärgeren Feind als in jedem einzelnen anderen Emir unter ihnen. »In früheren Zei¬ten
hatte beinahe jede Stadt (im Nahen Osten) ihren eigenen Herrscher...«, schrieb
Wil-liam von Tyros. »Diejenigen, die ihre eigenen Verbündeten nicht weniger als
die Christen fürchteten, konnten oder wollten sich nicht vereinigen, um der
allgemeinen Gefahr entge¬genzutreten, oder sich zu unserer Vernichtung zu
wappnen. «
Es wäre zum Beispiel nicht schwierig gewesen, Edessa und
Antiochia von Jerusalem abzuschneiden. Tripolis lag unbesiegt zwischen ihnen
und kontrollierte den berühmten Paß Nahr el-Kelb. Als Balduin von Edessa nach
Jerusalem eilte, um nach dem Tod seines Bruders Gottfried Anspruch auf das
Königreich zu erheben, entschied Duqaq, der Herr¬scher von Damaskus, weise, ihn
dort zu überfallen. Doch dem Emir von Tripolis, Fakhr al-Mulk, mißfiel diese
Idee.
Fakhr al-Mulk hatte das Amt des Emirs von Tripolis erst seit
einem Jahr inne und nicht die Absicht, Duqaq einen spektakulären Sieg über die
Franken zu ermöglichen und sich damit — vielleicht — über ganz Syrien zu
stellen. Und so tat Fakhr al-Mulk, was sich für ihn anbot: Er schickte einen
Kurier zu Balduin und warnte ihn vor dem Angriff. Balduin soll¬te es erleben,
der wahrscheinlich größte König zu werden, den das Königreich Jerusalem je
haben sollte.
Doch die Geschichte war damit noch nicht zu Ende.
Ein Jahr später nahm Duqaq Rache am Emir von Tripolis.
Raimund von Toulouse tauchte mit einer absurd kleinen Armee von nicht mehr als
dreihundert Mann vor den Mauern von Tripolis auf. Der Emir schickte eine
Nachricht an Duqaq in Damaskus und an die Herrscher von Horns, daß sich hier
die Möglichkeit bot, den Grafen aus dem Weg zu schaffen. Sie erschienen
pflichtgemäß und umzingelten Raimund — die moslemischen Streitkräfte waren den
Franken im Verhältnis zwanzig zu eins überlegen.
Und doch zogen sich, als es zur Schlacht kam, die Männer aus
Horns und Damaskus aus freien Stücken zurück, um Raimund den Sieg zu
überlassen. Dies war sicherlich die Rache Duqaqs an Fakhr al-Mulk, doch sie
ebnete den Weg für einen vierten Kreuzzugs-staat — das Königreich Tripolis —
und schuf damit das lebenswichtige Bindeglied zwischen den Staaten im Norden
und Jerusalem.
Die Assassinen
Nichts symbolisiert die innere Spaltung der arabischen Welt
besser als die Assassinen. Ohne den Mord der Assassinen an Nizam al-Mulk wäre
der Kreuzzug vielleicht nicht so weit gekommen, wie er schließlich kam.
Die Assassinen waren eine extremistische schiitische Sekte,
die nur fünf Jahre, ehe Papst Urban den ersten Kreuzzug gepredigt hatte, als
Reaktion auf Sultan Malik Shahs Hinwendung zum sunnitischen Islam gegründet
worden war.
Die Spaltung der Sunniten und Schiiten hatte ihre Wurzeln in
einem Bürgerkrieg kurz nach dem Tod Mohammeds. Der Schwiegersohn des Propheten,
Ali, der der vierte Kalif oder »Nachfolger« geworden war, wurde ermordet; genauso
erging es seinen Söhnen und Enkeln. Die Schiiten (Shiat' Ali bedeutet »die
Partei Alis«) behaupteten, daß Ali der erste wahre Nachkomme des Propheten sei,
und sie betrachteten das sunnitische Kalifentum in Bagdad als korrupt und auf
das Vergießen heiligen Blutes gegründet.
Die Assassinen waren Ismailis — esoterische Schiiten, die an
die Heiligkeit des siebten Imam, Ismail ibn Jafar, glaubten und deren
Überlieferung besagte, daß es die Pflicht der Gemeinschaft sei, allen Reichtum
zu teilen. Der Begriff »Assassine« jedoch ist eine Erfin¬dung des Westens. Er
wurde wahrscheinlich wegen des Haschischs geprägt, mit dem seine Anhänger — die
hashishi — vollgepumpt gewesen sein sollen, wenn sie ihre
Selbstmordun¬ternehmen ausführten.
Dieser gewalttätige Arm der ismailischen Bewegung wurde von
einem kultivierten Mann der Dichtkunst und Wissenschaft gegründet, Hasan
as-Sabah, 1048 geboren, der gesehen hatte, wie das von Schiiten beherrschte
Persien von den sunnitischen Seldschuken-Türken überrannt worden war. Hasan as-Sabah
war entschlossen, seine Welt wieder auf den Pfad von Shi'a zu führen, und so
floh er 1071 nach Ägypten. Das fatimidische Ägyp¬ten hatte seinen eigenen
schiitischen Kalifen; darauf gründete seine Trennung vom sunni-tischen Kalifen
von Bagdad. Hasan erkannte schnell, daß die wahre Macht Ägyptens nicht in den
Händen des Kalifen, sondern in denen seines armenischen Wesirs lag. Doch
zumin¬dest war Kairo voller gleichgesinnter Gewaltbereiter, und Hasan
beteiligte sich an der Gründung einer neuen revolutionären Bewegung.
Der Plan des Umsturzes sollte ausgeführt werden, sobald der
alte Kalif starb. Sein Sohn, Nizar, sollte vom Wesir die Macht übernehmen, die
Seldschuken angreifen und die gesamte moslemische Welt wieder in den Schoß der
schiitischen Gemeinde zurückführen. Bis dahin sollte Hasan in die Gebiete
zurückkehren, die nun von den Seldschuken beherrscht wurden, und eine »fünfte
Kolonne« aufbauen, die aktiv werden sollte, sobald Nizar die Herrschaft über
Ägypten inne hatte. Das tat Hasan auch. Er schuf eine der wir¬kungsvollsten
terroristischen Organisationen in der Geschichte. Seine Waffe war der
poli¬tische Mord. Morde mußten so öffentlich wie möglich an Personen verübt
werden, die eine möglichst herausragende Rolle spielten — normalerweise wurde
nach den Freitagsge¬beten in der Moschee gemordet. Die Assassinen mußten daher
damit rechnen, in Ausü¬bung ihres Amtes selbst zu sterben. Jede Mission war
eine Selbstmordmission.
Jeder Mord schaffte einen gefährlichen Feind der Sekte
beiseite, schreckte andere Fein¬de der Sekte ab und demonstrierte die
Entschlossenheit und den Fanatismus der Sekten¬mitglieder.
Die Assassinen hatten gleich mit ihrem ersten Mord großen
Erfolg. Sie töteten Malik Shahs Wesir Nizam al-Mulk. Malik Shah selbst starb
bald darauf, und sein Reich zerbrach in zahllose Teile. Nizam war der einzige
Mann gewesen, der das Reich hätte zusammen¬halten können — der Weg für einen
schiitischen Neubeginn war frei.
Doch die Ereignisse entwickelten sich nicht so, wie sie
sollten. In Kairo erbte nicht Nizar das Kalifat, sondern der rücksichtslose
Al-Afdal erbte das Wesirat. Und Al-Afdal war nicht die Sorte Mann, der auf
einen Aufstand wartet. Er wußte genau, wer im Begriff war, Ärger zu machen, und
ließ die Betreffenden unschädlich machen. Nizar selbst wurde als Exempel
lebendig begraben.
Hasan as-Sabah fand sich auf diese Weise mit einer
einsatzbereiten Organisation früher Kamikazekommandos wieder, die es kaum
abwarten konnten, ihre Hingabe, Aufopfe-rungsbereitschaft und Kampfeslust zu
demonstrieren — jedoch ohne momentanen politi¬schen Tagesplan. Sein Endziel war
weiterhin die Zerstörung des sunnitischen Kalifats, und so setzte Hasan alles
in Bewegung, um es zu verwirklichen. Er verließ Kairo und begann, auf eigene
Rechnung zu arbeiten, indem er den sunnitischen Islam unterminierte und
destabilisierte, wo immer er konnte.
Da er den Fatimiden jetzt entfremdet war, die nominell noch
immer die Köpfe der schi-itischen Bewegung stellten, mußte Hasan erkennen, daß
er nun nicht nur der einzige Feind des sunnitischen Kalifen, sondern auch der
des schiitischen Kalifen war. Er stand auf diese Weise gegen die gesamte
islamische Führungsschicht und stellte fest, daß die eindringen¬den Christen
mehr als einmal seine natürlichen Verbündeten waren.
In den nächsten fünfzig Jahren zerfraß diese Gegenmacht die
sunnitische Welt von innen. Von seiner Festung unweit des Kaspischen Meers säte
Hasan, der nun »der alte Mann aus den Bergen« genannt wurde, Zwietracht unter
den Emiren von Syrien und half, Emir gegen Emir und Bruder gegen Bruder
aufzuwiegeln. Und wo immer und wann immer es seinen Zwecken dienlich war, wurde
er zum aktiven Verbündeten der Franken.
Der Beginn des Jihad
A
m Ende des ersten Jahrzehnts des zwölften Jahrhunderts
schien das Unheil über die Moslems von Nordsyrien zu kommen. Im Juli 1109
hatten die Franken nach fünf¬jähriger Belagerung Tripolis eingenommen. Diese
elegante, wohlhabende Stadt der Bildung und des Handwerks wurde zerstört. Ihre
große Bibliothek, die Dar al-Ilm, wurde geplündert und Hunderttausende von
Bücher verbrannt — ihr Inhalt war für immer verloren. Die Bewohner der Stadt
wurden in die Sklaverei verschleppt oder einfach aus ihren Häusern geworfen.
Dann, im Mai 1110, wurde Beirut — der Ort, an dem der heilige Georg den
Dra¬chen getötet haben soll — von den Franken überrannt und seine Einwohner
wurden als Rache für ihre sture Verteidigung massakriert. Von diesem Beispiel
abgeschreckt, kapitulierte die Stadt Sidn. In achtzehn Monaten waren drei der
berühmtesten Städte der arabischen Welt an die vordringenden Christen gefallen.
Imad ed-Din zitierte einen Überlebenden:
»Ich weiß nicht, ob es das Weideland der wilden Tiere oder
mein Haus, mein Geburtsort ist, zu dem ich gehe, meine Stimme voller Tränen,
mein Herz von Lei¬den und Liebe zerrissen, und frage: Haus, warum hat uns das
Schicksal eine solch ungerechte Strafe auferlegt?«
Damaskus und Aleppo füllten sich mit Flüchtlingen, die alles
verloren hatten. Ganze Städ¬te waren menschenleer, als die Franken kamen; als
Tripolis fiel, flüchteten viele Aleppaner, bevor auch sie zu Besiegten wurden.
Ich kann nur noch weinen.«
Die Straßen moslemischer Städte in Syrien füllten sich mit
verzweifelten Menschen, die nicht wußten, was sie tun sollten. Ein Flüchtling
aus Maarrat schrieb: »Ich komme aus einer Stadt, die Gott der Zerstörung
anheimgegeben hat, mein Freund. Alle Bewohner kamen um. Sie fuhren mit ihren
Schwertern durch alte Männer und Kinder. «
Einige Moslems, eher Araber als Türken, sahen diese
Ereignisse in einem größeren Zusammenhang. Weniger als vierhundert Jahre zuvor
hatten ihre Vorfahren — bei vielen Flüchtlingen ihre eigenen Familien — dies
Land von den byzantinischen christlichen Herr-schern während des jihad, des
Heiligen Krieges, für den Islam erobert. Zumeist war das Land, das Kriegern des
jihad versprochen worden war, seither von denselben arabischen Clans gehalten
worden. Jetzt holten sich die Christen durch Krieg zurück, was ihnen durch
Krieg genommen worden war. Nun mußte es mit Sicherheit einen neuen jihad, einen
Ver-teidigungskrieg, geben, der vom Nachfolger des Propheten, dem Kalifen von
Bagdad, und von seinem Sultan angeführt werden würde.
Einer der heftigsten Befürworter dieser Idee war ein qadi,
ein Richter, in Aleppo. Sein Name war Abu al-Fadl ibn al-Khashshab, und er war
der berühmteste arabische Bewoh¬ner Aleppos. Er war der ra'is, hatte also eine
Stellung mit den Aufgaben eines Bürgermei¬sters inne. Er wahrte die Interessen
der Kaufleute, befehligte das Militär und — was am wichtigsten war — vertrat
die Menschen gegenüber ihrem türkischen Herrscher Ridwan.
Ridwan hatte sich für ein versöhnliches Verhalten gegenüber
den Franken entschieden. Dies war seinen arabischen Untertanen ein Dorn im Auge
— eine Tatsache, die Ibn al-Khashshab ihm unermüdlich vorhielt. Als Tankred
Ridwan gezwungen hatte, ein Kruzifix am Minarett der großen Moschee in Aleppo
anzubringen, hatte Ibn al-Khashshab einen Aufstand angezettelt, um es wieder
herunterzuholen. Nun hatte Tankred den Aleppanern einen Vertrag aufgenötigt,
demzufolge sie ihm jährlich zwanzigtausend Dinare zahlen soll¬ten. Ridwan hatte
sogar eingewilligt, ihm seine zehn besten Pferde zu übergeben. Außer¬dem hatten
die Franken nun alle Handelswege unter Kontrolle, und die Profite gingen
zurück. Die Situation war unerträglich.
Wieder tauchte Ibn al-Khashshab in Ridwans Zitadelle auf, um
Beschwerden vorzu¬bringen und eine Abordnung zu verlangen, die nach Bagdad
geschickt werden sollte, um Hilfe vom Sultan zu bekommen. Dies war eine Art von
Hilfe, die Ridwan so sehr brauch¬te, wie er eine Überdosis Abführmittel
brauchte. Tatsächlich hatte er mehr Angst vor dem Ehrgeiz seines Cousins, dem
Sultan, als vor den Franken. Doch er mußte seinen qadi irgendwie ruhigstellen,
und immerhin hatten frühere Abordnungen in Bagdad niemals irgend etwas
ausgerichtet, und so stimmte er zögernd zu.
Ibn al-Khashshab machte sich mit einer Gruppe von Sufis —
moslemischen Asketen —, Händlern und Rechtsgelehrten auf den Weg nach Bagdad.
Insgeheim hatte er einen Plan, den er Ridwan nicht erzählt hatte. Er
beabsichtigte keineswegs, den Sultan nur mit Wor¬ten zu überzeugen. Sobald er
in Bagdad ankam, organisierte er einen ordentlichen Aufruhr für ein Eingreifen
gegen die Franken.
Am Freitag, den 17. Februar 1111, stürmten er und seine
Kumpane in die Moschee des Sultans, zwangen den Prediger, von der Kanzel zu
steigen, und begannen, dieselbe in Stücke zu schlagen. »Sie weinten und
jammerten über das Elend, das den Islam mit der Ankunft der Franken heimgesucht
hatte«, schrieb Ibn al-Qualanisi, »über die Männer, die gestorben waren, und die
Frauen und Kinder, die in die Sklaverei geschickt wurden. « Um sie, da sie die
Gebete störten, ruhigzubekommen, machten die anwesenden kirchlichen
Würdenträger verschiedene Versprechungen »im Namen des Kalifen, daß man Truppen
ausschicken werde, um den Islam vor den Ungläubigen zu schützen. « Doch
natürlich pas¬sierte nichts. Am Freitag darauf geschah das gleiche erneut —
diesmal in der Moschee des Kalifen.
Der Kalif war wütend und wollte die Störenfriede bestrafen,
aber was konnte er schon tun? Er war nur dem Namen nach ein Oberhaupt. Die
wahre Macht hatte der türkische Sultan, und wenn, dann war es an ihm, für die
Sache der Aufständischen einzutreten, um Bagdads Macht wiederherzustellen. Sein
Feldherr Mawdud war ein erstklassiger militäri¬scher Kommandant, der bereit
war, die Kontrolle über die unabhängigen Emire von Syri¬en zu übernehmen. Der
Sultan befahl, daß sich die Armee zum »Heiligen Krieg gegen die ungläubigen
Feinde Gottes« bereit machen solle und schickte Mawdud zur »Rettung« sei¬nes
Cousins Ridwan nach Aleppo.
Ridwan muß das Herz in die Hose gerutscht sein, als man ihm
die Nachricht von sei¬ner Rettung mitteilte. Er zweifelte nicht daran, daß sich
dieser Feldzug ebensosehr gegen ihn wie gegen die Franken richtete. Er wagte
nicht, sich unmittelbar zu widersetzen. Tatsächlich bat er Mawdud sogar, ihm zu
Hilfe zu eilen. Als Ridwan jedoch sah, daß Mawduds Armee ziemlich klein war,
verbarrikadierte er die Tore von Aleppo, sperrte Ibn al-Khashshab und seine
Begleiter ein und legte Mawdud nahe, sich zu entfernen. Maw-duds Truppen taten,
was sie konnten, um die Umgebung Aleppos zu zerstören, und bra¬chen dann auf,
ohne einen einzigen Streich gegen die Franken geführt zu haben. Nichts, so
schien es, konnte das Vordringen der christlichen Soldaten aufhalten.
Die große Angst der Franken
N
atürlich sah es auf der anderen Seite des Zaunes ganz anders
aus. Die Franken waren nur wenige an der Zahl, von Feinden umzingelt und sehr
weit von ihrer Heimat. Ful-cher von Chartres beschreibt lebhaft »die große
Angst, die von jedem Besitz ergriff«:»Zu dieser Zeit war es für einen Boten,
der von uns ausgeschickt wurde, wegen der Fallen der Feinde unmöglich, bis zum
König zu gelangen, genausowenig wie ein Bote von ihm zu irgendeiner unserer
Städte vordringen konnte, deshalb wußten die Städte nicht, was der König tat,
noch konnte er sagen, was sie taten.
Auf vielen Feldern verdorrte das reife Korn,
Und niemand ging auf die Felder, um es zu mähen. (Matthäus
9,37)
Denn niemand wagte es. «
Die Franken waren schwach, doch der Sultan konnte den
entscheidenden Schlag nicht führen. Er versammelte eine weitere Streitmacht
unter Mawdud. Diesmal zog Mawdud nicht nach Aleppo, sondern nach Damaskus; auch
hier war er kein willkommener Gast. Doch der Emir von Damaskus wurde von König
Balduin angegriffen und brauchte Hilfe. Er täuschte nach Kräften vor, hinter
Mawdud und seiner Mission zu stehen. Eines Tages jedoch, als der Feldherr die
große Moschee im Zentrum von Damaskus verließ, sprang ein Assassi-ne hervor und
stach ihm mit einem Messer zweimal genau über den Bauchnabel. »Mawdud verlor
nicht den Kopf. Er ging bis zum Nordtor der Moschee und brach dann zusammen. «
Der Anschlag auf Mawdud just zu jenem Zeitpunkt, da er den
jihad gegen die Franken führen wollte, gab Balduin die einmalige Gelegenheit,
sich ein bißchen damit zu vergnü¬gen, die Moslems zu necken. Er schickte einen
Boten zum Emir von Damaskus, und infor¬mierte ihn darob, daß eine Nation, die
ihren Führer im Hause ihres Gottes tötet, es ver¬diene, vernichtet zu werden.
Fulcher von Chartres stieß indes einen Seufzer der Erleichterung aus, als
dieser Feind hinfort war: »Der Herr erlaubte ihm, uns eine Zeitlang zu geißeln,
doch danach war es sein Wille, daß er einen schrecklichen Tod von der Hand
eines unbekannten Mannes starb. «
Auf jeden Fall mußte Sultan Mohammed seine Herrschaft über
die Emire von Syrien festigen, ehe er die Franken angreifen konnte. 1115
schickte er eine weitere Streitmacht nach Syrien, und zwar unter Führung eines
Mannes mit dem bildhaften Namen Bursuq ibn Bursuq. Diesmal war das Ziel
eindeutig: die Emire zu unterjochen. Bursuq sah sich bei seiner Ankunft der
gesammelten Macht Syriens gegenüber: die Truppen von Damaskus und Aleppo
zusammen mit den Franken aus Jerusalem, Antiochia und Tripolis! Im Ange¬sicht
der Macht Bagdads hatten die Emire Syriens und die Franken Syriens einfach eine
geschlossene Front gebildet.
Letztlich entstand dadurch eine neue-regionale Identität. Es
war nun nicht mehr mög¬lich, gegen die Franken Bagdads einen jihad zu
organisieren. Die türkischen Herrscher Syriens bewerteten ihre Unabhängigkeit
zu hoch. Es war deutlich, daß sich die Franken eingefügt hatten; sie waren Teil
der syrischen Gegebenheiten. Die Massaker ihres Erobe¬rungszuges waren
Vergangenheit. Die Truppen waren besser unter Kontrolle und brann- ten nicht
mehr vor grausamer Leidenschaft gegen die Ungläubigen. Man hatte sich an die
Dinge gewöhnt. Und sie lernten immer mehr über ihre neue Heimat.
Im folgenden Jahr nahm König Balduin seine Truppen mit in
die Ferien ans Meer, »um zu sehen, was er noch nicht gesehen hatte, und
vielleicht etwas auf dem Weg zu finden, das er gebrauchen könnte«. Sie kehrten
gutgelaunt und mit zahlreichen Muscheln zum Angeben von ihrem Ausflug ans Rote
Meer zurück! »Als sie uns erzählten, was sie gese¬hen hatten«, schrieb Fulcher
von Chartres, »waren wir von ihren Geschichten genauso begeistert wie von den
Muscheln und bestimmten hübschen Steinen, die sie mitgebracht hatten und uns
zeigten. «
Die neuen Franken aus dem Osten
Fs schien wirklich so, als würden die Franken zu einem
ständigen Teil der Gegend wer-i den. Um 1125 schrieb Fulcher von Chartres, der
sich in Clermont aufhielt, als der Aufruf zum Kreuzzug verkündet wurde: »Wir,
die wir Okzidentalen waren, sind nun Ori¬entalen geworden. Er, der ein Römer
oder ein Franke war, ist in diesem Land zu einem Galiläer oder einem
Palästinenser geworden... Wir haben unsere Geburtsorte bereits ver¬gessen...
Er, der als ein Fremder geboren wurde, ist nun ein Einheimischer geworden. «
Im Jahre 1118 starb König Balduin von Jerusalem. Sein
Nachfolger war sein Cousin Balduin von Le Bourg, der Herrscher von Edessa.
Balduin II. erbte ein Königreich, das ebenso feudal war wie jene Europas; er
hatte Lehnsleute, die ihre Ländereien unter der Bedingung bekamen, daß sie
ihren König mit Rittern ausstatteten. Doch es gab einen wesentlichen
Unterschied zwischen diesem Königreich und denen in Europa. Auch hier waren die
Herrscher lateinische Christen aus Europa. Ihre Untertanen aber nicht.
Es waren im Königreich immer mindestens siebenmal so viele
Einheimische wie Fran¬ken, und wahrscheinlich niemals mehr als zweitausend
Ritter. Die Herren bewirtschafte¬ten das Land nicht selbst; sie blieben in den
Städten und überließen das Land den Einhei¬mischen. Man brauchte dringend
Europäer, um die Bevölkerung wachsen zu lassen und jede Anstrengung wurde
unternommen, um Bauern aus Europa dazu zu bewegen, sich hier in Häusern auf dem
Land niederzulassen. Das Königreich war sich seiner Schwäche stets bewußt.
Edessa, Tripolis und Antiochia waren besonders verwundbar; sie zogen nicht
solch eine ständige Flut bewaffneter Pilger an wie Jerusalem.
Doch nun wuchs eine neue Generation heran: Franken, die in
diesem Land geboren und herangewachsen waren. Sie wurden pulani — »Hühner« —
genannt, und sie konnten sich nicht als Fremde verstehen. Syrische Gewohnheiten
wurden zur Norm; man badete regelmäßig, die Männer trugen manchmal sogar
Turbane, und sie lebten in palastartigenHäusern, wie es sie in Europa nicht
gab. Unter den etablierten Familien war der Haß auf die Moslems, der die ersten
Kreuzfahrer getrieben hatte, geschwunden, doch die unabläs¬sig heranströmenden
Neilankömmlinge hatten eine weniger gebildete Meinung vom Islam. Sie waren in
der Regel von dem Ausmaß schockiert, in dem die Alten zu Einheimi¬schen
geworden waren, und taten, was sie konnten, um die Fremdenfeindlichkeit der
Ver¬gangenheit wieder aufleben zu lassen. Ein syrischer Adliger, namens Usama,
der Freunde unter den Rittern Jerusalems hatte, beschrieb einmal, was geschah,
als er auf dem Tem¬pelberg an einer etwas abseits gelegenen Stelle betete. Er
kniete und betete gen Mekka, als ein Franke ihn auf die Füße zerrte und sein
Gesicht nach Osten drehte, wobei er sagte, dies sei die rechte Richtung für
seine Gebete. Usamas Freunde eilten herbei, entschuldigten sich und erklärten,
daß dieser Rüpel gerade erst im Osten angekommen sei und niemals vor¬her
gesehen habe, wie jemand in eine andere Richtung betete.
Doch wie sehr die Franken auch glaubten, daß sie auf immer
in Syrien bleiben würden,-so wurden sie doch von den Moslems immer noch als
Fremde und Thronräuber angesehen.
Suche nach einem Führer
A
raber, die einen jihad gegen die fränkischen Siedler
forderten, mußten aufhören, in Bagdad nach einem Führer für Syrien zu suchen.
Dies war der Schluß, zu dem der qadi Ibn al-Khashshab in Aleppo kam. Der Tod
Ridwans Ende 1113 bot ihm seine Chan¬ce: Er setzte Ridwans sechzehnjährigen
Sohn Alp Arslan als neuen Herrscher ein und hielt ihn fest unter seinem
Einfluß.
Doch es wurde bald offenbar, daß der neue Herrscher einige
störende Marotten hatte. Nachdem er die meisten Gefolgsleute seines Vaters
geköpft hatte, schien Alp Arslan Geschmack an derlei Beschäftigung zu finden.
Er ließ zwei seiner Brüder hinrichten und ging dann zur Dienerschaft und zu
allen anderen über, die nicht seiner Meinung waren. Bald wagte sich niemand
mehr in die Nähe des Emirs, außer seinem Eunuchen Lulu (Perle), und selbst
dieser hatte nach zehn Monaten genug. Im September 1114 tötete Lulu seinen
Herren und versuchte, selbst die Herrschaft zu übernehmen. Noch ehe drei Jahre
vorüber waren, war auch Lulu ermordet, und Aleppo stürzte ins Chaos.
Ibn al-Khashshab versammelte die Besten der Stadt um sich.
Sie brauchten einen star¬ken Herrscher, der sie aus dem Chaos zu befreien und
die Franken zu bekämpfen ver¬mochte. Bagdad mußten sie vergessen; sie mußten
ihr Schicksal in die eigenen Hände neh¬men. Aussichtsreichster Kandidat hätte
der Emir von Damaskus sein können, doch der Haß und das Mißtrauen zwischen den
beiden Städten war so groß, daß er nicht wirklich in Frage kam. Ibn
al-Khashshab machte daher einen höchst ungewöhnlichen Vorschlag.
Ilghazi
I
lghazi, der türkische Emir von Mardin, das östlich von
Aleppo lag, war ein Trunken¬bold, der die fränkische Allianz gegen den jihad-Versuch
des Sultans Mohammed unter¬stützt hatte. Mit Sicherheit zog mancher die
Augenbrauen hoch, als der qadi Ilghazi als neuen Emir von Aleppo vorschlug.
Doch es waren schlechte Zeiten. Ilghazi war ein guter Feldherr, abgesehen von
seiner Schwäche für die Flasche, und — was das wichtigste war —er hatte den
Willen zu kämpfen. Und so bot man Ilghazi an, Aleppo und damit den Kampf gegen
die Franken zu übernehmen. Noch im selben Jahr sollte diese ungewöhnliche
Poli¬tik ein spektakuläres Ergebnis nach sich ziehen.
Zu Beginn des Sommers 1119 verbündete sich Ilghazi mit dem
Emir von Damaskus und stellte eine riesige Armee auf. Dann marschierten sie
gegen Antiochia. Sowohl Tank-red als auch Bohemond waren am Fieber gestorben,
und Antiochia wurde nun von Tank-reds Neffen Roger regiert. König Balduin
befahl Roger, auf ihn zu warten, während er die Armee von Jerusalem sammelte.
Die Franken nahmen die Bedrohung offenbar sehr ernst, denn Balduin rüstete
seine Armee sogar mit einem Teil des Wahren Kreuzes aus.
Doch Roger beschloß, nicht auf die Verstärkung zu warten. Er
ließ die ganze Armee von Antiochia auf Aleppo marschieren und bereitete sich
darauf vor, die Moslems anzu¬greifen. Daß das ein Fehler war, erkannte er erst,
als es zu spät war. Am Samstag, dem 28. Juni stellten die Franken beim
Aufwachen fest, daß ihr Lager von einer riesigen moslemi¬schen Armee umzingelt
war. Roger und seine Männer müssen gewußt haben, daß sie nun dran waren — ehe
sie sich in die hoffnungslose Schlacht stürzten, nahm der Erzbischof von Apamea
der gesamten Armee die Beichte ab.
Die Moslems griffen an. Der qadi Ibn al-Khashshab ritt an
ihrer Spitze. Ibn al-Qalani-sis zufolge, der zu dieser Zeit Mitte vierzig war,
»lagen die Franken alle in weniger als einer Stunde tot da... ihre Pferde sahen
durch die Pfeile, die in ihnen steckten, so stachelig wie Igel aus. « Nach
Kemal ad-Din, dem Historiker von Aleppo, wurden nur zwanzig Moslems getötet,
und nicht mehr als zwanzig Franken konnten fliehen. Unter den Toten war der
unbekümmerte Roger selbst, der am Fuße seines juwelengeschmückten Kreuzes lag,
sein Kopf an der Nase gespalten.
Die fränkischen Gefangenen, die noch am Leben waren,
schleifte man in Ketten über die Ebene und ließ sie dann von Soldaten foltern
und töten. Fast die gesamte normanni¬sche Ritterschaft des lateinischen Ostens
wurde ausgelöscht. Die Schlacht hieß im fränki¬schen Königreich von nun an »das
Blutfeld«.
Die Nachricht von dieser Katastrophe versetzte Antiochia in
helle Aufregung. Da Roger tot war, übernahm der Patriarch die Herrschaft und
begann, die Händler und sogar die Männer der Kirche zu bewaffnen, um sich auf
das Gemetzel vorzubereiten, das mit Sicherheit folgen würde.
Nichts passierte.
Ilghazi verteilte die Beute an seine Männer und kehrte dann
nach Aleppo zurück, um zu feiern. Es gab viel zu feiern. Nach all der
Unsicherheit und den düsteren Aussichten der vorangegangenen Jahre spielte
Aleppo verrückt. Ilghazi war der Held des Tages: »Nach Gott bist du es, dem wir
vertrauen«, sangen die Dichter in den Straßen der Stadt. Die Fei¬ern dauerten
tagelang. Das Problem war nur, daß der Held — als die Stadt zu feiern auf¬hörte
— alleine immer weiter und weiter feierte... und als er endlich damit aufhörte,
dann nur deshalb, weil er zu krank war.
Drei Jahre später starb Ilghazi, vom Alkohol zugrunde
gerichtet, ohne noch einen ent-scheidenden Schlag geführt zu haben. Doch von
nun an suchten die Syrer nicht mehr in Bagdad nach einem Führer gegen die
lateinische Invasion.
Balak — der tobende Drache
In der Zwischenzeit war jedoch ein neuer Stern am
moslemischen Firmament aufgegan¬gen. Es war dies Ilghazis Neffe Balak — ein
nüchterner Mann, gerade vierzig Jahre alt und ein brillanter Feldherr. In
seiner kurzen Karriere entzündete er die Hoffnungen der Moslems und verbreitete
das Grauen unter den Franken. Auf einer überraschend großen Anzahl von Seiten
beherrscht »Belek« die Alpträume des Fulcher von Chartres.
Balaks Ruf hatte zu wachsen begonnen, als er im Jahre 1122
den Cousin König Bal-duins II., Joscelin, gefangennahm. Im Jahr darauf wuchs
der Ruf noch mehr, als er auch König Balduin selbst einsperrte. 1124 dann
machte sich Balak selbst zum Herrscher von Aleppo und startete von hier mit der
Rückeroberung fränkischer Außenposten im Norden.
Als dieser Triumphzug eine kleine Unterbrechung erfuhr,
handelte Balak mit rück-sichtsloser Entschlossenheit: Im August gelang es
Joscelin und Balduin, die Festung, in der sie eingesperrt waren, in ihre Hand
zu bekommen. Joscelin flüchtete dann durch feindli¬ches Territorium, überquerte
den Euphrat mit Hilfe zweier aufgeblasener Weinschläuche (er war
Nichtschwimmer) und brachte schließlich die Nachricht von ihrem Abenteuer nach
Jerusalem.
Doch noch ehe man Hilfe ausschicken konnte, hatte Balak die
Festung bereits zurückerobert. Balaks Harem war in der Burg gewesen, und man
war wahrscheinlich in ihn eingedrungen. Er ließ sich auf nichts ein. Jeder, der
die Burg gegen ihn verteidigt hatte — ob Franke oder Armenier, Mann oder Frau —
wurde über die Zinnen geworfen. Nur Bal-duin und zwei andere wurden verschont.
1124 erhielt Balak einen dringenden Hilferuf von den
Einwohnern von Tyros, die sich fränkischer Belagerung ausgesetzt sahen. Balak
selbst belagerte gerade eine Burg namens Manbij, beschloß aber, Tyros sofort zu
Hilfe zu kommen. Bei einer letzten Inspektions¬runde seiner
Belagerungsstreitmacht vor Manbij traf ihn jedoch eher zufällig ein Pfeil in
die Brust. Er zog sich den Schaft heraus, spuckte aus und murmelte: »Dieser
Schlag wird für alle Muslime fatal sein. « Dann fiel er tot zu Boden.
Balak hätte der große Führer des jihad sein können, um den
Ibn al-Khashshab gebetet hatte. Mit Sicherheit machte Fulcher von Chartres kein
Geheimnis aus der Erleichterung der Franken, als »der tobende Drache« sich von
den Seiten seiner Chronik verabschiede¬te: »Und wir priesen alle Gott, denn
Belek, der tobende Drache, der das Christentum nie¬dergehalten und mit Füßen
getrampelt hatte, war endlich erstickt. «
Als Balak tot war, kapitulierte Tyros. Die Franken hielten
nun die gesamte Küste zwi¬schen Ägypten und Antiochia. Aleppo taumelte unter
der unfähigen Herrschaft von Timurtash, Ilghazis neunzehnjährigem Sohn, dessen
einzige Leistung für den 'Heiligen Krieg darin bestand, König Balduin für ein
Lösegeld von zwanzigtausend Dinaren freizu¬kaufen und auf diese Weise die Energie
der Franken neu zu entfesseln.
Ein Jahr später erlitt der jihad einen weiteren tödlichen
Schlag, jedoch nicht von den Franken, sondern von Feinden aus den eigenen
Reihen — den Assassinen. Der Mann, der am meisten versucht hatte, das Feuer des
Heiligen Krieges unter den Moslems anzufachen, Ibn al-Khashshab, war kein
Freund der geheimen Sekte der Assassinen. Für ihn war deren gemeinsame Sache
mit den Franken Hochverrat. Ridwan hatte den Assassinen gestattet, sich in
Aleppo niederzulassen, und Ibn al-Khashshab hatte ihnen gegenüber nach Ridwans
Tod keine Gnade gezeigt. Es war unausweichlich, daß die Organisation Rache
nehmen würde. Eines Tages, im Sommer 1125 wurde er beim Verlassen der Moschee
getötet.
Während der nächsten Jahre wüteten die Assassinen fast im
gesamten moslemischen Syrien, ermordeten die neuen Emire von Mossul und Aleppo,
nisteten sich in Damaskus ein und knüpften immer engere Bande mit den Franken
Jerusalems. Es war die schwärze¬ste Zeit für die arabische Welt, doch Rettung
nahte. »Syrien wäre ganz der Gnade der Franken ausgeliefert gewesen«, schrieb
Ibn al-Athir, »und niemand hätte seine Bewohner verteidigt; doch Gott in seiner
Gnade gegen die Moslems gefiel es, Imad ed-Din Macht zu schenken. « Dies war
Imad ed-Din Zengi, der Führer, um den sie gebetet hatten.
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